Boris Johnson verkauft nur Illusionen – genau wie Donald Trump
Die Briten galten lange Zeit als Inbegriff des Pragmatismus. Wutausbrüche, aufgeheizte Ideologien, verrückte Ideen: Fehlanzeige. „Common Sense" – der gesunde Menschenverstand – war der Maßstab. Und wenn es einmal wirklich hoch herging, hieß das Allheilmittel: „Keep cool and carry on" – Nerven behalten und weitermachen.
Das war einmal. Die britische Politik der Gegenwart besteht aus Showeinlagen, Intrigen und der Lust am Untergang. Das Parlament ist kein Ort für substanzielle Debatten über die Zukunft des Landes, sondern eine Krawallbühne. Raus aus der EU – koste es, was es wolle, lautet der Schlachtruf an allen Ecken und Enden. Eine überschaubare Zahl von Brexit-Fanatikern hat nicht nur die Konservative Partei, sondern die Volksvertretung und das ganze Land gekapert. Der Ausstieg aus der EU werde Großbritannien in Politik und Wirtschaft zu neuer Weltgeltung verhelfen, verspricht die Propaganda-Hymne der Brexiteers.
Der Prophet des neuen Evangeliums ist der ehemalige Außenminister Boris Johnson. Der 55-Jährige mag eloquent und gelegentlich auch witzig sein. Seine politischen Absichten sind in erster Linie destruktiv. Er bildete eine Allianz mit der oppositionellen Labour Party, die nur ein Ziel hatte: Premierministerin Theresa May aus dem Amt zu kegeln. Deren mühsam ausgehandelter Brexit-Deal mit Brüssel wurde torpediert, bis May entnervt zurücktrat.
Johnson hat nun aufgrund seiner Popularität in der Mehrheitspartei beste Chancen, Tory-Chef und Premierminister zu werden. Umfragen sagen ihm bei der Mitgliederbefragung der Konservativen einen Vorsprung von rund 70:30 gegenüber dem gegenwärtigen Außenminister Jeremy Hunt voraus. Am 23. Juli wird das Ergebnis bekanntgegeben. Doch Johnson verfügt über kein Konzept für das Gemeinwohl. Er riskiert die wirtschaftliche Talfahrt seines Landes. Ohne Zollunion und Binnenmarkt mit der EU drohen Großbritannien geringeres Wachstum, höhere Preise und die Abwanderung von Unternehmen.
Der Brexit-Fetischist Johnson verkauft Illusionen. Hinter dem Traum vom ökonomischen Aufstieg der Insel, die nur auf sich selbst gestellt ist, steckt die Nostalgie von der Wiederherstellung des britischen Empires. Vor allem Ältere, vor allem Männer hängen diesem Trugbild nach. Im Zeitalter der Globalisierung ist diese Rückwärtsgewandtheit nicht nur fahrlässig, sondern gefährlich. Die Jungen und die besser Gebildeten wissen: Die Firmen und Staaten von heute sind weltweit vernetzt, sie haben eine internationale Arbeitsteilung in Form von Lieferketten oder Kooperationen. Nationalismus und Selbst-Fokussierung funktionieren im 21. Jahrhundert nicht mehr.
Es tröstet wenig, dass Johnson nur der vorläufige Höhepunkt des totalen Führungsversagens der politischen Klasse seines Landes ist. Premierminister David Cameron hatte den kapitalen Fehler begangen, eine Schicksalsfrage wie den Brexit 2016 per Referendum in die Hände der Bevölkerung zu legen; die große Mehrheit der Menschen kann die Konsequenzen eines derart gewaltigen Schritts nicht überschauen. Seine Nachfolgerin Theresa May verstand sich nur als oberste Verwalterin des Brexits, obwohl sie eigentlich für einen EU-Verbleib war. Johnson hingegen ist ein politischer Zirkuskünstler. Seine Markenzeichen: Polemik gegen Andersdenkende und die fantasievolle Verzerrung der Realität.
Das verbindet Johnson mit einem anderen Illusionisten der Weltpolitik. US-Präsident Donald Trump arbeitet mit „alternativen Fakten". Die Wirklichkeit malt er sich zurecht. Klimawandel ist demnach eine Erfindung der Chinesen. Er will die Treibhausgase reduzieren, indem er Umweltauflagen aufhebt und das Wirtschaftswachstum ankurbelt. Eine völlig verquere Logik.
Es geht vor allem um Knalleffekte und Feindbilder. Im Atom-Streit mit Nordkorea zelebriert Trump Gipfeltreffen im Kameragewitter der Weltpresse. Dass der Machthaber von Pjöngjang, Kim Jong-un, insgeheim sein nukleares Arsenal ausbaut, wird ausgeblendet. Mit Blick auf den Iran steigt Trump aus dem bis dahin erfolgreichen Atomabkommen aus. Er will sich stattdessen wahlkampfwirksam als Muskelmann inszenieren, der den Mullahs einheizt.
Unter Boris Johnson und Donald Trump wird Politik zur Show-Veranstaltung. Beide sind mehr Politiker-Darsteller als Politiker. Die Substanz bleibt auf der Strecke.