Nahezu jeder kennt das Gefühl, keine oder nicht ausreichend Zeit zu haben. Woher kommt dieser Eindruck und liegt es nur am objektiven Zeitmangel oder vielleicht auch an uns?
Es gibt vermutlich niemanden, der das Gefühl nicht kennt: Zeitdruck. Ein Terminplan, der überquillt. Ein Schreibtisch, auf dem sich alles stapelt. Der Freund, der dringend Hilfe braucht. Und dann auch noch der Zahnarzttermin, den man fast schon vergessen hatte. Der Tag scheint einfach nicht genug Stunden zu haben. Eine Studie der Universität Maryland zum Thema Zeitdruck zeigte, dass die Hälfte aller Amerikaner das Gefühl haben, nie Zeit zu haben, und sich zwei Drittel oft oder gar immer gehetzt fühlen. Das dürfte nicht nur für die USA gelten. Bei den vollen Arbeitswochen bliebe wenig Zeit übrig für die tägliche To-Do-Liste, Sportaktivitäten, Treffen mit Freunden und Familie und den Haushalt, so die Forscher.
Auf den ersten Blick scheint es eine klare Sache zu sein: Zeitdruck ist die Folge von objektivem Zeitmangel. Man hat einfach zu wenig Zeit. Tatsächlich ist das aber nur die halbe Wahrheit. Zeitdruck ist das Gefühl, nicht genug Zeit für das zu haben, was man tun möchte. „Gefühl", „genug" und „tun wollen" sind aber subjektive Faktoren. „Die Menschen, die sich am meisten überarbeitet fühlen, die, die die wenigste Freizeit haben, tun sich das häufig selbst an", erklärt die Psychologin Cassie Mogliner. Zeitdruck hängt damit zusammen, welche Dinge wir wertschätzen und wie viel Zeit wir mit ihnen verbringen. Nicht zuletzt weisen verschiedene Studien auch darauf hin, dass Zeitdruck stark mit der eigenen Haltung und dem Mindset verbunden ist.
Was also empfiehlt die Wissenschaft bei ständigem Zeitdruck? Durch welche Maßnahmen kann man das Gefühl mindern und sich selbst weniger stressen? Und wie lässt sich objektiver Zeitdruck von dem Zeitdruck, den sich Menschen selbst machen, unterscheiden?
Zeitdruck und Mindset
Die Psychologieprofessorin Susan Roxburgh hat in verschiedenen Studien den Zusammenhang von Arbeit, Familienleben und Wohlbefinden untersucht. Dabei ist sie auf einen Befund gestoßen, der ihr Rätsel aufgab: Wenn Frauen zehn Stunden mit Hausarbeit verbrachten, fühlten sie sich gestresster als Männer, die denselben Zeitaufwand mit Hausarbeit zubrachten. Dasselbe Bild ergab sich bei der Freiwilligenarbeit und im Ehrenamt: Männer, die eine solche Tätigkeit ausübten, waren nachweislich weniger depressiv, wohingegen Frauen häufiger unter Zeitdruck gerieten und die Tätigkeit nicht im gleichen Maße genießen konnten.
Nach genauerer Betrachtung fand die Forscherin eine Erklärung für dieses Phänomen. Männer tendierten dazu, sich Hausarbeit und Ehrenämter zu suchen, die ihnen Spaß machten. Sie mähten den Rasen oder betreuten ein Fußballteam, kamen in einen Flow-Zustand und hatten hinterher das Gefühl, etwas geleistet oder erreicht zu haben. Frauen hingegen machten zumeist kleine lästige Routinearbeiten und Gefälligkeitsdienste. Ein Tag vollgepackt mit Aktivitäten, die Freude machen, fühlt sich natürlich ganz anders an als ein Tag Plackerei. Dieses subjektive Element führte also dazu, dass Frauen bei gleicher Stundenanzahl durch ihre Aktivitäten viel mehr Zeitdruck verspürten. Die Wissenschaftler raten deshalb Menschen, die starken Zeitdruck verspüren, zu überprüfen, mit welchen Aktivitäten sie ihren Tag verbringen. Ist es möglich, die eine oder andere Aktivität zu streichen, die so gar keinen Spaß macht? Oder kann man vielleicht eine neue Aktivität einplanen, die als freudvoller empfunden wird?
Warum Leidenschaft und Freude zu einem ganz anderen Zeit- und Stressempfinden führen, hat noch eine Vielzahl anderer Forscher beschäftigt. Einen Schlüssel fanden sie, als sie Angestellte dazu befragten. Wer einen Mangel an Leidenschaft empfand, gab häufig an, dass seine Ziele miteinander in Konkurrenz standen. Der Anspruch, die eigene Arbeit ganz besonders gut zu machen, erschwerte häufig, rechtzeitig nach Hause zu gehen und damit dem Wunsch nachzukommen, pünktlich zum Essen mit der Familie da zu sein. Bei besonders freudvollen und engagierten Angestellten ergab sich ein anderes Bild. Sie hatten das Gefühl, ihre Ziele würden sich gegenseitig unterstützen. Ein gesundes Abendessen und Zeit mit der Familie würden ihnen die Energie verleihen, die sie bräuchten, um auch am nächsten Tag wieder gute Arbeit zu leisten, so die Probanden.
