Seit fünf Jahren ist das „eins44" eine gute Adresse für das Casual Dining im Neuköllner Hinterhof. Küchenchef Tim Tanneberger hat sich als Gemüse-Könner positioniert und lotet die Möglichkeiten von Blatt-, Frucht- und Wurzelwerk in sieben Gängen überzeugend aus.
Wir wollen es wissen, und wir sollen es wissen. Zweimal sieben Gänge, einmal „mit" und einmal „ohne" Fleisch und Fisch. „Ihr bekommt die Getränkebegleitung mit Wein, hausgemachten Säften und Destillaten dazu", kündigt Jonathan Kartenberg, Geschäftsführer vom „eins44", an. Brände, Geiste und „Schnäpperken" als Essensbegleitung? Wir erschrecken kurz, fragen uns, ob das eine Verheißung oder Drohung ist und entscheiden uns, es sportlich und neugierig als Ersteres aufzufassen. Klar, es gibt einen Grund für diese Art der Getränkebegleitung. Wo, wenn nicht in einer ehemaligen Likörfabrik könnte so eine Kombi besser passen? „Die Deutsche Spirituosen-Manufaktur GmbH ist seit Anfang des Jahres unser Partner", sagt Kartenberg, der die Nase vorneweg hat in Sachen Getränkeauswahl. „Sie passen küchentechnisch zu uns. Sie sind sehr weit weg vom normalen Spektrum an Destillaten." Stimmt, Spargel, Muskatnuss oder Pfifferling in Alkohol sind ungewöhnlich und zeugen von Experimentierfreude. Uns werden im Laufe des Abends Schlangengurke, Bärlauch und Salbei streifen und zur Diskussion herausfordern.
Genau so soll es sein. Ich bin sehr angetan vom Schlangengurken-Geist zum angebratenen Saibling. Er ergänzt den Grundton des Fruchtgemüses sehr fein. In Senfgurken-„Reifen" haben sich ein mit Gurke angemachtes Saiblingstatar, im Kamillengewürzfond marinierte Gurke sowie Saiblingskaviar nachbarschaftlich niedergelassen. Eine Gurken-Gartenkresse-Emulsion begleitet als Soße. Senfgurkengel bringt Frische und Schinkenstaub einen Hauch Umami ins Geschehen. Die verflüssigte Schlangengurke, die sich von der Bodenseeinsel Reichenau aus auf den Weg zu uns ins Glas gemacht hat, ist ein sanfter Gefährte für die in verschiedensten Nuancen und Texturen durchgespielten Elemente. So soll das sein: Große Finesse mit Understatement präsentiert. Die Begleiterin ist mit gegrillter Karotte, Schnittlauchöl und Schnittlauchvinaigrette parallel unterwegs. Doch halt: Eigentlich ist das fluffige Käsestreifen-Hügelchen neben dem schicken Möhrchen der Hauptdarsteller. Ein österreichischer Johann-Herzog-Käse macht sich geraspelt optisch unauffällig, aber geschmacklich umso aromatischer neben der grafisch angerichteten Einzel-Wurzel breit. „Den Käse habe ich im Winterurlaub entdeckt und immer nach dem Skifahren gegessen", erzählt Tim Tanneberger. Wie sich das für einen Küchenchef mit Food-Leidenschaft gehört, brachte er den sechs Monate gereiften „Stollenkäse" gleich für die Gäste mit. Für seine Jugend gebärde sich der Käse ziemlich vollmundig, findet die Begleiterin. Er hat’s ja auch mit einem wuchtigen Gegenpart im Glas zu tun: „Flüssiges Bärlauch-Pesto!", rufe ich nach einem Probierschluck aus. Ich mag’s; sie findet’s zu heftig.
Muntere kulinarische Debatten
So munter geht’s beständig in unseren kulinarischen Debatten weiter. Der italienische Feinschmecker-Fotograf, eigentlich der Weinfreund in unserer Runde, verliebt sich in den hausgemachten Saft vom Butternuss-Kürbis mit geflämmtem Rosmarin und Kürbiskernöl. Er würde am liebsten gleich die Vorräte austrinken. Laura Frisardi, die uns im Service kenntnisreich durch den Abend geleitet „und seit Tag eins dabei ist", wie Jonathan Kartenberg verrät, schüttelt die Glasfläschchen auf, damit sich die beiden Phasen vermischen. Den Saft gibt’s zum gebratenen Römersalat mit Sellerie und grüner Tomate. Die Begleiterin ist von der Grüne-Tomaten-Espuma mit Walnussöl auf Würfelchen von grünen Tomaten angetan und vergibt inoffizielle Favoritenpunkte. Ich mag den Salat in seinen Spielarten – in Stücken und schön mit Sellerie-Essiggel und Walnussöl mariniert. Im fein austarierten Zusammenspiel von Speis und Trank beweist sich die enge Zusammenarbeit von Küchenteam und dem getränkekompetenten Service. „Oft hat Tim die Idee, aber es ist alles Teamarbeit und gemeinsame Weiterentwicklung", sagt Jonathan Kartenberg. Die ist deutlich vorangegangen, nachdem Tanneberger im Januar 2017 die Regie über sechs Personen in der Küche übernahm. Er ist ein „eins44"-Eigengewächs, war zuvor Chef de Partie. In den fünf bis sieben Gängen der Menüs kann sich der 26-Jährige austoben. Diese sind für dieses Level mit 69, 79 und 89 Euro mehr als angemessen bepreist. Begleitende Weine aus der durchdachten Karte sowie Destillate kosten als Begleitung von 40 bis 56 Euro.
