Eine halbe Stunde: So lang bietet die Bahnhofsmission in Berlin-Friedrichshain Wärme, Essen und Gesellschaft. Mancher redet bei einer Tasse Kaffee mit Bekannten oder fragt, wo er seinen Rentenantrag einreichen muss. Auftanken für die Kälte in einem reichen Land.
Ein nasskalter Wintertag, kurz vor 9 in einer kleinen Sackgasse am Hintereingang des Ostbahnhofs: Ein halbes Dutzend Menschen hat vor einer unscheinbaren Glastür eine Schlange gebildet. Die Jacken der Wartenden sind bis zum Kinn zugeknöpft, alle tragen Mützen gegen den feuchten Nebel. Und warten. Stoisch. Bis sich unvermutet die Glastür öffnet und eine Frau den Kopf heraussteckt: „Vier", sagt sie in bestimmtem Ton. Alle wissen Bescheid: Vier Menschen treten ein. Drei Männer und eine Frau. Die trägt in der einen Hand eine dieser großen, karierten Plastiktaschen, vollgestopft mit irgendwelchen Dingen. Mit der anderen Hand zieht sie einen abgewetzten Rollkoffer hinter sich her. Ob das ihr gesamter Hausstand ist?
Möglich wäre das, denn auch bei uns, inmitten all der Satten, gibt es sie: die ganz Armen. Und nur allzu oft stehen sie verdruckst wie die kleine Warteschlange im Abseits. Sehen will sie ja keiner wirklich – „Armut stört" hat dementsprechend die Nationale Armutskonferenz ihren aktuellen „Schattenbericht" zur Lage in Deutschland überschrieben. Die Nationale Armutskonferenz ist ein Zusammenschluss von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Selbsthilfeorganisationen, mit dem gemeinsamen Ziel, sich gegen die Armut einzusetzen.
„Armut stört" steht über dem Bericht der Armutskonferenz
Und für die Armen wie die Besucher der Bahnhofsmission: Die empfängt drinnen hinter der Glastür eine wohlige Heizungswärme. Es gibt zwei kleine Plastiktische mit jeweils vier Stühlen. Und eine provisorische Theke, an der man Brötchen mit Wurst oder Käse und einen Becher Joghurt bestellen kann. Unentgeltlich. „Das sind Brötchen vom Vortag, die Backwerk gespendet hat", erläutert eine der Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission. Andere Essensspenden kämen von privat oder von der Tafel. Die Mitarbeiterin ist im mittleren Alter und trägt wie ihre Kolleginnen und Kollegen eine stahlblaue Weste mit einem Aufnäher der Bahnhofsmission. Auch ein Namensschild prangt an ihrer Weste: „Marion" steht darauf. Nachnamen braucht es hier nicht – und auch fotografieren lassen will sich Marion ebenso wenig wie ihre Kolleginnen oder die Besucher des kleinen Refugiums. Insgesamt 20 Ehrenamtliche helfen am Ostbahnhof mit, ermöglichen, dass hier an sieben Tagen der Woche geöffnet ist. Vormittags von 8.30 bis 12 Uhr und dann noch einmal knapp drei Stunden am Nachmittag. Auch Duschen für einen Euro sei möglich, erklärt Marion. „Das nehmen sehr viele in Anspruch." Pro Tag kämen etwa 80 Menschen vorbei. Sie leben an oder unter der Armutsgrenze.
Vielen, denen es nicht ganz so schlecht geht wie manchem aus dem Bahnhofsmissions-Publikum, sieht man ihre Lage nicht gleich an. Mehr als 16 Prozent der Deutschen waren laut EU-Statistik von 2016 „einkommensarm", kommen also mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aus. Unter ihnen sind viele Arbeitslose – bei ihnen macht der Armen-Anteil fast drei Viertel aus. Gefolgt von den Alleinerziehenden: Knapp ein Drittel von ihnen muss den Kindern immer mal wieder erklären, warum die teuren Markenturnschuhe einfach nicht drin sind. Auch dieses Frühjahr nicht.
Mitarbeiterin Marion blickt derweil kurz auf die vier Neuankömmlinge, die sich untereinander auf Polnisch unterhalten. „Es kommen viele Polen hierher", ist ihre Erfahrung. Eine Viertelstunde später tritt ein Mann vor die Theke, auf seiner dunkelblauen Nylonjacke prangt ein Fliegeremblem. „Ich hätte gerne einen Kaffee", sagt er in akzentfreiem, leicht hanseatisch klingendem Deutsch. „30 Cent", antwortet Marion – Kaffee ist das einzige, wofür die Gäste zahlen müssen. Der Mann gibt ihr die Münzen und setzt sich neben einen Älteren mit schlohweißer Mähne und einem leuchtend roten Wollpullunder. Der fängt an zu reden, zieht ein Bündel Papiere aus seiner Jackentasche: Er müsse seinen Rentenantrag abgeben, sagt er, wisse aber nicht wo. Der Jüngere und die anderen Gäste helfen ihm: „Da musst du die Ringbahn nehmen", sagt einer mit Blick auf die abgedruckte Adresse. „Si, si, oder Bus, Sophie-Charlotte-Platz", erinnert sich der Weißhaarige. Der Rest ist ein schwer verständliches Kauderwelsch aus Italienisch und Deutsch, wobei das Italienische eindeutig dominiert. „Das ist Luciano, er kommt oft her", erklärt Marion. „Unglaublich, dass er schon 87 ist."
