Strenge Konzeptkunstküche war gestern, facettenreiche Interpretationen der Berliner Küche ist die Jetztzeit. Mit dem neuen Küchenchef Silvio Pfeufer legt das „einsunternull" in Mitte einen gut gelaunten und beeindruckenden Neustart hin.
Das war mal ein Richtungswechsel! Von außerordentlich regional und streng produktbezogen unter Andreas Rieger hin zur feinziselierten zeitgenössischen Berliner Küche unter dem neuen Küchenchef Silvio Pfeufer. Das „einsunternull" mit Gastgeber Ivo Ebert legte Anfang März, kurz nach dem „verlängerten" Michelin-Stern, eine konzeptionelle Kehrtwende hin. Das verblüffte nicht wenige. Der vom Vorgänger erkochte Stern muss sich jedoch nicht sorgen: Küchenchef Silvio Pfeufer war zuvor Junior-Souschef bei Jan Hartwig im mit drei Sternen ausgezeichneten „Atelier" in München. Er kehrte für seine neue Aufgabe in seine Heimatstadt zurück.
„Wir sind beide Berliner, Silvio aus Lichtenberg, ich aus Friedrichshain, und wir haben zusammen die Idee entwickelt", sagt Ivo Ebert, der seit Ende 2015 die Geschäfte des „einsunternull" führt. Und: „Wir nennen uns bewusst Gourmet-Restaurant, denn es geht bei uns um Genuss." Anspruch, Können und Marschrichtung des neunköpfigen Teams in Küche und Service dürften damit hinlänglich vorgegeben sein. Dann mal nichts wie los und in den sieben Gängen des Menüs nachgeschaut, wie die Berliner Gourmetküche des Jahres 2019 aussehen kann!
Sie ist in jedem Fall filigraner als erwartet. Hering mit Gremolata und mit Dillsalz sowie ein Stückchen Aal mit Aalsalat zeigen, welche Finesse man der robusten „Arme-Leute-Küche" entlocken kann. Die „Stippe" präsentiert sich als Rauchaal-Dashi mit Dillöl, das am Tisch aufgegossen wird. Dill-Mayo, Radieschen, Apfel und geräucherte Fischhaut reichern den Teller mit frei uminterpretierten klassischen Soßen an. Die „Stulle" wurde flugs in ein hausgemachtes Knäckebrot mit vielen Körnlein verwandelt, das zwanglos dazu geknabbert werden kann. Der Knaller, um es mit dem markigen Berliner Ausdruck zu sagen, ist allerdings unser gepaartes, nichtalkoholisches Kaltgetränk dazu. Staudensellerie, entsaftete Gurke, Gewürzgurkenwasser – aus eingelegten Gurken vom letzten Sommer – sind genau das My flüssige Extravaganz, die aus einem dekonstruierten Räucheraal und Heringssalat eine Überraschung macht und die Neugier auf weitere sechs Gänge und Pairings weckt.
Kaltgetränk ist ein echter Knaller
Die alkoholfreie Getränkebegleitung ist zu diesem „echten" ersten Gang schon zum zweiten Mal überzeugend: Die Begleiterin erhielt einen „Prisecco Bio Cuvée Nr. 21", in dem sich Apfel, Birne und Nacktgerste zum prizzeligen Auftakt vereinigen. „Der Prisecco ist lieblich, ohne süß zu sein", versucht sie das Wesen ihres Getränks zu erfassen. „Es ist definitiv mehr als ein Saft, raffinierter. Es ist blumig und wie überreifes Obst, ohne aber unangenehm zu sein." Ob der Lambrusco aus der „Cantina della Volta" auf der alkoholischen Seite oder der „Prisecco" – beides hält den Berliner Miniaturen auf Willkommensbrettchen und -tellern stand. Ein mit Blutwurst gefüllter und mit Meerrettichpulver bestäubter Pfannkuchen – für die Nicht-Eingeborenen: ein „Berliner" oder Krapfen – macht klar, dass das mit der feinziselierten Umarbeitung der Hausmannskost ernst gemeint ist. Rote-Bete-Kaffeedrops auf Kataifi-Teig möchten mit einem Happs in den Mund genommen, geknackt und serviettenschonend verspeist werden. Das flüssig-knusprige Praliné ist eine Kombi aus Wurzel und Kaffee, auf die die Welt genau so gewartet hat.
Der Kataifi-Teig ist ein Fingerzeig darauf, dass im „einsunternull" keineswegs eine nostalgisierende Eisbein-Bullette-Senfei-Küche gekocht wird, sondern dass das Berlin der Jetztzeit auch auf den Tellern aus vielen Facetten und internationalen Einflüssen besteht. Nichts wie hin nach Neukölln: Im dritten Fleischgang landen wir bei einer Short Rib geradewegs auf der Sonnenallee mit ihren orientalischen Gerichten und Aromen. „Das ist die Berliner Luft", scherzt Ivo Ebert, während er unterschiedlich farblich schimmernde, aber leere Keramikschalen vor uns hinstellt. In die kommt kurz darauf dann doch ein Ayran mit Minze mit einem Kranz von Petersilienöl-Tropfen obenauf. Rechts das erfrischende Joghurt-Getränk, links ein rotes Linsen-Auberginensüppchen. In der Mitte ein Teller mit einem Streifen von zwei Stunden gegarter Short Rib, die mit gesalzenen Pistazien, Zitronenjoghurt, Staudensellerie und Joghurt gereicht wird. Nicht zu vergessen die Mini-Falafel, Bienenpollen und der großartige Minz-Spinat. Merke: Spinat fürderhin immer in Nussbutter und mit frischer Minze garziehen.
