Der erste der „Big Four"-Tennisspieler tritt zurück. Die Hüfte ist daran schuld, dass der Stolz der Briten, den die Queen wegen seiner Verdienste, seiner Wimbledon-Siege, 2017 zum Ritter schlug, nun einen sehr schmerzhaften Abschied nimmt. Spätestens beim Prestige-Grand-Slam in London im Juli soll Schluss für Andy Murray als Profi sein.
Dieser kämpferische Schotte schreibt Geschichte. Mit seiner Karriere, die er mit zwei Wimbledon-Triumphen, insgesamt 45 Titeln, zwei olympischen Goldmedaillen, 41 Wochen als Weltranglistenerster schmückte. Mit seinem entschlossenen Laufbahn-Ende, das den grausamen Verschleiß als Tribut fürs große Gewinnen und alles Geben offenbart. Mit der Hoffnung auf ein lebenswertes, weiteres Leben des gerade mal 31-Jährigen, das nicht durch ständige Schmerzen an die sportlichen Höhenflüge erinnert.
Das vierblättrige Kleeblatt einer goldenen Tennis-Ära, mit ihrem unerbittlichen und andere ausgrenzenden Wettbewerb zwischen vier außergewöhnlich stark kämpfenden Anführern, verliert sein erstes Blatt. Der zweitjüngste der „Big Four" gibt sich seinem geschundenen Körper geschlagen, dem grausamsten Rivalen seiner großen Liebe zum Tennis, seit er 17 war. Nicht leichtfertig. Eher als „Braveheart", so wie der Schotte stets spielte, mit mutigem, konterndem Herzen, dessen Leichtfüßigkeit nun unumkehrbar ausgespielt hat.
Einmal noch in Wimbledon antreten, bis dahin durchhalten. Das war Andy Murrays großer Wunsch an diesem 11. Januar in Melbourne, als er seinen Rücktritt ankündigte. Doch er fügte hinzu: „Ich bin nicht sicher, ob ich noch vier oder fünf Monate unter Schmerzen spielen kann."
„Pain" – dieses englische Wort für „Schmerzen" tropfte bei jener höchst gefühlsgeladenen Pressekonferenz vor den Australian Open hartnäckig wieder und wieder aus Murrays Mund, während er sich die unerbittlich nachfeuchtenden Augen rieb, sein gequältes Gesicht unter seiner Kappe versteckte und seinen Lebewohl-Entschluss bekannt gab: „Mehr als 20 Monate hatte ich eine Menge Schmerzen. Der Schmerz ist wirklich zu viel. Ich möchte so nicht mehr spielen. Ich habe alles getan. Ich brauche einen Schlusspunkt." Spritzigkeit, Schnelligkeit, die richtige Position zum Ball – das war einmal.
„Ich brauche einen Schlusspunkt"
Spieler Murrays Botschaft: Mit diesem Körper geht es nicht mehr. Seine Psyche und den Tennisfluch der stolzen Briten hatte Andy Murray 2012 und 2013 besiegt, als er zunächst Olympia gewann. Auf dem Court von Wimbledon, im Finale gegen Roger Federer. Nur wenige Wochen, nachdem Murray im Endspiel des Grand Slams von Wimbledon dem Schweizer unterlegen war. Seine Landsleute jubelten weiter, als der 31-Jährige die US Open für sich entschied, das erste Grand-Slam-Turnier als erster männlicher Brite nach 76 Jahren. Im Jahr darauf befreite der Schotte die Erfinder des Rasensports von der Insel von einem Trauma: Murray war der erste männliche Brite, der nach 77 Jahren das Grand Slam im englischen Wimbledon gewann. Als Führungsspieler schenkte der Schotte seinen Landsleuten 2015 den ersten Davis-Cup-Sieg seit 1936. Diesem Triumph fügte Andy ein Jahr später einen weiteren Titel im Mekka des Rasentennis und sein zweites Olympia-Gold hinzu. Der erste männliche Einzelspieler, dem das gelang. Doch 2016 war das vorerst letzte Glücksjahr des goldenen Ritters.
Die „Großen Vier" heißen so, weil sie zehn Jahre lang die 40 Grand Slam-Titel einer Dekade weitgehend unter sich aufteilten. Auch genannt die „Fab(ulous) Four", die märchenhaften Vier. Lediglich fünf der Pokale gönnten sie von 2006 an anderen Spielern außerhalb ihres engen Zirkels. Auch sonst waren und sind Federer, Rafael Nadal, Novak Djokovic und Murray immer für einen Erfolg, einen weiteren Rekord gut. Doch spätestens seit der Schweizer, der Spanier, der Serbe und der Schotte ihre 30. Geburtstage feierten, werden die Siege mühsamer, stellt sich öfter die Frage: „Ja, spielen sie denn?"
