Wer den Braten nicht riecht, muss ihn fotografieren
Till Eulenspiegel war ein Schelm. In einer Kölner Herberge behauptete er sehr zum Verdruss des Gastwirts, vom Geruch des Bratens satt geworden zu sein und verließ das Lokal, ohne zu zahlen. Den Volksmund, der stets behauptet „Die Augen essen mit", bereicherte Eulenspiegel damit um eine weitere geschmackvolle Weisheit zum Thema „Essen". US-Forscher haben die Eulenspiegel-These jedoch im Jahr 2016 zu Gunsten des Volksmundes widerlegt. Die US-Studie kommt ganz auf der Höhe der Zeit zu dem wissenschaftlichen Ergebnis „Fotografiertes Essen schmeckt besser" und erklärt damit anscheinend den aktuellen Zwang vieler Menschen, ihre Mahlzeit vor dem Verzehr abzulichten und bei „Food Porn" abzuliefern.
Dort gibt es inzwischen mehr als 152 Millionen Essens-Fotos – vom Frühstück bis zum Dessert. Und die leicht ranzige Eigendefinition dieses Instagram-Accounts lautet: „Food Porn ist eine bezaubernde visuelle Präsentation des Kochens oder Essens in Werbung, Infomercials, Blogs, Kochshows oder anderen visuellen Medien."
Es gibt allerdings keine Erläuterung, warum dieser bezaubernde Account einen Namen trägt, der auf Pornografie oder Sex zielt und damit Kochshows und Nahrungsaufnahme in einem besonderen Licht der Triebbefriedigung erscheinen lässt. Bei jeder Suche nach dem Warum sind sogleich Psychologen im Spiel. Beim Durchforsten von Antrieb und Beweggrund gelangen sie bei „Food Porn" mitunter zu erstaunlichen Erkenntnissen. Nix da von der simplen Erklärung, dieser Fotografier-Zwang sei eine neumodische Unart, die durch Instagram, Facebook oder Snapchat entstanden ist, um ein paar Likes zu ergattern oder um den Snapchat-Buddys zu imponieren.
Diese Schlussfolgerung erweist sich – sehr zur Verwunderung von Kulturpessimisten – beim sorgfältigen Rückblick auf die Kulturgeschichte der Menschheit als fataler Irrtum. Die Essens-Fotos in den sogenannten Sozialen Medien sind nicht eine Folge der Smartphone-Erfindung oder der von Nobelpreisträgern wie Mario Vargas Llosa beklagten fortschreitenden Massenverblödung. Solche Bilder gibt es spätestens seit der Renaissance. Pieter Bruegels Schlaraffenland-Gemälde mit dem „Tischlein-deck-dich-Baum" datiert von 1567. Sein Landsmann Nicolaes Gillis hat 1611 einen „Gedeckten Tisch" beigesteuert, und der Ölmützer Georg Flegel hat um 1600 von der Brotzeit bis zum Fastenmahl nur Stillleben mit Nahrungsmotiven gemalt.
Berge von Fleisch und Obst haben eine jahrhundertelange Tradition in der Malerei. In dieser Tradition bewegen sich heutzutage Studenten, die ihr mieses Mensa-Essen aus vergammelten Nudeln und vertrockneten Möhren durch ein Foto veredeln, oder Politiker, die sich durch einen fotografierten Eintopf oder den dokumentierten Ruf nach einer „Flasche Bier!" so herrlich volksnah gebärden.
Wer heutigen Mahlzeit-Fotografen, die erst anfangen zu essen, nachdem sie ihre Nahrung fotografiert haben, Verblödung oder gar Schwachsinn vorwirft, muss sich von den Psychologen der Universität Basel belehren lassen, die festgestellt haben: „Der visuelle Eindruck hat einen entscheidenden Einfluss auf das Sättigungsgefühl." Kurzum: Wer fotografiert, wird schneller satt.
Wird allerdings ein passionierter Essens-Fotograf gefragt, warum er das tut, bleibt eine Antwort fast immer aus. Wie erwähnt: Es sei denn, er ist Psychologe. Das Foto einer herrlichen Landschaft erreicht zwischen 50 und 100 Likes. Ein Dinner-Bild kommt spielend auf 20.000 und mehr. Hier sehen Psychologen die Antwort auf die Frage nach dem Warum?. Wer sein Essen fotografiert und postet, der will zum einen sagen: „Seht her, wie köstlich ich speise und was ich mir leisten kann!" Er oder sie feilscht aber auch um Anerkennung. „Solche Personen haben einen Minderwertigkeitskomplex", lautet das harte Urteil der Seelenforscher.
Till Eulenspiegel war nur ein Schelm. Der Food-Porn-Aktivist hingegen ist demzufolge ein bedauernswerter Pechvogel. Wer den Braten nicht riecht, muss ihn notgedrungen fotografieren.