Kontrolle über die eigene Zeit
Zeitdruck ist also nicht nur eine Frage von freudvollen oder lästigen Aktivitäten, sondern es geht auch darum, wie gut unsere Ziele in unseren Köpfen zusammenpassen. Verschiedene Studien weisen sogar darauf hin, dass Menschen, die nur über Ziele, die miteinander im Konflikt stehen, nachdenken – wie etwa Geldsparen und schöne Sachen kaufen oder Gesundsein und Fast Food essen – sich gestresster fühlen. Der australische Professor Lyndall Strazdins hat die letzten Jahrzehnte zum Thema Zeitdruck geforscht. Er ist sich sicher, dass die inneren Konflikte, die Menschen in Bezug auf ihre Zeit verspürten, nicht nur hausgemacht sind, sondern vielmehr auch auf gesellschaftliche Normen und Erwartungen zurückgehen. Die moderne Mutter etwa hätte das Gefühl, sie müsse ihre Kinder zu den unterschiedlichsten Sportaktivitäten und Hobbies chauffieren, um den Erwartungen standzuhalten. Täte sie das aber, fehle ihr die Zeit, Dinge zu tun, die ebenfalls den gesellschaftlichen Normen entsprächen, so Strazdins. Sein Kollege Tim Kaiser witzelte einst, wenn jedes Forschungsprojekt, an dem er gerade arbeite, eine Katze sei, die in seinem Haus lebte, wäre ihm klar, was für ein großes Problem er habe. Wer eine To-Do-Liste hat, die sich wie eine Gruppe Katzen anfühlt, die allesamt auf einen einzigen Futternapf warten, der fühlt sich natürlich überfordert und gestresst.
Ein weiterer Faktor, der entscheidenden Einfluss auf das Gefühl von Zeitdruck hat, ist die Kontrolle über unsere Zeit. Häufig geraten Menschen unter Zeitdruck, weil Verpflichtungen kollidieren. Ein wichtiges Meeting dauert länger, aber die Kita schließt um 16 Uhr. Der Vortrag, den man halten soll, beginnt um 9, aber der Bus ist zu spät. Wer das Gefühl hat, keine Kontrolle über seine Zeit zu haben, fühlt sich gestresst und unter Zeitdruck. Jennifer Jabs von der Cornell University hat gemeinsam mit Kollegen Mütter mit einem geringen Einkommen dazu befragt, wie sie ihre Tage verbringen und wie sie ihre Kinder versorgen, wenn es hektisch wird. Dabei haben sie herausgefunden, dass die Mütter ganz unterschiedliche Herangehensweisen hatten, mit ihrer Zeit umzugehen. Manche praktizierten den sogenannten reaktiven Stil, sie reagierten vor allem auf die Dinge, die passierten, fühlten sich unter Zeitdruck und nicht in der Lage, all die Dinge auszuführen, die sie tun sollten. Sie hatten den Eindruck, keine Kontrolle über ihre Zeit zu haben. Andere Mütter hingegen legten einen aktiven Stil an den Tag, sie konnten ihre Zeit einteilen und ihre Tage strukturieren. Es gelang ihnen auch besonders gut, ihre Zeit zu managen, weshalb sie das Gefühl hatten, mehr Kontrolle über die eigene Zeit zu haben und deshalb etwas weniger gestresst waren. Menschen beschweren sich nicht nur deshalb häufig darüber, unter Zeitdruck zu sein, weil sie objektiv viel zu tun hätten, sondern weil sie nicht über ihre Zeit verfügen könnten, so die Forscher. Dies könne sowohl mit äußeren Lebensumständen wie auch mit der eigenen Psychologie zusammenhängen. Ist letzteres der Fall, raten sie dazu, sich die eigene To-Do-Liste vorzuknöpfen und Dinge wegzustreichen, Nein sagen zu üben und auch mal einen Gefallen auszuschlagen.
To-do-Liste anfertigen
Nicht zuletzt konnten verschiedene Forschungen zeigen, dass auch Geld einen Einfluss auf Zeitdruck hat. Ein Teil davon erschließt sich auf den ersten Blick: Wer etwa mehrere Jobs hat und sich keinen Babysitter leisten kann, hat Zeitdruck. Die Wissenschaftler konnten aber zeigen, dass sich besonders Menschen mit hohem Einkommen unter Zeitdruck fühlten. Menschen, die noch reicher würden als sie es ohnehin schon waren, gerieten sogar noch mehr in Bedrängnis als zuvor. Für dieses Phänomen fanden die Forscher zwei mögliche Erklärungen. Zum einen könne es sein, dass reiche Menschen zwar sehr viel Geld hätten, aber neben ihrer Arbeit kaum mehr Zeit. Zum anderen vermuteten sie, dass reiche Menschen ihrer Zeit mehr Bedeutung zumessen. In einem Experiment boten sie Studenten an, für 1,50 Dollar oder 0,15 Dollar pro Minute zu arbeiten. Wer mehr verdiente, fühlte sich mehr unter Zeitdruck. Ähnliche Ergebnisse hatten auch Experimente mit Gut-verdienern zur Folge. Wer 100 Dollar die Stunde verdiente, hatte das Gefühl, eine Stunde Zeit gut nutzen zu müssen.
Neben objektivem Zeitdruck und äußeren Umständen beeinflusst also auch die individuelle Psychologie das Gefühl von Zeitdruck. Freude an Aktivitäten, innere Konflikte, die Kontrolle über unsere Zeit und den Wert, den wir unserer Zeit beimessen, haben Auswirkungen darauf, wie sehr wir uns unter Druck fühlen. Zeitdruck ist die Lücke, die zwischen „so würde ich meine Zeit gerne verbringen" und „so verbringe ich meine Zeit" klafft. Manche Dinge sind von uns nicht beeinflussbar, aber die Forschung zeigt: Es gibt einige Stellschrauben, an denen wir drehen können.