Arbeitslosigkeit, Druck, Burn-out
Luciano unterhält sich ausgiebig mit seinen Tischnachbarn weiter, während plötzlich eine der Mitarbeiterinnen halblaut aufseufzt: „Oh nein, nicht der schon wieder! Den dürfen wir eigentlich gar nicht reinlassen." Eigentlich, das heißt im Klartext: Es geht doch. Und so klappt die Tür auf und zu, und innerhalb weniger Minuten ist die Luft von Alkoholgeruch geschwängert. Die Ausdünstungen stammen von einem Mann mit rotem Gesicht und auberginefarbenen Lippen. Er riecht, aber sonst bleibt er ruhig. Bis Luciano anfängt zu singen – aus voller Brust tönt der italienische Schlager „Mamma" aus den 30er-Jahren durch den Raum. Da verliert der andere die Beherrschung. „Shut up!" brüllt er dem Italiener ins Gesicht. Die Mitarbeiterinnen setzen den Alkoholisierten vor die Tür.
Lucianos jüngerer Tischnachbar guckt derweil auf die Uhr. Wie für alle anderen ist auch für ihn die Zeit in der Bahnhofsmission mit ihren nur acht Sitzplätzen auf eine halbe Stunde begrenzt. „Das ist immer blöd im Winter, wenn es draußen kalt ist. Aber ich habe ja eine Wohnung", sagt er. Er stellt sich als Daniel vor und wirkt mit seiner Fliegerjacke, den Jeans, Sneakers und dem Piercing im Ohr wesentlich jünger als seine 47 Jahre. Nach einiger Zeit rückt er damit heraus, dass auch er schon wohnungslos gewesen sei. Immer wieder, acht Mal insgesamt. Wie er seine Wohnung verloren hat? Arbeitslosigkeit, Untermietverhältnisse, Mietschulden und das Jobcenter – er habe „den ganzen Druck nicht mehr ertragen".
Das fing schon mit einer verkorksten beruflichen Laufbahn an: In Hamburg aufgewachsen versuchte Daniel sich als 18-Jähriger an einer Bäckerlehre, fühlte sich aber so unfair behandelt, dass er hinschmiss. „Ich wurde weggeekelt. Jetzt bereue ich, mir damals keine neue Lehrstelle gesucht zu haben." Stattdessen folgten viele Arbeitsverhältnisse bei Zeitarbeitsfirmen, als Produktionshelfer, am Fließband oder am Drehofen. „Manchmal war das babyleicht, aber oft waren es auch undankbare Jobs, meistens eine Schinderei mit vielen Überstunden." Trotzdem habe er vieles gern gemacht. Doch Arbeiten, das geht für Daniel schon lange nicht mehr – seine seelische Konstitution brach irgendwann wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Ich war irgendwann in den 1980ern kaputt, hatte einen Burn-out." Das ist auch die Diagnose, mit der der heute krankgeschrieben sei. Außerdem leidet der 47-Jährige an Schizophrenie.
Arm trotz Minijob – oder deswegen?
Selbst wenn er psychisch irgendwann wieder auf die Beine käme, würde Daniel als ungelernter Hilfsarbeiter wahrscheinlich trotzdem zu den „Working Poor" zählen: Laut Schattenbericht hat sich die Erwerbsarmut in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Zwischen 2004 und 2014 stieg der Anteil der „Armen" auch unter den Erwerbstätigen auf 9,6 Prozent. Armut betrifft demnach nicht nur Menschen ohne Arbeit. Als besonders problematisch bezeichnet der Bericht die Minijobs, die derzeit rund 7,5 Millionen Menschen ausüben. Diese ermöglichten in der Regel keinen Einstieg in gute Arbeit, sondern seien „berufliche Sackgassen mit mangelnden Perspektiven, niedrigem Einkommen und oftmals schlechten Arbeitsbedingungen", kritisiert Erika Biehn, Betroffenenvertreterin innerhalb des Bündnisses. Zu spüren bekämen das vor allem alleinerziehende Mütter, deren Kinder, Aufstockerinnen und ältere Frauen.
Zurück zu Daniel: Was er von seiner Familie erzählt, wirkt verstörend. Seine beiden älteren Schwestern sind unter tragischen Umständen aus seinem Leben gegangen. Der einen sei, so erzählt er, ein „Frankfurter" verabreicht worden, ein tödlicher Cocktail aus Heroin, Kokain und Rubinol. Dabei sei sie endlich „clean gewesen nach zig Versuchen". Die andere Schwester war mit einem „Psychopathen" liiert und verschwand irgendwann spurlos. Trotz bundesweiter Polizeisuche ist sie nie wieder aufgetaucht. „Sie wurde wahrscheinlich ermordet", da ist sich Daniel ziemlich sicher. Der Kontakt zu Vater und Bruder ist abgebrochen. Und die für ihn wichtigste Person, seine Mutter, ist vor einigen Jahren nach langer chronischer Krankheit gestorben.
Trotz der vielen Schicksalsschläge verliert Daniel nicht den Mut. Tagsüber geht er für ein paar Stunden Flaschen sammeln. „Damit habe ich ein, zwei Tage in der Woche ein bisschen Geld", sagt er. Betteln will er nicht: „Ich frage nie nach Geld, nur nach Zigaretten." Auch hat er den Eindruck, dass es ihm besser geht als früher. „Es geht bergauf", sagt er. „Ich kriege meinen Haushalt geregelt und meine Wohnung ist vorzeigbar." Er lächelt – und muss los: Seine halbe Stunde in der Bahnhofsmission ist um. Draußen vor der Tür warten schon wieder andere.