Wenn in Wimbledon wieder Erdbeeren zum Tennis auf Rasen serviert werden, streben die Profis nach weiteren Sahnehäubchen auf ihren Karrieren. Gewinnt „Maestro" Roger doch noch seinen 21. Grand-Slam-Titel?
Von Paris über Stuttgart, von ’s-Hertogenbosch bis nach Halle und Wimbledon, wo vom 1. bis zum 14. Juli die Tennistouren der Profi-Verbände WTA und ATP ihre Saisonhighlights im Grünen feiern: So sah in diesem Jahr für viele der Aufstreber-Generation der Weg vom Sandplatz-Grand-Slam zum traditionsreichen Spitzenturnier auf Rasen, im legendären Tennisclub im Londoner Vorort, aus.
Matchpraxis sammeln schien für die Angreifer erfolgversprechender denn je zu sein, seit Roger Federer 2003 zum ersten Mal in Wimbledon gewann. Denn der neunmalige Champion schied im vergangenen Jahr bereits im Viertelfinale gegen Kevin Anderson aus. Heuer unterlag „King Roger" auf seiner Grand-Slam-Tour gegen Shootingstar Stefanos Tsitsipas im Achtelfinale der Australian Open. In Paris musste der Schweizer gegen den Sandplatzkönig Rafael Nadal im Halbfinale klein beigeben. Federer ärgerte sich bei seinen Matches schnell, schoss sogar einen Wutball ins Publikum. Beim nachfolgenden Rasenturnier wittern nunmehr Junge und Ältere aus der Warteschleife ihre Chancen auf einen Grand-Slam-Titel. Sie wollen dem 37-Jährigen die begehrteste Ruhmesschüssel der Tennistour in diesem Jahr nicht ohne Gegenwehr überlassen. Dafür müssen sie allerdings am Vorjahressieger, Novak Djokovic, vorbei. Über die Nummer eins der Tenniswelt sagte der ATP-Welt-Vierte, Dominic Thiem, vor seinem Halbfinalsieg in Paris bei Eurosport: „Novak spielt das beste Tennis seines Lebens. Er ist schwer zu schlagen".
Bei den Damen entwickelt sich das Feld immer offener: Erfrischende Abwechslungen prägen Turniersiege und Top-Ten-Ränge. Sehr junge Spielerinnen sind immer öfter extrem fit und stark. Aus deutscher Sicht richten sich die Augen besonders auf Ü30-Spielerinnen, nämlich Angelique Kerber, die im vergangenen Jahr ihren Karrierehöhepunkt mit ihrem ersten Wimbledon-Titel feierte, und Julia Görges, die im Halbfinale ausschied. Nach ihrem Trainerwechsel läuft es bei der Kielerin Kerber allerdings nicht optimal. Dennoch ist das Rasenturnier unter den Augen und Hüten von Royals und Promis immer für Überraschungen gut. Die Engländerin Johanna Konta, die – wie 2017 in Wimbledon – 2019 in Paris bis ins Halbfinale kam, ist bei ihrem Heimturnier Mitfavoritin. So wie Naomi Osaka als aktuelle Nummer eins, Ashleigh Barty, die im Jahresverlauf beste Spielerin war, Marketa Vondrousova, die 20-jährige French-Open-Finalistin, und Rekordsiegerin Serena Williams.
Willensstark spielen aktuell die Metzingerin Laura Siegemund und die Darmstädterin Andrea Petkovic, die in Paris von ihrem Freund, einem Geiger, begleitet wurde und beschwingt kämpfte. So bot die einstige Top-Ten-Athletin bei den French Open gegen die extrem schwer spielbare Taiwanesin Hsieh Su-Wei alles auf, um mit 4:6, 6:3, 8:6 wie im Vorjahr die dritte Runde zu erreichen. Petko sagte nach ihrem Marathon-Sieg ganz souverän: „Ich glaube an mich." Außerdem kündigte die Darmstädterin an: „Ich werde auf alle Fälle dieses und nächstes Jahr noch spielen, wenn ich gesund bleibe. Und dann werde ich mir meine Gedanken machen." In Runde drei war auch für die 31-Jährige Endstation, als letzte der sieben deutschen Tennisspielerinnen im Stade Roland Garros. Dort traf sie auf die spätere Turniersiegerin, die Australierin Barty. Fortsetzung folgt in Wimbledon.
