Den Termin verpasst? Eine angebotene Arbeitsstelle abgelehnt? Dann kann das Arbeitslosengeld II gekürzt werden. Das soll sich nach Willen einiger Parteien ändern. Schon jetzt will ein Verein jedoch für eine Studie wissen, wie es sich ohne Hartz-IV-Sanktionen lebt.
Das Existenzminimum sicher haben – und wieder ohne Angst den Briefkasten öffnen: Für 250 Hartz-IV-Empfänger in Deutschland geht dieser Wunsch seit Anfang Februar in Erfüllung. Ein Berliner Verein bietet ihnen für eine wissenschaftliche Studie drei Jahre lang eine Art Versicherung gegen die Kürzung ihres Arbeitslosengeldes II. Das beträgt im Moment 424 Euro im Monat.
Wie lange es bei diesem Satz bleiben wird, wie lange die Jobcenter „Hartzern", die den ihnen auferlegten Pflichten nicht nachkommen, noch zur Strafe den Geldhahn zudrehen können, ist derzeit ungewiss. Die Stimmung in der deutschen Parteienlandschaft dreht sich: Während die Union bisherige Regelungen weitgehend beibehalten und die AfD sie effektiv eher verschärfen will, schaffte die SPD Mitte Februar den innerlichen Absprung vom geltenden System, das inzwischen als Erbsünde aus Schröder-Zeiten empfunden wird. „Wir lassen Hartz IV hinter uns", hat Parteivorsitzende Nahles stolz verkündet. Stattdessen plädieren die Sozialdemokraten nun für ein „Bürgergeld", das durch Boni für Weiterbildungen oder auch einmalige Notfall-Hilfen aufgestockt werden kann. Unter anderem auf mehr Möglichkeiten zum Aufstocken durch Zuverdienste setzt das „Liberale Bürgergeld" der FDP, in dem vom Arbeitslosengeld II bis zum Kinderzuschlag alles unter einem Hut gebündelt ist. Zwar bliebe wie auch bei der SPD der Grund-Fördersatz in etwa gleich wie heute. Anstatt aber wie bislang nur 100 Euro Aufschlag zu erlauben und alles darüber fast vollständig mit Hartz IV zu verrechnen, wollen die Liberalen dazu anspornen, sich um mehr zu bemühen als nur um einen Minijob. Außerdem plädieren sie dafür, auch Menschen mit persönlichen Rücklagen bis 30.000 Euro den Zugang zum Liberalen Bürgergeld zu ermöglichen.
Existenznot schnürt die Energie für Neues ab
Noch höher als beim FDP-Vorschlag liegt das Schonvermögen, das im Fall einer Arbeitslosigkeit unangetastet bleibt, beim Vorschlag der Grünen für eine „Garantiesicherung". 100.000 Euro Besitz und auch Wohneigentum sollen kein Grund sein, die Sicherung nicht zu erhalten. Die liegt auch höher als die bisherigen Sätze, Kürzungen sind nicht vorgesehen. Ziel ist, nach und nach die verschiedenen Fördermittel zu ersetzen und so den Übergang in eine „angstfreie" Art Auffangnetz zu ermöglichen. Ebenso wie die Grünen sind die Linken für ein sanktionsfreies Modell, das sich in die Nähe des kontrovers diskutierten bedingungslosen Grundeinkommens bewegt. Allerdings eben nicht für alle, sondern beide Male für Bedürftige, sprich: Arbeitslose oder Geringverdiener.
Das alles ist heute noch Zukunftsmusik für diejenigen, die aktuell auf staatliche Förderung angewiesen sind – noch liegt das geschützte Vermögen bei maximal 10.000 Euro. Wer den Vorschriften des Jobcenters nicht Folge leistet, dem drohen Kürzungen. Aus Spenden finanziert stockt deswegen der gemeinnützige Berliner Verein „Sanktionsfrei" Hartz IV auf, so dessen Geschäftsführerin Helena Steinhaus zu Beginn des Modellversuchs. Damit solle verhindert werden, dass Menschen in Existenznot gerieten und zum Beispiel ihre Wohnung verlören. Das Geld zur Überbrückung sei kein Geschenk: Es soll von den Betroffenen zurückgezahlt werden, wenn das Jobcenter nach der mehrmonatigen Strafe wieder den Hartz-IV-Regelsatz zahle.
