„Petri Heil" ist diesen Sommer in der Mode angesagt. Aber nicht nur Anglerwesten sind zum Trendteil der Saison aufgestiegen. Die Designer haben das häufig vernachlässigte Kleidungsstück Weste auch in allen erdenklichen anderen Varianten in ihren Kollektionen prominent positioniert.
Es gibt Phänomene, die sind kaum zu glauben. Eines davon ist das „Street Fishing", auch „Urban Angling" genannt, eine Freizeitbeschäftigung, die letztes Jahr in vielen Metropolen der Welt zu bestaunen war. Als Entstehungsort des Trends wurde Paris ausgemacht, genauer gesagt der Canal Saint Martin im Osten der Seine-Metropole. Dort hatten sich die ersten städtischen Hobby-Angler eingefunden, um ihre Ruten geduldig über der trüben Wasseroberflächen zu halten. In Berlin wurden 2018 die ersten Streetfisher an Spree und Landwehrkanal gesichtet, darunter auch junge Quereinsteiger, denen es weniger um Beute ging, als vielmehr um Entspannung nach einem stressigen Arbeitstag. Statt zeitaufwendig ins Grüne zu fahren, wurde sich einfach der Natur in der Stadt bedient und die City zum persönlichen Angelplatz umfunktioniert.
Denn das altmodische Hobby Angeln ist plötzlich dank Instagram wieder mega-trendy, wofür nicht zuletzt Stars wie Zac Efron, Chris Hemsworth oder David Beckham mit entsprechenden Posts verantwortlich zeichnen. Der Aufwand ist vergleichsweise gering, denn die Streetfisher brauchen keine große Ausrüstung mitzuschleppen, sondern suchen sich in Alltagsklamotten wie Jeans, Hoodie und Baseball-Kappe ein Wasserufer. Eine Bauchgürteltasche könnte für die Aufbewahrung der Köder hilfreich sein, aber auch die lässt sich sparen, wenn man eine der plötzlich auch wieder modisch angesagten Anglerwesten mit ihrer Vielzahl nützlicher Staumöglichkeiten überstreifen möchte.
Und so spannen wir den Bogen zum Thema Westen. Denn diese werden seit vielen Jahren in der Fashion-Welt schnöde übersehen, sie laufen gewissermaßen in allen Kollektionen unter dem Radar mit. Ein Verdienst der New Yorker Fashion Week für den Sommer 2019 war es denn auch, dieses vergessene Kleidungsstück endlich mal wieder auf den Catwalks ins grelle Scheinwerferlicht katapultiert zu haben. Proenza Schouler präsentierte eine klassische Lederweste, Eckhaus Latta zeige Westen mit pfiffigen Prints, Tibi setzte auf lang geschnittene Pieces im Oversize-Format. Diese Tatsache hatte die New Yorker Newcomer-Influencerin Audree Kate gleich zum Anlass genommen, auf ihrem Blog ein Revival der Weste für 2019 vorauszusagen.
Plakativ aufgenähte Taschen
In den weltweiten Fashion-Medien wurde bei der gelegentlichen Erwähnung des Westen-Revivals in Damen- und Herrenmode gleichermaßen aber fast nur eine Variante des Kleidungsstücks in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Nämlich die sogenannte Utility Vest oder Utility Gilet (letztere Bezeichnung stammt von Star-Designer Virgil Abloh). Dahinter verbirgt sich eine Weste, die von militärischen Vorbildern inspiriert wurde und auf den martialischen Namen „Gun Holster Harnesses" getauft wurde. Solche Modelle haben Louis Vuitton, Fendi, Gucci, Alexander McQueen, Sacai oder Prada. Aktuelle pfiffige Blazer-, Strick-, Sweater- oder auch Jeans-Westen wurden hingegen kaum der Erwähnung für wert befunden.
Hierzulande konzentrierten sich die modischen Journale und Online-Portale allein auf die Anglerweste. Laut dem People-Magazin „Die Bunte" nicht gerade stylishe Teile, aber in der neuen Umsetzung funktional. „Keine Frage ‒ schön ist die Anglerweste nicht", so die „Bunte" zu dem von ihr als „kurioses Fashion-Teil" bezeichneten Trendstück, „Dafür aber funktional und praktisch. Dieses einmalige Fashion-Stück bietet je nach Beschaffenheit des Stoffes einen perfekten Schutz gegen Wasser und ist zugleich mit zahlreichen offensichtlichen und teils auch versteckten Taschen versehen" – und somit ideal zum Verstauen von Kleinkram wie Lippenstift, Smartphone, Schlüssel oder Kleingeld. Die Handtasche kann daher getrost mal zu Hause gelassen werden, Handfreiheit ist schließlich angesagt. Anglerwesten können gewissermaßen als Alternative zu den wieder begehrten Gürteltaschen angesehen werden.
