Bürgerinitiativen und der Volksentscheid Fahrrad in Berlin sorgen auch bundesweit für Aufsehen. Heinrich Strößenreuther, Geschäftsführer der „Initiative für clevere Städte" und Ex-Bahnmanager, hat den Entscheid mitorganisiert und kämpft gegen den Autoverkehr in Stadt und Land.
Herr Strößenreuther, über 30 Jahre Kampf für eine andere Mobilität liegen hinter Ihnen. Ist die jetzige Verkehrswende tatsächlich in Ihrem Sinne?
Tatsächlich nicht. Das, was wir in Deutschland haben, ist eine Verkehrswende, die einzig aus der Diskussion besteht, Motorhaube auf, Verbrenner raus und Elektromotor rein. Damit sei dann alles getan. Nichts ist getan, denn damit ist unseren Städten nicht geholfen. Und auch für das Klima ist nichts erreicht, da Elektroautos überhaupt erst ab 100.000 Kilometer energetisch positiv werden. Es macht auch keinen Sinn, einen SUV mit über zwei Tonnen Gewicht mit Elektromotor von A nach B zu bewegen. Was wir brauchen, ist eine Verkehrswende, die auf absolut Niedrig-Energieverkehrsmittel setzt. Das heißt, erst kommen die Fußgänger, dann das Rad, dann die E-Scooter, dann kommen die Lastenräder mit oder ohne Motor, dann Lastenrad mit Anhänger, dann so eine Art Tuk-tuk mit Batterie.
Das ist dann aber nur der Bereich der Mikromobilität. Für längere Wege in der Stadt braucht es andere Verkehrsmittel.
Ganz genau, dann kommt der zweite Teil der funktionierenden E-Mobilität. Das sind Busse, Straßenbahnen und U-Bahnen, deren Netz muss noch gehörig ausgebaut werden. Und was dann noch nicht erschlossen werden kann, da kann dann das E-Auto ins Spiel kommen, aber das spielt dann tatsächlich nur im Randbereich eine Rolle.
Was Sie uns vorgestellt haben, funktioniert realistisch nur in der Stadt. Auf dem Land hat das doch keine Chance.
Nein, natürlich nicht. Da bedeutet die Verkehrswende, dass wir zumindest mal den Bus- und Bahn-Stundentakt für jedes Dorf in Deutschland hinbekommen. In der Schweiz oder Österreich funktioniert das. Damit würde dann auf dem Land auch jedes zweite oder dritte Auto wegfallen, da sonst die Familie nicht weiterkommt. Denn die Menschen dort haben nicht aus Spaß mehrere Autos, sondern weil es schlicht und ergreifend bei Strecken über zehn Kilometern nicht anders geht.
Ist es denn aus Ihrer Sicht der richtige Weg, durch eine CO₂-Steuer mehr finanzielle Anreize zum Umstieg zu schaffen?
Ja, auf jeden Fall, denn wir haben vor allem im ländlichen Bereich weiter wachsende Kfz-Zulassungszahlen. Also dort werden es Jahr für Jahr immer mehr Autos, die immer mehr Kilometer fahren. In den Ballungsräumen und Städten dagegen haben wir seit Jahren rückläufige Kfz-Zulassungszahlen und Kilometerleistungen. Was aber nicht weiter verwundert, denn Autofahren ist in den meisten Städten tatsächlich im Sinne von Fortbewegen ja vernünftig gar nicht mehr möglich. Das sind also zwei Welten, die unterschiedliche Maßnahmen erfordern. Erstens brauchen wir eine CO₂-Steuer, die zum Umsteigen vom Auto auf Fahrrad, Bus oder Bahn anregt. Zweitens muss das Geld aus dieser CO₂-Steuer genutzt werden, um alternativen Verkehre dann weiter auszubauen, vor allem auf dem Land. Und übrigens: Die paar E-Scooter sind ein Tropfen auf den heißen Stein und ganz nett für die Stadt, bewirken aber bei der CO₂-Bilanz fast nichts, bestenfalls im Promillebereich.
Aber in den Städten geht es ja auch um den nötigen Platz für zusätzliche Mikromobilität, der nicht vorhanden ist, Frankfurt am Main zum Beispiel hat die E-Scooter verboten.
Da darf man sich nicht in die Irre führen lassen, der Platz, der Stadtraum ist ja da. Er ist halt nur dem Autoverkehr gewidmet. Schmeißen sie in Frankfurt die parkenden Autos raus, dann ist ohne Ende Platz für E-Scooter, Fahrräder oder schnelle Busspuren. Solange aber Autofahrer das Privileg genießen, das sie mit den größten SUV umsonst jeglichen Platz in der Stadt beanspruchen dürfen, solange muss um jeden Quadratmeter Stadtraum für die Verkehrswende gekämpft werden. Das Problem liegt nicht bei E-Scootern oder Fahrrädern, sondern bei dem egozentrischen Platzbedarf der Autofahrer. Den Platz CO₂-effizient nutzen, das ist die Devise.
