Wenn Kommunen nur noch Hartz IV und Zinsen finanzieren, kommt der Rest zu kurz. Die Altschulden müssen weg und die Zeit drängt, sagt der Experte für Kommunalfinanzen, Martin Junkernheinrich.
Herr Professor Junkernheinrich, seit Jahren warnen Sie vor dem Schuldenkollaps der Kommunen. Jahrelang ungehört, nun plötzlich reagiert die Politik, wie kommt das?
Ach wissen Sie, man hat mir ja zugehört und im Fall des Saarlandes oder Hessen auch tatsächlich schon reagiert. Aber in Anbetracht der Größe der anstehenden Aufgabe Tilgung der kommunalen Schulden bedarf es auch komplexer Mehrheitsprozesse, und diese nötigen Mehrheiten sind auf der politischen Ebene nicht immer so einfach zu bekommen, gerade wenn es darum geht, den Bund, die Länder und die Kommunen unter einen Hut zu bekommen.
Hat sich denn in den letzten Jahren die Lage der über 70 betroffenen Kommunen dramatisch verschärft?
Nein, ganz im Gegenteil, sehr viele von diesen Kommunen haben ihre Einnahmeseite in den letzten Jahren dank der guten Konjunktur erheblich verbessern können. Doch das nützt alles nichts, wenn da ein Berg alter Schulden ist, der immer wieder aufs Neue finanziert werden muss, und nicht weniger, sondern durch die Zinsen eher mehr wird. Jetzt in guten Zeiten müssen diese Schulden aber abgebaut werden, in schlechten Zeiten ist es zu spät.
Die Bürgermeister in den betroffenen Kommunen sagen übereinstimmend, wir haben schlicht nicht das Geld, um Schulden abzubauen.
Das ist ja genau das Problem, dass die Kommunen aufgrund der hohen sozialen Ausgaben für zum Beispiel die Kosten von Unterkunft diesen Spielraum nicht haben, um auch die Altschulden abzutragen. Also müssen die Kommunen zum Beispiel bei den Unterkunftskosten durch den Bund entlastet werden.
Also war die Einführung von Hartz IV vor 15 Jahren mit der Unterkunftsregelung der Anfang der Schuldenkrise der Kommunen?
Nein, der Beginn der Verschuldung der Kommunen geht mindestens zurück in die 80er-Jahre. Im Gegenteil, die Einführung der Hartz-Gesetze hat ja auch dafür gesorgt, dass nicht länger nur Arbeitslosigkeit finanziert wird. Viele Hartz-IV-Bezieher gehen ja arbeiten und zahlen damit auch Einkommenssteuer. Die ist natürlich sehr gering. Aber besser als wenn diese Arbeitnehmer komplett aus dem System rausfallen würden.
Welche Folgen hat denn der Schuldenberg für die regionale Entwicklung der Kommunen?
Nehmen sie beispielsweise Gelsenkirchen oder Pirmasens. Dort sind die Stadtoberen nur damit beschäftigt, die sozialen Belange zu finanzieren und irgendwie über Kassenkredite jeden Monat die Altschulden neu zu finanzieren. Kassenkredite, das ist der Dispo der Kommunen, der durch nichts gedeckt ist. Das heißt, hier ist der Zinssatz wesentlich höher als er in Zeiten der Niedrigzinsen eigentlich sein müsste. Aber das ist wie bei einem Privatverbraucher, Dispo ist teuer.
Glauben Sie denn, dass der Bund die Dramatik der Altschulden begriffen hat?
Ja, der Bund hat ja auch schon reagiert. Wir verhandeln seit geraumer Zeit und wir sind jetzt in eine ganz entscheidende Phase eingetreten. Die Lösung der Altschuldenproblematik wird nur im Dreiklang, Bund, Länder und Kommunen funktionieren, und das wird auch so kommen. Denn der Bund kann kein Interesse daran haben, dass sich Kommunen ohne Altschulden durch Investitionen gut entwickeln können, und die anderen hinken hinterher. Es geht hier immerhin um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Aber das ist ein sehr konfliktreiches Thema. Der Bund hätte am liebsten, dass die Länder das lösen. Und die Länder, dass die Kommunen das irgendwie allein hinkriegen.
Beim verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Gibt es das bei den kommunalen Schuldenbergen auch?
Nein, kein Nord-Süd-Gefälle, sondern da, wo wir die Globalisierungsverlierer haben, sind jetzt die Schuldenberge. Also da, wo Kohle, Stahl oder die alte Industrie ihre Schwerpunkte hatten, herrscht jetzt die Altschuldenproblematik. Betroffen sind also vor allem Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Wir hätten übrigens solche hohen Altschulden auch im Osten, aber da gab es nach der Wende ja sehr viele Sondermittel, die es im Westen nicht gab. Vor dem Mauerfall 1989 hatte man bereits diese drohende Schuldenproblematik in den westdeutschen Kommunen gesehen und entsprechende Hilfe auf den Weg gebracht. Im Zuge der deutschen Einheit wurden diese Hilfen dann eingefroren.
Im Klartext: Wir brauchen jetzt einen Aufbau beziehungsweise eine Entschuldung West?
Richtig, wir brauchen eine Entschuldung West, und diese auch nicht mit einer Perspektive über 50 oder 60 Jahre. Sondern diese Entschuldung muss in 30 Jahren vollzogen sein, alles andere macht keinen Sinn, die Kommunen müssen schnell wieder handlungsfähig werden.
Und das geht nur als nationale Aufgabe, ähnlich dem Aufbau Ost?
Ich halte das für eine nationale Aufgabe. Immerhin haben wir eine Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse, und die soll dafür sorgen, dass die Menschen in allen Landstrichen der Republik die gleichen Voraussetzungen für ein unbeschwertes Leben vorfinden. Darum halte ich den Abbau der Altschulden in den Kommunen für eine nationale Aufgabe.
Das klingt reichlich ambitioniert.
Das ist es auch, aber ich habe die Hoffnung, dass es in diese Richtung gehen wird. Klar ist: Das ist kein Weg der kleinen Schritte. Also nach dem Motto, dann geben wir mal zwei Milliarden und dann sollen die sehen, wie sie klarkommen. Wir brauchen schon einen Neustart, eine grundsätzliche Lösung und zwar über einen Zeitraum von 30 Jahren. Wir reden hier von einem angehäuften Schuldenberg von über 50 Milliarden Euro Kassenkredite. Das wird nicht einfach, diesen abzubauen, doch das ist zu schaffen. Aber es wird auch teuer. Wenn man 50 Milliarden Schulden in 30 Jahren abbaut, dann wird das teuer, doch eine andere vernünftige Lösung sehe ich nicht.