Respekt bekundeten die Rivalen jetzt. „Ich war traurig – und ein bisschen geschockt von der Tatsache, dass wir ihn verlieren werden. Unglücklicherweise wurde die Entscheidung von seinem Körper getroffen", kommentierte Federer, der Älteste der „Big Four", das Abtreten des sechs Jahre Jüngeren. „Es wird ein großer Verlust für uns sein, für die Tenniswelt, die Tour, die Fans, sogar für die Rivalen, da er lange Zeit Teil einer großen Rivalität zwischen den besten Spielern war und ein großer Kämpfer", zeigte sich Nadal betroffen. Im Gegensatz zu Federer, der seinen erstaunlich zähen Körper strategisch und erfolgreich vor Verletzungen schützt, weiß Nadal, was es heißt, unter Schmerzen zu spielen und immer wieder durch Verletzungen aus dem Tour-Alltag geworfen zu werden. Der 32-Jährige: „Heute ist es er. Morgen ein anderer. Wir sind keine 20 mehr." Novak Djokovic sagte schlicht: „Danke, mein Freund." So traurig das Ende der Big-Four-Ära ist: Das Leben geht weiter. Finanziell und mit ewigem Ruhm gut abgefedert. Auch mit „Lebensqualität"? Eine erste Hüft-OP im Januar 2018 hatte dem 31-Jährigen nicht den ersehnten Erfolg gebracht. Lange Zeit schleppte sich Murray mit Beschwerden und Beeinträchtigungen seiner Laufpartie hin, bevor er sich zu einem kleinen, chirurgischen Eingriff durchrang. Zurück auf der Tour, sackte der weiterhin schmerzgeplagte Sir auf ATP-Rang 230 ab. Wenige wahrgenommene Wettkämpfe, was auch den Zuschauern wehtat. Monatelang wartete der einstige Weltranglistenerste ungeduldig auf eine lauffreudige, wahrlich regenerierte Hüfte. Vergeblich. Mittlerweile will er nur noch schmerzfrei seine Socken anziehen.
„Es wird ein großer Verlust für uns sein"
Dass er auch ohne große, neue Erfolge weiterspielen wolle, das hatte Murray nach der ersten Operation erklärt. Hauptsache Tennis, seiner großen Liebe noch möglichst lang dienen. Auf Dauer unter Schmerzen spielen, das wollte der dreifache Grand-Slam-Sieger aber nicht. Lieber ein Leben ohne Tennis, dafür ein Leben mit „Lebensqualität". Deshalb denke er stark über einen zweiten Eingriff nach, der drastischer ausfallen dürfte: „Ich überlege ernsthaft eine zweite OP, der Grund dafür ist nicht die Rückkehr zum Sport, aber eine bessere Lebensqualität." Boris Becker, ebenfalls Wimbledon-Sieger und Hüftschmerzgeplagter, sagte bei Eurosport: „Ich hoffe, dass er es schafft, Wimbledon zu spielen. Dort wird er dann grandios verabschiedet."
Ein Beben ging durch die Tennis-Szene, nachdem Murray seinen Rücktritt angekündigt hatte. Unzählige Reaktionen kamen in Statements, Interviews, in den sozialen Netzwerken, von Rivalen und Freunden, Legenden und Honoratioren, Kommentatoren und Fans. Glückwünsche zu seiner Karriere, tiefstes Bedauern über seinen Rücktritt, Mitfühlen mit seiner schwierigen Rekonvaleszenz und seinen Schmerzen. Hoffnungen auf noch ein paar genussreiche Partien. Anerkennung für seine charakterliche Stärke und seinen Humor, für seine Vorbildfunktion als Kämpfer für Gleichberechtigung im Tennis-Geschehen, für seine anständige Menschlichkeit.
Sehr schnell postete auch die deutsche Nummer eins, der aktuelle Weltranglistenvierte Alexander (Sascha) Zverev seinen Respekt an einen, der „Teil der Tennis-Familie" sei: „Wir alle werden irgendwann an den Punkt kommen, wo wir dem Sport, den wir so sehr lieben, Lebewohl sagen müssen. Und ich möchte dir das Beste für die letzte Periode deiner Karriere wünschen."
Wie fast alle der 10.000 Zuschauer, die Murray durch sein letztes Match Down Under trugen. Schmerzverzerrtes Abfedern nach den Aufschlägen und wundes Stöhnen nach Bällen, die er nicht rechtzeitig erreichte, Humpeln: So sahen die ersten beiden Sätze und der Anfang des dritten Satzes bei Sir Andys letzten Australian Open als Spieler aus. Seine Aufgabe, sein Händeschütteln am Netz mit dem souveränen Spanier Roberto Bautista Agut schienen unmittelbar bevorzustehen. Doch Braveheart kämpfte, auch mit Crosscourt-Rückhand. Gewann zwei Tiebreaks, hielt ein vierstündiges Fünfsatz-Match durch, provozierte Standing Ovations und frenetischen Applaus. Beim Stand von 1:5 im entkräftenden Schluss-Satz rollten die Tränen bei Andy und seiner Mutter Judy Murray. Den ersten Matchball wehrte er mit einem überraschenden Spurt ab. Ignorierte den Schmerz, wie so oft in seiner Karriere. Gegner Bautista Agut urteilte nach seinem letztlichen, unerwartet schwierigen Sieg über den fast Gleichaltrigen über den Fight: „Er tat es fürs Tennis."
Fünfmal hat Sir Andy im Finale der Australian Open gestanden. Vielleicht kehrt er als Coach zurück, um sich doch noch einen Titel zu holen. Caroline Wozniacki bot ihm den Job gleich an. Doch einer wie sein Bewunderer Nicholas Kyrgios könnte den kreativen und konstanten Big-Four-Kämpfer ebenfalls gut brauchen. Nach dessen endgültigem Lebewohl. Wann auch immer das ist.