Den Abzweig nach Japan und Frankreich zugleich zu nehmen, hatte zuvor bereits der krosse Spanferkelbauch mit einer Gyoza geschafft. Der gedämpfte japanische, akkurat gefaltete Teig-Halbmond ist mit gegrilltem Schweinebauch gefüllt. Das Zweierlei vom Schwein bekommt ein bisschen Säure von eingelegten Perlzwiebeln spendiert und ein Ofenzwiebelpüree an die Seite drapiert. Ein reiner Zwiebelsud bildet den Untergrund – gut, dass immer auch ein Löffel auf dem Messerbänkchen bereitliegt. Das will man alles miteinander weglöffeln und nichts übrig lassen. „Komplex wie eine französische Zwiebelsuppe", meint die Begleiterin.
Berliner Menü auch vegetarisch
Die Getränkebegleitung spielt Sakura: Kirschblüten, Boskop-Apfel und Johannisbeere setzen dem Schwein feine Frucht entgegen. Zuvor gab’s ein „richtiges Bier". Zum Broiler mit Pommes frites, Passe-Pierre-Alge und einem Eigelb als „symbolische Mayo" schäumte Ivo Ebert uns ein hausgemachtes Ginger Beer mit Soda ins Glas. Das Spiel mit den Klischees klappt auch an dieser Stelle souverän. Die sous vide im eigenen Fett gegarte Hühnerbrust in einer Soße aus der gegrillten Karkasse, Paprika und Tomaten hat so gar nichts mit einem überwürzten Vogel vom Drehgrill zu tun. Das Beste: Niemand bricht nach so einem Broiler mit zwei handgeschnitzten Pommes-Stäbchen irdenschwer zusammen.
Dann würden wir in diesem Fall im namensgebenden Tiefparterre „einsunternull" landen. Im Gastraum unter den weiß gekachelten, historischen Kellerdecken gab’s im vergangenen Sommer einen Wasserschaden, dessen Beseitigung sich bis vor Kurzem hinzog. Wir speisten dieses Mal quasi im „null" auf Erdgeschoss-Ebene. Dort waren abends die leichten, hellen Vorhänge zu den bodentiefen Fenstern zugezogen. Den Sommer über werde dort auch noch aufgetischt, verrät Ivo Ebert. Sind die Fenster geöffnet, gibt’s das Draußen-auf-der-Straße-Feeling zum Dinner. Außerdem können wir von dort aus das Köche-Ballett in der offenen Küche beobachten. Das Küchenteam tänzelt um den Edelstahl-Pass herum und richtet das Essen auf der wenige Stufen hohen vollverglasten „Bühne" beinah direkt vor unserer Nase an.
Die Aufzählung von Fleisch- und Fischgerichten sollte zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass es das „Berliner Menü" ebenfalls in vegetarischer Ausführung gibt. Dann spielt Aubergine anstelle von Short Rib die Hauptrolle auf der Sonnenallee, und ein Blumenkohl darf sich wie ein Veggie-Broiler fühlen. „Wir haben ja noch unseren Garten in Brandenburg und arbeiten weiterhin mit denselben Bauern, Erzeugern und Händlern zusammen", sagt Ivo Ebert. Beide Sieben-Gänge-Menüs kosten jeweils 129 Euro.
Hohe Kunst der Patisserie
Nicht zu übersehen und zu überschmecken ist Marie Mangs Patisserie-Kunst, die zum Ende hin brillieren darf: Eine Mousse und ein Milcheis von gebrannter weißer Schokolade tanzen mit Roibosch-Tee in Gel-, Granité- und Crème-Form Dessert-Tango auf dem Teller. Schoko- und Vanille-Crumble fürs Herz sowie Passionsfruchtgel und -sud und Lemongrasblättchen für die Frische überraschen mit herb-cremiger Sanftmut und säuerlichen Frucht-Akzenten. Als Dessertwein-Fan überlasse ich die Buttermilch mit weißem Pfirsich der Begleiterin und dem Fotografen. Ich schwenke opportunistisch zur 1996er Riesling-Spätlese von Müllen um. Der Mosel-Saar-Ruwer vom Kröver Paradies flüstert zweifellos hauptsächlich dem Roiboschtee ins Öhrchen, wie gut sie zueinander passen.
Unser Essen bleibt bis zum Rausschmeißerchen auf gleichbleibend hohem Niveau. Pfannkuchen, „Berliner" oder Krapfen Nummer zwei kommt mit Passionsfrucht gefüllt und Kokosnusspuder in süß daher. Ich hatte ganz vergessen, dass wir gerade einmal drei Wochen nach dem Start des neuen Küchenchefs und Konzepts da sind – alles wirkt schon zu diesem Zeitpunkt sehr ausgearbeitet und präzise. Die erste neue Karte von Silvio Pfeufer im „einsunternull" lässt auf vieles hoffen. Das wird der Berliner Küche zweifellos guttun und sie in ihrer Vielseitigkeit noch um so einige sehr wünschenswerte Facetten bereichern.