Der Wähler hat das Wort: Das Europaparlament ist das einzige demokratisch legitimierte Organ der EU. Wer als Spitzenkandidat einer Partei die Wahl gewinnt, kann damit rechnen, EU-Kommissionspräsident zu werden. Aber das Wahlverfahren ist kompliziert.
Einheit in Vielfalt heißt das Motto in Europa. Und das spiegelt sich auch im Ablauf der Europawahl wider, was schon beim Wahltermin beginnt, der sich in den 27 beziehungsweise 28 (falls Großbritannien doch noch dabei sein sollte) Ländern über vier Tage hinzieht. Während die Niederländer am Donnerstagabend schon fertig sind, wählen andere, auch die Deutschen, erst am Sonntag. Alle Ergebnisse werden erst am Sonntagabend bekannt gegeben.
Auch wer wählen und gewählt werden darf, ist unterschiedlich. In Malta und Österreich dürfen schon 16-Jährige an der Wahl teilnehmen, in allen anderen Ländern beginnt das aktive Wahlrecht ab 18 Jahren. In drei Staaten müssen die Kandidaten zum EU-Parlament mindestens 25 Jahre alt sein, in den meisten anderen liegt dieses „passive Wahlalter" bei 18 oder 21 Jahren. Wahlpflicht gilt in vier Ländern (Belgien, Luxemburg, Griechenland und Zypern).
Die Sperrklauseln, die die Prozentzahl bestimmen, ab der eine Partei ins Parlament einziehen darf, liegen zwischen null und fünf Prozent. 13 Staaten haben Sperrklauseln, wie auch Deutschland bis 2014. Damals hat das Bundesverfassungsgericht vor der Europawahl die Dreiprozenthürde gekippt. Geklagt hatten 19 kleine Parteien. Das Gericht sah – anders als im Bundestag – keine Gefahr einer Zersplitterung des Parlaments.
Sperrklausel wurde gekippt
Zwar formieren sich im Europäischen Parlament die Parteien zu großen Blöcken, wie zum Beispiel die Konservativen zur EVP oder die Sozialdemokaten zur S&D (Sozialisten und Sozialdemokraten). Aber gewählt werden von den Bürgern immer nur die nationalen Parteien. Zwar können die Parteien zusätzlich die Namen der Fraktionsgemeinschaften auf den Wahlzettel schreiben, aber das ist nur zusätzlich und freiwillig.
Wie werden die abgegebenen Stimmen auf die Abgeordneten verteilt?
Es gilt in allen Staaten das Verhältniswahlrecht. Das heißt: Jede abgegebene Stimme zählt, es wird nicht wie in Großbritannien üblich nach dem Mehrheitsprinzip („The winner takes it all") abgestimmt. Jede Partei stellt also Listen auf, die Stimmen werden auf die Kandidaten nach der Reihenfolge ihrer Liste verteilt. In einigen Ländern können die Wahlberechtigten die Reihenfolge auf der Liste verändern („panaschieren").
Bei den Verfahren zur Zuteilung der Sitze nach den abgegeben Stimmen haben sich die Mathematiker ausgetobt: d’Hondt, Hare-Niemeyer und andere Möglichkeiten waren denkbar. Die deutschen Mandate werden nach einem gewissen Sainte-Lagué verteilt.
Das bedeutet: Deutschland als einem der größten Mitgliedsstaaten stehen 96 Sitze im Parlament zu. Werden bei der Wahl 35 Millionen Stimmen abgegeben, so wird im ersten Schritt diese Zahl durch die Zahl der zu vergebenden Sitze geteilt (35.000.000 / 96 = 364.583). Wenn Partei A 12.000.000 Stimmen erreicht hat, stehen ihr nach diesem Rechenmodell 33 Mandate zu (zwölf Millionen geteilt durch 364.583).
Die Sitzverteilung hat noch jedes Mal zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, wenn ein neues Mitglied in die Europäische Union aufgenommen wurde. Seit dem Lissabonner Vertrag aus dem Jahr 2007 hat jeder Mitgliedsstaat eine von vornherein festgelegte Anzahl von Mandaten. Die sind unproportional verteilt, was bedeutet, dass die kleinen Staaten mehr Abgeordneten haben als ihnen nach der Zahl ihrer Einwohner zustehen würden.
Dieses „Prinzip der degressiven Proportionalität" soll eine möglichst gleichmäßige Repräsentation der EU-Bürger im Parlament ermöglichen. Es gibt Ober- und Untergrenzen für die Vertretung der Mitgliedsstaaten. Jeder Mitgliedsstaat bekommt mindestens sechs Sitze, höchstens aber 96. So viele stehen Deutschland zu, Italien und Frankreich haben Anspruch auf 73 Sitze. Malta dagegen ginge mit seinen 490.000 Einwohnern leer aus, aber es bekommt in jedem Fall sechs Sitze. Das bedeutet: Jeder maltesische Abgeordnete vertritt etwa 80.000 Bürger. Ein deutscher Abgeordneter dagegen vertritt demnach 860.000 Bürger.