Die Strafen setzt das Jobcenter nach dem Prinzip „Fördern und Fordern" an. So droht bei Verfehlungen, die über einen verpassten Termin hinausgehen, die dreimonatige Kürzung der Leistungen um 30 Prozent. Wer innerhalb eines Jahres mehrfach negativ auffällt, verliert 60 Prozent oder sogar das gesamte Arbeitslosengeld II, inklusive der Unterstützung für Unterkunft und Heizung.
Keine Einzelfälle: Nach jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit waren 2017 rund 409.000 Menschen in Deutschland von Sanktionen betroffen, manche mehrfach. In rund drei Viertel der Fälle ging es dabei um Meldeversäumnisse, sagte Sprecher Christian Weinert. Dafür würde die Regelleistung drei Monate lang um zehn Prozent gekürzt. Insgesamt summierten sich die Kürzungen im Jahr 2017 auf 178 Millionen Euro. An welche Grenzen ein Zusammenstreichen der Leistungen die Betroffenen bringen kann, zeigt eine weitere Zahl: Bei über 30 Prozent der Betroffenen habe es Ansprüche auf ergänzende Sachleistungen wie Lebensmittelgutscheine gegeben, so Weinert.
Die Stimmung in der Politik dreht sich
Hintergrund der neuen „Versicherung" für 250 Hartz-IV-Bezieher ist eine wissenschaftliche Studie. Sie soll nach drei Jahren Antworten darauf finden, ob sich Menschen ohne Angst vor Sanktionen anders verhielten als eine gleich große Kontrollgruppe von Hartz-IV-Beziehern, erläutert Arbeitspsychologe Rainer Wieland vom Wuppertaler Institut für Unternehmensforschung und Organisationspsychologie. Er wurde vom Verein mit der Leitung der Studie beauftragt. Fast 5.000 Menschen hatten sich um eine Teilnahme beworben. Die Studie wird nach Angaben des Vereins „Sanktionsfrei" über Spenden finanziert, zu den Kosten machte Steinhaus keine Angaben. Arbeitspsychologe Wieland geht bisher davon aus, dass Hartz-IV-Sanktionen Menschen lähmen. Ihm fehlten aber konkrete Daten, wie sich Kürzungen mit Blick auf Eigeninitiative, Jobsuche, Selbstwertgefühl und Emotionen ganz konkret auswirkten. Das größte Problem sei wohl das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, sagte er. Das könne krankmachen – und auch die Lebenszeit verkürzen. Die Untersuchung ziele nicht nur auf Hartz IV, sondern – und da läuft der Versuch wieder in Richtung der aktuellen Vorschläge der Parteien – auch auf Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Es gebe bereits Studien, die untersuchten, welche Wirkung Sanktionen haben – auch mit Vergleichsgruppen, so Joachim Wolff vom Forschungsbereich Grundsicherung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Eine Tendenz dabei: Kürzungen führten dazu, dass mehr Menschen sich schnell und erfolgreich einen Job suchten. „Das heißt also nicht, dass Sanktionen grundsätzlich lähmen." Es habe aber auch Nachteile gegeben. Es sei seltener eine gut bezahlte Arbeit gewesen, wenn sie unter Druck und in kurzer Zeit gefunden wurde. „Es gab in den Studien auch Menschen, die durch die Sanktionen zum Beispiel nicht mehr ausreichend Geld für Lebensmittel oder die Energieversorgung hatten – und von Wohnungslosigkeit bedroht waren." In bisherigen Untersuchungen seien fünf bis sechs Prozent aller Hartz-IV-Bezieher quasi vom Radar verschwunden. Ein Grund dafür waren Sanktionen. „Die Betroffenen haben sich dann für ALG II abgemeldet", sagt Wolff. Ob sie schwarzarbeiten gingen, bei Verwandten unterschlüpften, Fortbildungen machten oder in die Obdachlosigkeit abrutschten – darüber könne man nur spekulieren.
Parallel zu den Parteien-Planungen und dem Pilotversuch über den Verein „Sanktionsfrei" tut sich derzeit auch auf hoher juristischer Ebene etwas: Das Sozialgericht im thüringischen Gotha hält Sanktionen für verfassungswidrig und hat ein Verfahren ausgesetzt, um die Vorschriften beim Verfassungsgericht in Karlsruhe unter die Lupe nehmen zu lassen. In dem Fall musste ein Arbeitsloser aus Erfurt mit 234,60 Euro weniger auskommen, weil er ein Jobangebot abgelehnt und Probearbeit verweigert hatte. Das Urteil aus Karlsruhe ist in einigen Monaten zu erwarten.