Reinhold Messner hat 14 Achttausender bestiegen und zu Fuß die Antarktis und die Wüste Gobi durchquert. An der berühmt-berüchtigten Rupalwand des Nanga Parbat verlor er sieben Zehen. Den 74-Jährigen zieht es noch immer in die Berge. Mit spektakulären Live-Multivisionsvorträgen wie „ÜberLeben", „Wild" und „Weltberge" sorgt er auch im Flachland für Aufmerksamkeit.
Herr Messner, Ihr Vortrag „Weltberge – Die vierte Dimension" basiert auf Satellitenaufnahmen, welche die Eigentümlichkeiten der Bergriesen hautnah erleben lassen. Haben Sie anhand dieser 3D-Bilder etwas Neues über die Weltberge erfahren?
Nein, das nicht. Diese Bilder vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt bieten die einmalige Möglichkeit, die Berge dreidimensional auf der Leinwand zu zeigen. Das hilft dem Zuschauer, sie anders zu greifen und mit dem Auge zu begreifen. Die vierte Dimension legen wir dazu, das ist das Narrativ zum Thema Berg. In jungen Jahren ging es mir ums Klettern, dann um die höchsten Berge der Welt und die Menschen, die am Fuße der Berge leben. Heute geht es mir um das Narrativ. Ich habe es in mein sechsteiliges Museum geholt und erzähle es in Nuancen in meinen Filmen. Im Vortrag „Weltberge" versuche ich, die 250 Jahre moderner Alpinismus zu erzählen.
Ist das Klettern heute noch ein Abenteuer?
Es wird immer weniger Abenteuer und immer mehr Sport. Das ist weder gut noch schlecht, sondern lediglich eine Tatsache.
Verstehen Sie sich heute noch als Abenteurer?
Ja, weil ich auch beim Schreiben Abenteurer bin. In den letzten Jahren habe ich versucht, ein paar Figuren aus der Abenteurerwelt herauszugreifen, die untergegangen sind und zu Unrecht vergessen wurden.
Frank Wild zum Beispiel. Er war der Stellvertreter des Polarforschers Ernest Shackleton. Warum steht er im Mittelpunkt Ihres Vortrags „Wild"?
Landauf, landab wurde von Shackleton geredet, dem großen Haudegen, der seine Leute gerettet hatte. In Wirklichkeit hat Frank Wild das getan. Shackleton hätte bei seiner ersten Expedition schon die ganze Mannschaft an die Wand gefahren. Wenn Manager sagen, das sei das richtige Verhalten, dann frage ich mich, ob die Shackleton wirklich studiert haben. Ich bin gerade dabei, einen großen deutschen Bergsteiger aus der Versenkung herauszuholen. Mein großes Glück ist, dass ich einen Platz in den Seelen der Menschen habe, von denen ich erzähle.
Sie haben die unbewohnte antarktische Insel Elephant Island besucht, wo Frank Wild 1916 mit 21 Leuten strandete und vier Monate ausharrte. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Erst nachdem ich Elephant Island besucht hatte, konnte ich mich in diese Leute hineinfühlen – und nicht schon, nachdem ich die Antarktis nach Shackletons Ideen durchquert hatte. Shackleton hat es damals nicht geschafft, aber Arwed Fuchs und mir ist es viel später gelungen – mit mehr Know-how und besseren Nahrungsmitteln. Um zu erfahren, was sich da wirklich abspielte, musste ich erst Shackletons Bücher lesen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass der eigentlich empathische, rettende Mensch Frank Wild war, der sich nie in die Führungsposition katapultiert hat. 1916 bot Shackleton ihm das Leadership an, weil er wusste, dass Wild das kann. Am 5. Januar 1922 klopfte er bei einer weiteren gemeinsamen Expedition Wild auf die Schulter und sagte: „Take over, Frank!" Zwei Stunden später war Shackleton tot.
Wie haben die Abenteurer von damals die Strapazen kompensiert?
Er hat auch gesoffen. Shackleton war ein gut aussehender, hoch gewachsener und breitschultriger Mann. Er konnte nicht nur gut mit Frauen, sondern auch mit Sponsoren und war ein glänzender Erzähler. Er hat sehr viel gewagt, was ihm großen Respekt eingebracht hat. Aber der bescheidene Wild war ein viel erfahrener Polarforscher als Shackleton.
Wie gehen Sie mit psychischem und physischem Stress um?
