Im frostklirrenden Lappland kann eine ganz besondere Kreuzfahrt unternommen werden: an Bord eines Eisbrechers. Um die Aufregung zu steigern, werden die Passagiere auch noch ins gefrierende Wasser geschickt.
Das Schiff vibriert bedrohlich. Hoch, runter, rechts, links. Kenneth Hermansson, ein Mann von 67 Jahren mit zerknittertem Gesicht und schmalen Augen, eilt zum Fenster und beobachtet das endlose Weiß, durch das sich die „Polar Explorer" mit ihren fast 10.000 PS frisst. Es liegt nur scheinbar ruhig da. „Das Eis ist immer in Bewegung", sagt der Kapitän. Und kann gefährlich werden, wenn man nur eine Sekunde nicht aufpasst.
An Bord eines Eisbrechers zu gehen, gehört in Lappland zu den spektakulärsten Unternehmungen, die man als Tourist machen kann. Rentierschlittenfahren? Schön, aber verträumt. Sich von einem laut kläffenden Rudel Huskys um kleinwüchsige Birken ziehen lassen? Nicht schlecht, aber nicht jedermanns Sache, weil die Hunde unentwegt pupsen. Mit dem Motorschlitten umherknattern? Gut fürs James-Bond-Punkte-Konto, aber ganz schön laut. Mit dem Schiff auf der gefrorenen Ostsee umhercruisen? Ein ganz anderes Kaliber.
Am Morgen sammelt der Kleinbus die Kreuzfahrtgäste in Rovaniemi ein, der ein paar Kilometer südlich des Polarkreises gelegenen Hauptstadt von Finnisch Lappland. Knapp fünf Stunden dauert die Anreise bis zum Anleger auf schwedischer Seite, inklusive einer Mittagspause im Ort Kukkola, durch den die Grenze beider Länder verläuft. Draußen zieht ein Einheitsbrei aus schneebedeckten Bäumen, grauen Himmelfetzen und schmutzigem Straßenrand vorbei.
Eis bis über einen Meter Dicke wird gebrochen
Dann endlich die Worte von Yarden Keynan, Begleiter vom Veranstalter „Polar Explorer", auf die jeder wartet: „Gleich sind wir da!" Und als zwischen den Ästen etwas großes Rotes aufblitzt und sich schnell zu einem Schiffsbug zusammensetzt, gibt es kein Halten mehr. Noch bevor der Bus steht, springen die Gäste wie nach einem langen Flug auf. Als die Tür aufzischt, platzen sie aus dem Bus.
Ein tiefes Brummen liegt in der Luft, aus den Abgasrohren der „Polar Explorer", Baujahr 1976, entweichen kontrastreich dunkle Wolken, als alle Mann über die Gangway auf das von Schmiere und Schneeresten glitschig gewordenen Hinterschiff eilen. So weit das Auge reicht, erstreckt sich zur offenen See nur Eis und Weiß. Rund 25 Passagiere sind an diesem Tag mit an Bord, als die Leinen losgemacht werden. Ein Glücksfall, denn es könnten sich auch bis zu 150 auf dem knapp 80 Meter langen Schiff drängen. Fast täglich startet die „Polar Explorer" zu Touristen-Cruises, die Saison dauert von Ende Dezember/Anfang Januar bis in den April.
Beim Ablegen setzen die Schiffsschrauben die Eisschollen im kleinen Hafenbecken in Bewegung. Kurz darauf gleitet die „Polar Explorer" unter dumpfen Klackern entlang der Fahrrinne, die er tags zuvor freigeräumt hat und die jetzt schon wieder mit einer Schicht überzogen ist. „Der Bug ist verstärkt und kann Eis bis zu einer Dicke von über einem Meter brechen", erläutert Yarden Keynan. „In der Fahrrinne ist es jetzt vielleicht wieder zehn oder 20 Zentimeter dick. Gleich aber werden wir querfeldein fahren." Dort wartet eine Eisdecke von bis zu einem Meter Dicke.