„Wir können besser mit Rosenkohl als mit Luxusprodukten", umreißt Tim Tanneberger seine Küchenphilosophie. „Vor allem die Wurzelgemüse haben es mir angetan." Karotte, Sellerie, Kohlrabi und Petersilienwurzel stehen als Vertreter ihrer Gattung zurzeit auf der sommerlichen Karte. „Ich frage mich immer: Was kannst du aus einer Karotte oder einem Rotkohl herausholen?" Wie inzwischen häufig in Berlin, ist der raffinierte Umgang mit Gemüse das eigentlich Spannende. Der Küchenchef sieht Fleisch als „Unterstützer": „Ich brate etwa Gemüse gern in Lardo aus." Der gewürzte, gereifte Landschwein-Speck darf sein Aroma zugeben, sich aber nicht vordrängeln. Fleisch steht seltener im Vordergrund, so beim Flanksteak vom Great Omaha Beef mit Senfemulsion, das mit gekeimtem Roggen und einem Salätchen aus Oxalis-Klee, Blutampfer und Thymiankresse auf einem Bett von karamellisierter Heusahne gereicht wird. Sieht straight und unspektakulär aus, mundet aber hervorragend. Mit seinen Kreationen rückte Tim Tanneberger jetzt auch in den Fokus der Jury der „Berliner Meisterköche". Sie nominierte ihn – als einen von fünfen – zum „Aufsteiger des Jahres".
Bei der Petersilienwurzel spätestens bin ich endgültig im seufzenden Wohlfühlmodus. Die Wurzel wurde zunächst gedörrt, dann mit reduzierter Sahne und frischem Radicchio in einem sautierten Salatblatt zur Roulade gerollt. Eine Petersilienwurzel-Emulsion mit geröstetem Kürbiskernöl gibt den flüssigen Aroma-Booster. Ein Crumble von frischer Hefe und Kürbiskernen steuert den Knack bei. Wir speisen von beiden Menüs nun wieder dasselbe, so wie in insgesamt vier von sieben Gängen. „Die vorgegebene Speisenabfolge ist sinnvoll", sagt Tanneberger. „Unsere Gäste können nur noch wählen, welche Gerichte sie bei fünf oder sechs Gängen weglassen wollen", ergänzt Jonathan Kartenberg. Veggies sind also, wie wir selbst erleben, im „eins44" bestens bedient. Was ist mit den Veganern? Anruf vorab genügt – bis zu fünf Gänge kann die Küche dann vorhalten; spontan gehen meist vier. Vegan: gerne, aber nur, wenn das Niveau zu halten ist. Nichts läge Tanneberger ferner, als eine „Weglassen"-Küche anzubieten. Es gilt ohnehin: „Vegetarisch ist kein ‚weniger‘", sagt Tanneberger. „Im Gegenteil. Es dauert oft länger, die Gerichte zu entwickeln." Da saisonal gearbeitet wird, gehen regelmäßig ein bis zwei Gänge raus, schreibt sich das Menü stetig mit Wechseln fort.
„Vegetarisch ist kein ‚Weniger‘"
Ich kann nur empfehlen: Im Moment bitte auf keinen Fall den Stilton auslassen! Na gut, Blauschimmel-Käse sollte man grundsätzlich schon mögen. Ein Püree von geröstetem Sellerie ergänzt den cremig gepflückten Käse vollmundig, eine Apfelbalsamvinaigrette spendiert süßliche Säure. Eine spitze, anregende Kombi, auch mit den in Essigmarinade eingelegten Totentrompeten-Pilzen und einem knusprigen Gebüsch aus frittierter Petersilie obenauf. Laura Frisardi schenkt einen Salbei-Geist aus der Spirituosen-Manufaktur ein. „Es stecken ungefähr 80 Schritte darin, bis er für gut befunden wurde." Spannend! Ich bin allerdings nur theoretisch begeistert, mir ist der Salbei zu viel im Mund. „Hui, ein Hustensaft", meine ich. Findet die Begleiterin gar nicht. Sie mag die Aromawucht zum Käse. Das ist ein Hop-oder-top-Gang, der polarisiert und keine Unentschiedenheit zulässt – genau das richtige für uns.
Beim Heidelbeer-Dessert mit Liebstöckel bin ich als Süßschnabel ebenfalls voll dabei. Die fruchtige Soße und Meringuen werden vom charakteristischen Duft des „Maggi-Krauts" durchzogen. Eine schöne Sache, nicht nur für die mit Blutpfirsichpüree marinierten Pfirsichstückchen und Blaubeeren. Geröstete Mohnsaat setzt Akzente in rosafarbener „Ruby"-Schokolade. Die hausgemachte Holundersaftschorle ergänzt mit Harmonie im Glas. Doch wir sind noch nicht fertig. Ein Pralinen-Dreierlei ist das süße, komprimierte Rausschmeißerchen. Für mich hätten es von der Dill-Ganache-Praliné mit frischem Kräutlein und Saat auf der Haut auch drei von einer Sorte sein können. Dagegen hätte die Begleiterin aber etwas gehabt. Sie goutiert die Fruchtpaté vom geräucherten Paprika und Apfel. Das Raumschiffchen aus Enten-Ganache, Valrhona-Schokolade und spritzigem Timutpfeffer mögen wir beide. Kleiner Wermutstropfen, für den das „eins44"-Team aber nichts kann, war das Wetter. Es war zu kühl zum Draußensitzen. An warmen Abenden sollte man es sich unbedingt im Hof gutgehen lassen. Die hell geflieste „Gasthalle" der alten Likörfabrik im Industrial-Style ist von innen sowieso immer schön, aber ein Dinner im lichten dritten Hinterhof an der Elbestraße ein echt empfehlenswertes urbanes Erlebnis.