Braucht es da also eine Entweder-oder-Lösung, entweder Autos oder Fahrräder und Kleinfahrzeuge in der Innenstadt?
Man muss sich die Verkehre anschauen und differenzieren. Im Entfernungsbereich von fünf bis zehn Kilometern ist die Mikromobilität die einzig richtige Lösung. Dafür muss man die Autofahrer so schnell wie möglich vom Auto auf den E-Scooter oder das Fahrrad locken. Doch dafür braucht es auch sichere Wege für diese Mikromobilität. Das heißt, die Stadtplaner, die bislang Schnellstraßen und Autobahnen entworfen haben, müssen jetzt Radschnellwege und vor allem sichere Wege für alle Alternativen zum Auto bauen. Sind die sicheren Wege da, steigen die Leute schneller um. Wird den Autofahrern ihr überkommenes Vorrecht auf Platz weggenommen, passt sich der Verkehr an, der Umstieg wird attraktiver. Man muss mit diesem Stadtumbau nur anfangen, Absichtserklärungen allein helfen nicht.
Sie pochen auch darauf, die Mobilitätswende sozial zu gestalten. Wie stehen Sie zu der Frage des kostenlosen ÖPNV, als Verlängerung der letzten Meile, die man mit Rad oder Roller zurücklegt? Ist das sozial gerecht?
Die Antwort ist ganz einfach: Solange wir in der Stadt kostenloses Parken anbieten, solange müsste kostenloser ÖPNV eine Selbstverständlichkeit sein. Allerdings: ÖPNV ist auch eine Leistung. Was nichts kostet, ist bekanntlich nichts wert, und auch im ÖPNV wird Energie verbraucht. Darum finde ich den Weg, jeden Tag einen Euro für den ÖPNV zu verlangen, den richtigen Weg. Das, was in Wien an der Tagesordnung ist, wird nun in Berlin auf unsere Initiative hin vorbereitet: das 365-Euro-Ticket. Statt den giftigen Diesel zu subventionieren, sollten wir 365-Euro-Tickets einführen und den ÖPNV in Land und Umland ausbauen. Das ist finanziell ohne Probleme zu bewältigen, wenn Subventionen für den Autoverkehr gekürzt werden und dieses Geld in den ÖPNV gesteckt wird.
Münster, Tübingen oder Freiburg zeigen doch laut ADFC-Ranking schon ganz gut, dass es geht. Was können andere Städte in Deutschland von diesen Vorbildern lernen?
Ich will den Radverkehr in den genannten Städten um Gottes Willen nicht kleinreden, aber das hat oft wenig mit Radwegebau zu tun. Die dortigen Studenten haben sich das voneinander abgeschaut, wie man am besten von A nach B kommt, nämlich mit dem Fahrrad. Die Städte sind dann dieser überwältigenden Bewegung nachgekommen und haben im Stadtverkehr entsprechend reagiert. Andere Städte lernen von Berlin und dem Volksentscheid Fahrrad, der im Mobilitätsgesetz gemündet ist. Bereits 15 Städte haben inzwischen selber Volksentscheide zum Fahrrad erfolgreich durchgeführt. Von Berlin ging ein Zeichen in die Republik aus, dass als Welle die Regierenden zur nachhaltigen Mobilitätswende zwingt.
Wie sehen Ihre ideale Stadt und Ihre ideale Mobilität in 20 Jahren aus?
Wenn ich das am Beispiel Berlin erläutere, wo ich wohne, dann sind das viele „Mikro-Dorf"-Strukturen. Also Wohnbereiche, in denen es keinen Kfz-Verkehr gibt, wo auch keiner durchfahren kann. Kinder können dann wieder auf der Straße Fußball spielen, das Leben der Menschen ist auf die Straßen zurückgekehrt. Da, wo heute Autos den Raum zuparken, ist zukünftig dann wieder Aufenthalts- und Lebensfläche. Drumherum bewegen sich die Menschen mit ihren Mikrogefährten, E-Scootern, Fahrrad und so weiter. Und darum herum gibt es dann die Magistralen, auf denen der elektrische ÖPNV fließt. Und geplant wird in meiner Stadt der Zukunft immer vom Fußgänger über den Radfahrer und den ÖPNV nach außen hin bis zum Schluss, zu den umwelt- und klimaschädigenden Autos.