„Novak spielt das beste Tennis"
„Ich fühle mich mit jedem generell auf Augenhöhe", sagte die deutsche Nummer eins, Alexander „Sascha" Zverev, bei seinem Abgang aus Paris. Der Umstieg von Sand auf Rasen, auf dem sich Tennis ganz anders anfühlt, muss hart erarbeitet werden. Gerade auch von den French-Open-Rückkehrern. Heuer durfte sich Zverev nach seinem Viertelfinal-Aus in Paris glücklich schätzen, dass er noch eine Last-Minute-Wildcard in Stuttgart ergatterte, um sich möglichst viel Matchpraxis für das hochgeschätzte Grand Slam in England zu holen. Soweit der Plan: Praxis statt Pause.
Was vor den French Open mit Zverevs überraschendem Start und Sieg in Genf sehr gut funktionierte, klappte auf schwäbischem Rasen nicht. Ein Tennis-Akrobat sprang mit unkalkulierbaren Zauberschlägen über Zverevs Augenhöhe hinweg: Dustin Brown, ein genial variantenreich spielender und springender Spieler. Er ist aktuell die deutsche Nummer zehn und zauberte sich nach längerer Leidenszeit endlich wieder einmal erfolgreich durch Qualifikation und die ersten zwei Hauptrunden. Der 34-Jährige hatte feuchte Augen, strahlte und freute sich nach seinem Dreisatzsieg über Zverev bei Sky: „In den vergangenen zwei Jahren musste ich immer wieder aufgeben oder war nicht gut. Wenn ich gut war, war ich gleich wieder verletzt und jetzt dieser Erfolg." Im zweiten Satz entfuhr seinem 22-jährigen Gegner zwischendurch sogar ein: „unbelievable!", also „unglaublich". Ähnlich ungläubig schaute Ivan Lendl, Saschas Supertrainer, als sein Schützling wieder einmal einen Doppelfehler produzierte. In Stuttgart war er erstmals in dieser Saison an seiner Seite. Diese Kardinalsuntugend in Zverevs Saison 2019 war der einstigen Tennislegende wohl während seiner Golfpartien im fernen Florida entgangen.
Doch pünktlich zur Rasensaison war der Pollenallergiker da. Speziell für das Grand-Slam-Event auf Grün in Wimbledon, bei dem einst Boris Becker mit 17 Jahren seinen ersten Titel holte. Der Triumph, der zusammen mit Steffi Grafs grandiosen Erfolgen einen Mega-Tennisboom in Deutschland auslöste, lange bevor Rafael Nadal, Federer und Djokovic zu kaum schlagbaren Rekord-Titelabräumern wurden, speziell bei den Sommer-Grand-Slams French Open und Wimbledon.
Eine Mauer aus Entschlossenheit und pedantischer Vorbereitung verkörpern die ersten Drei der Tennis-Weltrangliste, auch wenn sie alle ihren 30. Geburtstag mehr oder weniger lange hinter sich gelassen haben. Siehe Paris 2019. Obwohl mit elf Männern so viele Deutsche wie seit Langem nicht mehr bei den French Open angetreten waren, konnten sie diese Mauer auch mit geballter Kraft nicht überwinden. Yannick Hanfmann kam gegen Roland-Garros-Rekordsieger Nadal ebenso wenig weiter wie Yannick Maden, der den Spanier durchaus strapazierte. Seine zweite Finalniederlage in Folge erlebte der Österreicher Thiem im Finale der French Open sichtlich schmerzlich, obwohl er Sandplatztennis wie aus einer anderen Dimension zeigte. Und doch – wie im vergangenen Jahr – die Krone wieder nicht von Nadal übernehmen durfte. Der Spanier machte stattdessen das Dutzend seiner Triumphe auf der roten Asche des größten Tenniscourts der Welt voll. Auch mit 33 Jahren ließ sich der eigentlich verletzungsanfällige Sandplatzspezialist den „Coupe des Mousquetaires" nicht vom 25-jährigen Thronfolger entreißen. Dem entfleuchte im vierten Satz denn auch ein deftiger Ausdruck der Ungläubigkeit, in österreichischem Idiom: „Ja, leck mi …" Verwunderung bekundete auch Thiems Bezwinger nach dem Spiel, wobei Nadal eine Niederlage sicherlich unerhört befremdet hätte: „Es ist unglaublich", sagte der akribisch agierende und trainierende Spanier einmal mehr nach einem gewonnenen Grand-Slam-Titel auf Sand.