Seit Dezember nimmt die „Polar Explorer" Touristen mit. Genauer: Sie bricht das Eis nur noch für Touristen. Zuvor war sie im offiziellen Einsatz, um für den Schiffsverkehr in der Bottnischen Bucht, dem oberen Ende des Bottnischen Meerbusens, die Fahrtwege freizuhalten. Dann wurde sie ausrangiert, denn heute sind die Lastkähne ausladender denn je, und auch ein 14 Meter breiter Eisbrecher genügt nicht mehr, um passierbare Schneisen zu schaffen. Deshalb übernehmen heute modernere Eisbrecher diese Aufgabe.
In touristischer Mission sind noch zwei andere Eisbrecher in den Gewässern unterwegs: Der Vorreiter, die 75 Meter lange „Sampo", verkehrt seit 1987 als Touristenattraktion, ab den 60ern war sie im Behördenauftrag unterwegs gewesen. Starthafen ist Ajos in Finnland. Die 37 Meter lange „Arctic Explorer" legt in Luleå in Schweden ab. Die am Axelsvik Port in Båtskärsnäs startende „Polar Explorer" aber ist der größte und als touristisches Highlight auch der neueste Eisbrecher.
Dass kein Handy oder keine Kamera auf dem ruckelnden Stahlkoloss ins frostige Meer fällt, als der endlich ins unberührte Eis abbiegt, grenzt fast an ein Wunder. Die Passagiere hängen wie Handtücher über der Bugwand des Vorderdecks und beobachten, wie sich der Brecher mit vier Knoten nach vorn ackert. Krachend reißt die eisige Versiegelung der Ostsee ein ums andere Mal ein, ihr gelbliches Wasser spült über das Weiß, knapp ein Meter dicke Schollen in der Größe von Esstischen bäumen sich auf und schaukeln zurück in die Waagerechte. Hinter sich lässt der Eisbrecher ein Mosaik aus dickem Gelee.
Zu jeder Tour gehört ein Besuch in der Kommandozentrale bei Kapitän Kenneth Hermansson. Dann stolpert jedes Mal ein Pulk Leute in Winterkluft die Eisentreppen nach oben und zieht nach ein paar Minuten wieder ab. „Ich setze mich niemals während der Arbeit", sagt der Kapitän. Während des Gesprächs wendet er den Blick vom Eis nur kurz ab. Er sagt, er habe einen Blick für die Dicke des Eises, kein Instrument könne das messen.
Bottnische Bucht ist der Höhepunkt
„Man kann stecken bleiben, das ist die Gefahr", sagt Hermansson. „Und dann können sich Eisplatten über das Schiff schieben." Eine andere Gefahr sei, dass das sich immer bewegende Eis das Schiff in Untiefen schiebe. Passiert sei ihm so etwas nur ein Mal, aber nicht auf einem Touristenschiff. Hermansson war als Kapitän auf den Weltmeeren unterwegs, zuletzt im Bottnischen Meerbusen im Behördenauftrag, verantwortlich für einen Eisbrecher. Mehr ist ihm nicht zu entlocken, er muss wieder arbeiten.
Ganz und gar nicht wie Arbeit fühlt sich das an, was die Gäste, viele von ihnen aus ostasiatischen Ländern, auf der „Polar Explorer" mitmachen. „Das, was wir hier erleben, ist unglaublich", sagt Tan Yi-Roe. Die Ärztin für Traditionelle Chinesische Medizin aus Singapur, wo niemals Schnee fällt, ist mit ihrer Mutter auf einer zwölftägigen SkandinavienRundreise. „Ich habe vorher von Eisbrecherfahrten gelesen, am Hoteldesk haben wir die Tour dann spontan gebucht." Das hat sie pro Kopf 335 Euro gekostet, gegenüber dem teureren Cruise auf der „Sampo" (572 Euro) ist das fast ein Kampfpreis. Dafür bietet die „Polar Explorer" kein Bordrestaurant wie die „Sampo", sondern nur eine Cafeteria mit Automatenkaffee.
Während „Sampo"-Cruises mit Hunde-, Rentier- oder Motorschlitten-Touren auf dem Meereis kombiniert werden können oder auch nachts stattfinden, ist das Angebot der „Polar Explorer" noch ausbaufähig. „Aber auch wir wollen bald zu Aurora-Borealis-Cruises ablegen", sagt Keynan. Das Nordlicht ist die Attraktion für viele Fernreisende. „Vor allem deswegen sind wir hier", sagt Yi-Roe.
