Europa ist den Grünen seit jeher eine Herzenssache. Mit Ska Keller als doppelter Spitzenkandidatin wollen die Grünen in der wiederbelebten Klimadebatte ihre klassischen Stärken ausspielen.
Europa und die Grünen verbindet eine ganz eigene Geschichte. Es ließe sich nämlich trefflich spekulieren, ob es die grüne Partei überhaupt geschafft hätte, die Gründungsphase zu überstehen, wenn nicht ausgerechnet in diesem zeitlichen Umfeld die erste Europawahl stattgefunden hätte. 1979 wurde die Wählergruppe „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen" (SPV) aus der Taufe gehoben, um sich an der ersten Europawahl zu beteiligen. Die Bewegung scheiterte zwar mit 3,2 Prozent an der damals gültigen Fünfprozenthürde, aber die Wahlkampfkostenerstattung in Millionenhöhe dürfte die Parteigründung (1980) nicht gerade erschwert haben.
Knapp vier Jahrzehnte später gelten die Grünen heute als die neue Volkspartei. Entsprechend selbstbewusst sind sie in den Europawahlkampf gestartet, mit Ska Keller und Sven Giegold als Doppelspitze. Womit die deutschen Grünen eine ziemliche Ausnahme sind. Österreich hat es zwar geschafft, mit Alexander van der Bellen einen ehemaligen Grünen-Politiker zum Bundespräsidenten zu wählen, bei der Nationalratswahl 2017 erlitten die Grünen aber, nachdem sich ein Spaltpilz eingenistet hatte, mit 3,8 Prozent ein Debakel. In Luxemburg regieren die Grünen immerhin in einer „Gambia-Koalition" mit, in den Niederlanden kratzte GroenLinks vor zwei Jahren zumindest an einem zweistelligen Ergebnis. In den großen europäischen Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Spanien und Italien spielen grüne Parteien derzeit nur eine untergeordnete Rolle, in osteuropäischen Ländern sind sie eine Randerscheinung.
Traditionell europafreundlich
Im derzeitigen Europäischen Parlament spiegelt sich dieses Bild: Von den 41 grünen Abgeordneten sind elf aus Deutschland, allen voran Ska Keller, die Vorsitzende der Fraktion, der sich auch einzelne Abgeordnete etwa der Piraten und Vertretern der Freien Europäischen Allianz angeschlossen haben.
Wie viele Stimmen grüne Politik in der europäischen Volksvertretung bekommt, hängt also wesentlich am Ergebnis der deutschen Grünen. Und die wollen, mit ziemlich konstanten 20-Prozent-Umfragen im Rücken, ihr bislang bestes Europawahlergebnis von 12,1 Prozent bei der vorletzten Wahl vor zehn Jahren natürlich noch toppen. Vor fünf Jahren hatten sie mit 10,7 Prozent zumindest ein zweistelliges Ergebnis halten können (Europaweit kamen die Grünen auf 6,7 Prozent). Fast schon traditionell liegt das grüne Europaergebnis in Deutschland über dem bei Bundestagswahlen.
Grüne Wähler sind traditionell eher europafreundlich gesonnen. Gerade diese Haltung sieht Spitzenfrau Ska Keller von rechten Kräften bedroht, die eine Rückkehr zum Nationalen anstrebten. Den Grünen kommt daher aus ihrer Sicht besondere Verantwortung in diesem Wahlkampf zu: „Jetzt ist es Zeit, nach draußen zu gehen." Sven Giegold hatte bereits vor gut einem halben Jahr gegenüber FORUM davor gewarnt, dass angesichts der sozialen und sicherheitspolitischen Unsicherheiten nicht wenigen „der Rückzug ins Nationale attraktiv" erscheine. „Allerdings haben wir es in der Hand, dass es eine Zeiterscheinung bleibt", zeigte er sich kämpferisch.
In etlichen Politikfeldern spielt die Entwicklung den Grünen in die Hände. In der durch die „Fridays for Future" wiederbelebten Klima- und Umweltdiskussion können sie mit größerer Glaubwürdigkeit argumentieren als die Mitbewerber. „Klimaschutz kennt keine Grenzen" prangt ebenso schlicht wie zutreffend auf ihren Plakaten. Das Problem: Europa zum globalen Vorreiter für Klimaschutz zu machen, findet im Grundsatz ebenso viele Befürworter, wie es bei Fragen konkreter Umsetzung spaltet.