Wie ist Kerber in Form?
In Wimbledon ist vor allem mit Federer, der angriffslustig an seinem 21. Grand-Slam-Titel strickt, und Djokovic, der noch ein paar Titel braucht, um seine Hauptkonkurrenten einzuholen, und deshalb zur Entspannung in den Regenpausen handarbeitet, als Favoriten zu rechnen. Umso härter arbeiteten beispielsweise Karen Khachanov, Gaël Monfils, Milos Raonic, Daniil Medvedev, Felix Auger-Aliassime, Denis Shapovalov, Gilles Simon, Jan-Lennard Struff, Philipp Kohlschreiber und Peter Gojowczyk, die neben anderen zum Mercedes Cup nach Stuttgart eilten, an ihrer Form. So wie auch Sascha Zverev. Der nach einem Freilos und seinem ersten Match gleich wieder draußen war: im deutsch-deutschen Duell gegen Publikumsliebling Dustin Brown. Somit hatte er Zeit fürs Training mit dem endlich angereisten Lendl für Wimbledon, der zu seiner Zeit Wimbledon allerdings nie gewinnen konnte.
Während der French Open telefonierte Sascha regelmäßig mit seinem Ferntrainer, aber immer nur für ein paar Sekunden. Knappe Strategiebesprechungen, weil Lendl dann schon wieder auf dem Golfplatz gefordert war, wie Zverev berichtete. Dennoch hielt die deutsche Nummer eins in Paris bis zum Viertelfinale durch, scheiterte dort erst an einem der großen Drei, nämlich Djokovic. Boris Becker, der Zverev in Paris anfangs heftig kritisierte, tröstete ihn nach der Pleite: „Er sagt, er sei mit jedem Spieler auf Augenhöhe. Da hat er recht. Er ist enttäuscht, geht auf Rasen. Er wird mit diesem Gefühl vielleicht weiterkommen." Von Djokovic war Jan-Lennard Struff bereits im Pariser Achtelfinale bezwungen worden. Bitter, aber kein Grund zum Verzweifeln, nachdem sich der Warsteiner zuvor extrem gut präsentiert hatte. Wie insgesamt in dieser Saison. Unter anderen besiegte „Struffi" den griechischen Aufsteiger Stefanos Tsitsipas, Marin Cilic, Nick Kyrgios und Sascha Zverev, mit dem er auch gerne trainiert. Mit 29 Jahren scheint er in seinem persönlichen Leistungsfrühling rund um die Geburt seines ersten Kindes zu sein. In Stuttgart kam der viel bejubelte Hüne, der jegliche Schüchternheit abgelegt hat, ohne Satzverlust ins Halbfinale. Kein Zweifel: Struffi hat sich mit Rasen wieder angefreundet.
Das heißt, mentale Stärke gewinnt, besonders bei den Grand Slams. Das immerhin kann Lendl Zverev lehren. Vielleicht können die mehr oder weniger erfahrenen Ballkünstler aus Deutschland die Big-Three-Mauer in Wimbledon ein wenig zum Wackeln bringen. Und Kerber sich noch eine zweite Schüssel holen. Es ist wieder Erdbeerzeit!