Das Magazin „In Style" pflichtet der „Bunten" in Sachen optischem Missvergnügen bei: „Ihr dachtet, Funny Packs und Cargohosen sind die einzigen ‒ nun ja ‒ hässlichen Fashion Pieces, die zum absoluten Trend mutieren? Dann liegt ihr falsch: 2019 wird das Jahr der Anglerwesten! Ja, ehrlich wahr. Klar haben auch wir zunächst die Nase gerümpft und ungläubig geschaut. Aber die vielen coolen Streetstyles geben dem Fashion Piece recht: Cool gestylt, sieht es echt mega aus." Über Letzteres kann man sicherlich streiten, aber da Prada in der Damenmode in Sachen Anglerwesten mit plakativ aufgenähten Taschen so etwas wie den Vorreiter gemacht hatte und auch Labels wie Fay oder Sacai entsprechende Modelle in ihren aktuellen Kollektionen führen, dürfte das Trend-Potenzial ausreichend belegt worden sein. Mit etwas gutem Willen könnten auch einige Chanel-Westen dank ihrer Taschen-Vielzahl in die Kategorie eingereiht werden.
Die Anglerweste wurde übrigens von der Tochter des aus Augsburg stammenden jüdischen Ehepaares Paul und Marie Lamfrom erfunden, die 1937 aus Nazi-Deutschland geflüchtet waren und in den USA eine Hutfabrik übernommen und in ein florierendes Outdoor-Clothing-Unternehmen namens Columbia verwandelt hatten. 1960 hatte Gertrud „Gert" Boyle die Fischerweste erstmals auf den Markt gebracht, sie fand in den USA unter Hobby-Anglern reißenden Absatz. Die Geschichte der Weste im Allgemeinen reicht allerdings viel länger zurück. Sie tauchte um 1675 in der Herrenkleidung als Unterjacke zum Justeaucorps auf und war letztendlich aus den Vorgängern Wams, das ursprünglich nur zur Polsterung unter der Ritterrüstung getragen wurde, und einem ärmellosen Obergewand namens Gilet hervorgegangen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde sie immer kürzer, von knielang über hüftlang bis schließlich nur noch taillenlang. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert war sie zwingender Bestandteil des Männeranzuges. Westen für Damen wurden erst im späten 19. Jahrhundert gebräuchlich.
Bei den Herren nie aus der Mode
Dass aktuell nicht nur Utility-Westen die Aufmerksamkeit der Fashionistas verdienen, beweisen beispielsweise Isabel Marant mit originellen Denim-Varianten, Anna Sui oder Roberto Cavalli mit pfiffigen Boho-Print-Teilen, Phillip Lim oder Lorena Antoniazzi mit fast bodenlangen Pieces oder Calvin Klein mit knielanger Hahnentritt-Muster-Variante oder einer Metallic-Umsetzung. Miu Miu oder Miaoran haben Tartan-Gilets in ihren Kollektionen, Etro eine Faux-Fur-Jacquard-Weste, Dorothe Schumacher eine Federweste, Olympiah eine griechisch-antikische Gilet, Kobi Halperin ein Animal-Print-Stück, Isaac Sellam eine ärmellos-sportive Zipper-Jacke und Saint Laurent ein Lammfell-Piece. Die breite Palette von Sweater-Westen nicht zu vergessen, die wir im aktuellen Sortiment und auch schon in der Kollektion für den Winter 2019/2020 bei Marken wie Gucci, Versace, Burberry oder Kenzo entdecken konnten.
In der Herrenmode war die Weste nie ganz verschwunden. Auch wenn sie es als fester Bestandteil des klassischen Dreiteilers in den letzten Jahren im Zuge des Sportswear- und Athleisure-Hypes immer schwerer hatte. Sie verdankte ihr Überleben letztlich der Emanzipation vom Anzug. Sprich, sie wurde von Männern, die noch Wert auf Eleganz legten, immer häufiger solo getragen. Im Freizeitbereich war die Weste ohnehin nie gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Daher ist es wenig überraschend, dass diesen Sommer viele Designer wieder Jägerwesten (Rick Owens oder Cottweiler) und auch Anglerwesten (beispielsweise von White Mountaineering) in ihrem Sortiment führen. Ob jemand allerdings dazu bereit ist, für die Gucci-Fischerweste schlappe 1.500 Euro auszugeben, ist eine andere Geschichte. Auch die militaryähnlichen Utility-Westen von Junya Watanabe, Louis Vuitton, Off-White oder Alyx sind nicht gerade zum Schnäppchenpreis zu bekommen.