Und der Brexit?
Für das nächste EU-Parlament galt bislang, dass das Parlament nach dem Austritt Großbritanniens von 751 auf 705 Sitze verkleinert wird. Die wegfallenden 73 britischen Sitze würden zum Teil auf andere, zu kurz gekommene Staaten verteilt. 46 fallen ganz weg. Nun scheint es so zu sein, dass die Briten den Brexit bis zum 23. Mai nicht schaffen, also mitwählen müssen. Dann bleibt alles beim Alten, und die austrittswilligen Briten sitzen mit 73 Abgeordneten im EU-Parlament. Eine absurde Situation.
Wahl nach Liste
Bei der Wahl am 26. Mai hat in Deutschland jeder Bürger, anders als bei der Bundestagswahl, nur eine Stimme. Mit der kann er auf der Bundes- oder Landesliste die Partei seiner Wahl ankreuzen. Zur Wahl stehen nur Listen, keine Einzelpersonen. Die Listen werden üblicherweise nach einem Regionalproporz aufgestellt, sodass die Bundesländer angemessen vertreten sind. In Deutschland stellen Parteien in der Regel eine bundesweite Liste für die Europawahl auf. Die Union macht eine Ausnahme. Grund ist die CSU, die ihre eigene bayerische Liste hat. Das hat dazu geführt, dass die große Schwester CDU in den anderen 15 Bundesländern Landeslisten hat. Die Sitzverteilung wird trotzdem nach dem Gesamtergebnis ermittelt.
Weil dieses System die Europawahl letztlich für die Wahlkämpfer doch zu einer Wahl unter nationalen Gesichtspunkten macht, gab und gibt es Reformbestrebungen. Eine Idee, um den europäischen Charakter der Wahl zu stärken, war ein Zwei-Stimmen-Wahlsystem. Vereinfacht formuliert hätte es dann neben den nationalen Parteilisten (für die eine Stimme) auch europäische Listen gegeben, die man mit der zweiten Stimme hätte ankreuzen können. Obwohl die Idee viele Anhänger hat, wurde sie zumindest für die jetzt anstehende Wahl noch nicht umgesetzt.
Weil die Wahl regionalen Unterschieden Rechnung trägt und damit zu einem außerordentlich bunten Parlament führt, gestalten sich Mehrheitsbildungen schwierig. Parteien mit ähnlicher Programmatik schließen sich zu Parteienfamilien zusammen und bilden entsprechend Fraktionen im Parlament. Um Europa bei der Wahl im wahrsten Sinn des Wortes ein Gesicht zu geben, stellen die Parteienfamilien seit der letzten Wahl (2014) Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten auf.
Der Platz auf der Liste entscheidet
Dessen Wahl folgt einem etwas komplexen Verfahren. Vorgeschlagen wird der Kommissionspräsident nämlich vom Europäischen Rat, also den Regierungschefs, die dabei allerdings die Ergebnisse der Europawahl zu berücksichtigen haben. Die Wahl erfolgt dann im EU-Parlament.
Aussichtsreiche Spitzenkandidaten sind der Deutsche Manfred Weber als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei sowie der Niederländer Frans Timmermans für die Sozialdemokraten. Der liberalen Kandidatin Margrethe Vestager aus Dänemark werden Außenseiterchancen auf das europäische Spitzenamt zugestanden. Manfred Weber (CSU) gehört dem Europäischen Parlament seit 2004 an, ist seit 2014 Fraktionsvorsitzender der EVP, der derzeit stärksten Fraktion. Frans Timmermans war niederländischer Außenminister, bevor er 2014 als Erster Vizepräsident in die Europäische Kommission wechselte. Margrethe Vestager ist seit 2014 EU-Wettbewerbskommissarin.
Im aktuellen Europaparlament gibt es acht Fraktionen. Die größte (216 Abgeordnete) sind Christdemokraten und Konservative (EVP), gefolgt von den Sozialdemokraten (185 Abgeordnete). Die Liberale ALDE ist mit 69 Vertretern viertgrößte Fraktion, dahinter die Grünen (52).
Konservative und EU-Skeptiker (darunter auch ehemalige deutsche AfD-Mitglieder wie Parteigründer Bernd Lucke) sind in der EKR-Fraktion, Rechtspopulisten in der EFDD (Fraktionschef ist Nigel Farage, maßgebliche Kraft beim Brexit, deutsches Mitglied ist Jörg Meuthen, AfD).
Derzeit kleinste Fraktion mit 36 Mitgliedern ist die rechtsextreme ENF, (hauptsächlich RN – ehemals Front National, sowie Lega Nord, FPÖ, Vlaams Belang und Partij voor de Vrijheid).