Ich kann sehr bestimmend und in der Beurteilung anderer sehr hart sein, aber draußen bin ich in der Lage, vieles zu ertragen und zu beruhigen. Weil ich genau weiß: Wir haben sonst keine Chance. Wenn es in der Wildnis zu einer harten Auseinandersetzung kommt, ist die Expedition schon gescheitert. Ich hatte während meiner Expeditionen nie mit anderen Streit. Die Streitigkeiten kamen immer nur hinterher, als wir nicht mehr zusammen sein mussten und jeder sein Spiel spielte. Meistens kamen die Streitigkeiten durch Dritte, die sich irgendetwas von dem Kuchen holen wollen.
Themenwechsel: Was sagen die technisch brillanten Bilder der Weltberge über die kommenden alpinistischen Herausforderungen?
Aus diesen Bildern kann man viele Linien oder Möglichkeiten herauslesen. Die zukünftigen Herausforderungen liegen aber im Verzicht. Nur wer freiwillig etwas weglässt, kann den Alpinismus in die Zukunft retten. Wenn das nicht geschieht, wird das ganze Habitat Erde nicht für zehn Milliarden Menschen auf Dauer Bestand haben. Verzicht heißt auch meine Forderung für die Zukunft: Staaten müssen lernen, mit null oder sogar negativem Wachstum zu leben. Sonst sehe ich keine Chance mehr. Der Mensch besitzt alle Technologien, um das Habitat zu zerstören. Allein das Internet hat die Potenz, die Welt zu sprengen.
Wo spüren Sie als Bewohner der Südtiroler Berge den Klimawandel?
Wir spüren ihn hier positiv wie negativ. Ich baue den Wein heute höher an als früher. Wir sind jetzt am oberen Rand. Aber der Klimawandel hat auch negative Folgen. Bis vor Kurzem hat in Südtirol in meiner Nachbarschaft nie jemand einen Sturm erlebt. Er hat 150 Jahre alte Bäume samt Wurzeln rausgerissen! Ich lebe mitten in den Bergen auf einer Burg 1.000 Meter über dem Meeresspiegel. Hier bin ich diesen Wetterunbilden mehr ausgesetzt als andere.
Haben Sie die Hoffnung, dass die Menschheit irgendwann die Zeichen der Zeit erkennen wird?
Nicht so lange Trump in Amerika regiert. Und ähnliche Herrschaften in anderen Ländern. Ich komme gerade aus Nepal. Erstaunlicherweise ist der Wald dort nach der Rodung zurückgekommen. Das Land ist auch sauberer geworden. Früher war es fürchterlich vermüllt und verdreckt. Aber das, was wir mit dem Verbrennen der fossilen Brennstoffe und dem ganzen Plastikmüll in den letzten 30 Jahren angerichtet haben, können wir nicht in derselben Zeitspanne wiedergutmachen. Es dauert Jahrhunderte, gar Jahrtausende, das Gleichgewicht wiederherzustellen.
Vor 30 Jahren verabschiedeten die Alpenstaaten ein Übereinkommen zum Schutz der Alpen. Die Alpenkonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag über den Schutz und die nachhaltige Entwicklung der Alpen. Was hat sie bewirkt?
Das ist leider ein zahnloser Tiger. Aber die Alpenschutzkonvention ist an sich eine gute Idee. Es braucht im Grunde nur einen Satz. Die Berge tragen in sich die Kraft, um sich gegen jede Zerstörung zu wehren. Man braucht sie nur so zu lassen, wie sie sind. Dann steigt niemand hinauf, weil der Berg gefährlich und für den Menschen wertlos ist. Nur wenn ich eine Infrastruktur hinauf baue, kann ich diese Werte killen und die Umweltzerstörung beginnt. Leider haben die Menschen viele Berge bis in den letzten Winkel erschlossen.
Warum streiten immer noch so viele Menschen den Klimawandel ab?
Der amerikanische Präsident macht das ja vor. Der Klimawandel ist aber nichts Neues. Vor 500 Jahren gingen die Temperaturen ziemlich schnell runter, noch vor 200 Jahren wurde es plötzlich kälter. Die Angst der Alpenbewohner war damals viel größer als heute, weil die Gletscher vom Berg herunterkamen. Im Jahr 1800 stand der Gletscher in Sulden am Dorfrand. Er hätte den ganzen Ort mitreißen können. Wo heute mein Schloss steht, war vor 20.000 Jahren ein Gletscher. Sollte er wiederkommen, nimmt er mein Schloss mit und lässt es im Schotter verschwinden. Aber im Moment geht die Temperatur gallopierend schnell nach oben, und wir Menschen tragen wesentlich zu dieser Erwärmung bei. Früher hatte der Mensch dazu gar keine Möglichkeit. Wir glauben trotzdem, dass wir in die Erdgeschichte eingreifen können. Lächerlich! Wir haben aber die Möglichkeit in die Hand gekriegt, die Erde sehr schnell kaputt zu machen.