Der Programmhöhepunkt der Mini-Kreuzfahrt, die Fahrt durch die Bottnische Bucht, naht. Kapitän Hermansson eilt zur hinteren Fensterfront und konzentriert sich voll auf das Becken, dass die Schiffschrauben gerade von Eisschollen frei wirbeln. Er gibt seinem Kollegen Thomas ein Handzeichen, und die Maschinen verstummen. Jetzt sitzt der Eisbrecher fest. Draußen in der Kälte bedient ein Mann in neonorangener Jacke auf einem Sims ein paar Hebel am Kran, und schon setzt die Gangway an der Backbordseite auf dem Eis auf.
Wie zuvor in die andere Richtung können es die Leute kaum erwarten, das gefrorene Meer zu betreten. Als hätte ihnen jemand ein Stück Kindheit zurückgegeben, rennen auch die Erwachsenen auf der kalten Kruste hin und her, jauchzen, ziehen ihre Kinder in Plastikschalen im Kreis. Sie könnten in einem Stundenmarsch auch bis ans kaum auszumachende Ufer wandern. Währenddessen macht ein Crewmitglied mit dem Schneeschieber einen Pfad zum Becken hinter dem Schiff frei.
Schon neben dem Schiff mit dem weit über zehn Meter aufragenden Bug zu stehen, erregt einen gewissen Schauder. Aber es wird nicht besser, wenn man sich entfernt. Die Füße brechen in die vereiste Schneedecke ein, unter der die Eisdecke erst beginnt. Bei jedem Schritt stockt einem das Herz vor Schreck. Da helfen auch keine Versicherungen, das Eis sei einen Meter dick, und schon ab 20 Zentimetern könnten Autos auf dem gefrorenen Meer fahren.
Dann wanken in schlecht sitzenden Überlebensanzügen aus dickem, neonorangefarbenen Neopren die ersten Badegäste die Landungsbrücke hinunter. Steif und schwerfällig wie Teletubbies aus der 90er-TV-Kindersendung posieren sie fürs Foto, bevor sie zum Eisloch am Heck weiter eiern. „Das Wasser hat vielleicht ein Grad", sagt ein Crewmitglied.
Tatsächlich isoliert die Gummihülle den Körper derart gut, dass man selbst nach einer halben Stunde im Eiswasser nicht zu frieren beginnt – das Paddeln mit den Armen bringt sogar ein bisschen Wärme. Auch Kinder ab einem Alter von sieben Jahren oder einer Körpergröße von 1,25 Meter dürfen polarmäßig planschen. Wer aber auf die Frage „Kannst Du schwimmen?" mit „Nein" antwortet, muss an eine Hundeleine.
Temperatur bis minus 40 Grad
Im Überlebensanzug unterzutauchen ist schier unmöglich. „Wie ein Wasserbett", sagt das ein oder andere Teletubbie später. Immer wenn sich einer der sicher eingepackten Gäste über die Eiskante ins Wasser wagt, zieht sich der Anzug fest um den Körper. Auf dem Rücken paddelt mancher bis zu den Schollen, die das Schiff gebrochen hat, und bringt sie in Bewegung. Wie Eiswürfel in einem Longdrinkglas klirren sie aneinander – nur ein paar Oktaven tiefer. Der Himmel ist diesig. So muss das Nichts aussehen. Wäre nicht alles so skurril – fast könnte man sich entspannen.
Dann heißt es, rückwärts mit den Schultern am Einstieg wieder anlegen. Das muss man machen, damit ein Crewmember einen von hinten am Neopren packen und wie eine Wasserleiche aus der Ostsee fischen kann. Allein würde man niemals über die rutschige Kante nach oben kommen.
Auf der „Polar Explorer" sind längst die Scheinwerfer angegangen, als Kapitän Hermannsson nach vielleicht 20 Kilometern Fahrt durchs Eis unter Aufheulen der beiden Dieselaggregate im Maschinenraum wieder an den Anleger manövriert. Es ist schleichend dunkel geworden. Und damit wird es auch wieder kälter. Am nächsten Tag wird die frisch gebrochene Fahrrinne wieder dick zugefroren sein. Das ist sicher, denn hier an der Bottnischen Bucht wird es manchmal bis zu minus 40 Grad kalt – ein Garantieversprechen für die nächste Ladung Eisbrecher-Touristen.