Bas Eickhout von den niederländischen GroenLinks, neben Ska Keller europäischer Spitzenkandidat, mahnt: Zu lange hätten multinationale Konzerne Europa im Griff gehabt, Profite und Wachstum über alles andere gestellt. Das sei auch auf Kosten eines sozialen Europas gegangen. Im Katalog der Grünen für ein soziales Europa finden sich Forderungen wie die nach einem an die Lebensverhältnisse angepassten europaweiten Mindestlohn oder einer Basis-Arbeitslosenversicherung als mittelfristiges Ziel. Außenpolitisch wollen die Grünen die EU zu einer „weltpolitikfähigen Akteurin" entwickeln, wozu auch das Ziel einer „Sicherheitsunion" gehört. Für Grüne durchaus beachtliche Politikansätze.
Letztlich aber will die Partei mit grünen Klassikern punkten, Plakate mit Bienen kleben, denn schließlich, so die Argumentation im Blick auf eine Reform der europäischen Agrarpolitik, werde diese Wahl auch eine „für den Gartenrotschwanz, Heuschrecken und Fliegen auf unseren Feldern". Was auf den ersten Blick niedlich klingt, ist in der politischen Realität ein harter Kampf um Kernbestände und milliardenschwere Subventionen.
Jesse Klaver, der als Parteichef von GroenLinks zum bislang besten Ergebnis der niederländischen Grünen maßgeblich beigetragen hat (9,1 Prozent 2017), hat schon früh auf eher linke Themen gesetzt. „Globalisierung funktioniert nicht für alle Menschen. Da müssen wir Grünen die Alternative sein und Werte von früher ins 21. Jahrhundert holen", hatte er bei einem Besuch der deutschen Grünen-Chefin Annalena Baerbock ins Stammbuch geschrieben. „Wir wollen die progressive Kraft sein, die Europa voranbringt", so seine Marschrichtung, die er bereits im vergangenen Jahr für die Europawahl ausgegeben hatte.
Viele Themen kennen keine Grenzen
Damit betont er noch stärker als Bas Eickhout, dem europäischen Co-Spitzenkandidaten, soziale Themen. Eickhout ist, auch wenn er sich soziale Themen zu eigen macht, von seiner beruflichen Herkunft vor allem Umweltexperte, hat Biologie und Umweltwissenschaften in Nijmegen studiert, war beim Rijksinstituut vor Volksgezoondheid en Milieu, einer staatlichen Behörde für Gesundheit und Umweltschutz, tätig.
Damit ziehen die europäischen Grünen mit einer erfahrenen Doppelspitze in den Wahlkampf, die für die klassischen grünen Themen steht. Bei der letzten Wahl waren die Pole der Grünen in der Doppelspitze stärker konturiert. Neben Keller, die bereits vor fünf Jahren Spitzenkandidatin war, stand der französische Aktivist José Bové, unter anderem Mitbegründer des globalisierungskritischen Netzwerks Attac und Autor des Bestsellers „Die Welt ist keine Ware".
Ska (Franziska) Keller, die mit damals gerade erst 27 Jahren 2009 zum ersten Mal ins Europäische Parlament gewählt wurde, nennt in einer Selbstbeschreibung die Europäische Migrationspolitik und den Erhalt der Rechtsstaatlichkeit als ihre zentralen Themen. Mit ihrer Arbeit hoffe sie „nichts weniger, als die Welt zu verändern", was „oft in kleinen Schritten" gelinge und „einen langen Atem" brauche. „Wichtig ist mir, immer klar zu haben, wohin die Reise geht." Nicht nur wegen ihrer frühen Karriere auf der europäischen Bühne sieht sie sich selbst als „europäische Abgeordnete", will heißen, dass die europäische Perspektive klar höhere Priorität hat als nationale Interessen in europäischen Gremien zu vertreten.
Ska Keller ist doppelte Spitzenkandidatin, sowohl für die deutschen wie auch die europäischen Grünen. Damit ist sie im Grunde auch direkte Konkurrentin von Manfred Weber, dem deutschen Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei EVP, dessen Ambition, EU-Kommissionspräsident zu werden, die Grünen möglichst verhindern wollen. Nach derzeitigem Stand der Dinge könnte das möglich sein, wenn Grüne mit Sozialdemokraten und Liberalen an einem Strang ziehen und damit einen Hauch von „Gambia" ins Europäische Parlament bringen würden.