Wie gefährlich leben die Menschen in den Alpentälern?
Es wird auf jeden Fall gefährlicher. Es ist ja nicht nur der Gletscherschwund, der zunimmt. Unter den Gletschern liegen zum Teil riesige Seen. Wenn die Gletscher abgeschmolzen sind, brechen Dämme und Sturzbäche bis ins Tal runter. Der Permafrost ist eine Lehmschicht zwischen den Felswänden. Sollte er verschwinden, dann rutschen Stücke so groß wie Wolkenkratzer in die Täler. In den Dolomiten ist ein angelehnter Pfeiler einfach aus der Wand gekippt.
Warum läuten bei den Umweltministern nicht die Alarmglocken?
Sie reden davon, aber sie tun nichts. Sie können auch nicht viel tun. Die globale Erwärmung ist nur gemeinsam global lösbar. Wir brauchen keine Weltregierung, aber für einige Themen gemeinsame Lösungen. Europa kann die Eindämmung des Klimawandels eventuell vorbildlich vormachen, doch vor allem Indien, China und Amerika müssen mitspielen. Aber ein Trump hat weniger Probleme, wenn der Klimawandel „nur eine Erfindung" ist.
In Südtirol und Belluno haben Sie sechs spektakuläre Bergmuseen errichtet. Sie planen jetzt noch eines in Nepal.
Es soll ein Scherpa-Himalaya-Museum werden. Ein älterer Nepalese hat nette Sachen vor allem über die Kultur der Scherpas zusammengetragen. Als ich dort hinkam, war er gerade dabei, zu überlegen, den schönsten Teil der Anlage abzureißen. Ein Haus aus dem 16. Jahrhundert im Hochgebirge, ein Museum in sich. Ich soll ihm helfen, das Ganze zu einem wirklich starken Standort zu machen, wo der Sherpa-Alpinismus erzählt wird. Spanische Architekten haben bereits einen Entwurf gemacht, aber dessen Umsetzung ist viel zu teuer und kommt nicht voran, weil alle Baumaterialien mit dem Korb hochgetragen werden müssen. Das sind die praktischen Probleme im Leben. Aber noch habe ich nicht aufgegeben.
Jedoch Ihre Stiftung, die Reinhold Messner Foundation, mit der Sie voriges Jahr eine vom Erdbeben zerstörte Klinik in Nepal neu bauten, wollen Sie aufgeben. Warum?
Mit meinem 75. Geburtstag, ja. Wir werden noch einmal meine Schulen besuchen und ihnen sagen, dass sie fortan eigenständig sein müssen. Ich habe diese Stiftung nicht für mich gemacht, sondern für die Bergmenschen. Mit 75 habe ich nicht mehr die Kraft, Filme zu machen, Museen zu führen und Schulungen zu machen. Auch ich muss früher oder später zurückstecken. Und die Stiftung ist das erste.
Fällt es Ihnen leicht, loszulassen?
Ohne Probleme. Ich werde mich weiterhin konzentrieren auf die wenigen Sachen, die ich noch gut machen kann. Das habe ich ein Leben lang getan. Aber die Auflösung meiner Träume und damit meiner Person beginnt. Ich wäre mit Dummheit geschlagen, wenn ich das verneinen würde.
Wie häufig gehen Sie noch klettern?
Ich gehe noch ab und zu zum Klettern auf die Berge. In Nepal habe ich ein paar Berge gesehen, die ich vielleicht noch wage. Ich gehe einfach gern immer tiefer ins Gebirge hinein.
Könnten Sie den Mount Everest, wie er inzwischen präpariert wird, mit Ihren 74 Jahren noch besteigen?
Ja, aber es wäre für mich eine Schande, das auf der Piste zu tun. Der Mount Everest wird alle Jahre neu präpariert, um Sachen da hinaufzubringen. So lange die Medien nicht klarmachen, dass das nicht Alpinimus ist, sondern etwas anderes, wird es damit immer weitergehen.