Ob eine Schifffahrt über den schönen Lago Maggiore, ein Spaziergang durch die malerischen Altstadtgassen von Locarno, mit der Seilbahn oder zu Fuß auf die Berge oder zu ursprünglichen Tälern – in dem Schweizer Kanton lassen sich viele Urlaubsträume verwirklichen.
„Lass uns träumen am Lago Maggiore", sang 1950 Rudi Schuricke, und das blieb lange Zeit nur ein Sehnsuchtssong. Heutzutage ist das leichter zu realisieren. Doch bestens träumen lässt es sich dort nach wie vor. Nicht nur im italienischen Teil des Lago. Auf der Schweizer Seite, im Kanton Tessin, lassen sich in Locarno und Ascona viele Urlaubsträume verwirklichen.
Sanft schunkelnd warten die Ausflugsschiffe ab 8 Uhr auf die Passagiere. Doch viele schlürfen erst mal auf einer Terrasse einen Cappuccino und bewundern danach in Locarno das Castello Visconteo von 1342. Das um 1500 hinzugefügte Bollwerk könnte, so meint man, Leonardo da Vinci geplant haben.
Andere Gäste joggen morgens gern am Seeufer entlang zu den Giardini Jean Arp, einer dem Bildhauer Hans Arp gewidmeten Grünanlage. Seine gerundeten Skulpturen, locker auf dem gepflegten Rasen verteilt, passen zur entspannten Atmosphäre.
Auf dem Monte Verità lebten bis 1920 Aussteiger aller Art
Nun aber geschwind zum Dampfer, um den Tag gut zu nutzen. Eine Gruppe aus Hongkong hat bereits Platz genommen. Die reisefreudigen Asiaten wollen ebenfalls das echt grenzenlose Vergnügen genießen, das der Lago Maggiore bietet. Der kleine feine Unterschied zwischen Nord und Süd: „Auf der Schweizer Seite kann man das Wasser aus der Leitung trinken", lacht ein Tessiner. Nach zwei kurzen Stopps steuert das Schiff das malerische Ascona an. Im Sonnenlicht leuchten die bunten Häuser – lauter kleine Hotels – an der Uferpromenade. Im Hintergrund warten bewaldete Hügel und Gipfel mit Schneemützen auf Wanderer und Kletterer.
Einige Passagiere, die hier aussteigen, streben zu den gedeckten Tischen, andere zum Monte Verità, dem Wahrheitsberg. Mit 321 Metern Höhe ist er eher ein Hügel, doch mit historischem Hintergrund. Dorthin zogen sich von 1900 bis 1920 alternativ Lebende und Aussteiger aller Art zurück, auch Künstler und Psychoanalytiker, um sich mit FKK, freier Liebe und vegetarischer Ernährung den Traum vom Paradies auf Erden zu erfüllen. Die glücklichen Nackten hat Elisar von Kupfer auf einem Rundbild verewigt, das gerade restauriert wird. Im Frühjahr 2020 ist es wieder zu sehen.
Der Traum vom Glück platzte jedoch. 1920 ging die Kommune in Konkurs und zerstreute sich. Überdauert hat ein Hotel im Bauhausstil. Baron Eduard von der Heydt, der den Pleite-Berg gekauft hatte, ließ es 1927 von Emil Fahrenkamp erbauen. Bald folgte den Aussteigern eine andere Klientel: die Politiker Gustav Stresemann und Konrad Adenauer, die Künstler, Richard Strauss, Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann und Paul Klee sowie die Ausdruckstänzerinnen Mary Wigman und Isadora Duncan. Von der Heydt vermachte schließlich den Monte Verità dem Kanton Tessin. Neuere Magnetfeldmessungen haben ergeben, dass der Berg ein Kraftort ist. Die traumhafte Aussicht von dort auf den Lago Maggiore kräftigt auf alle Fälle.
Wer mehr sehen möchte, steigt nun wieder ins Schiff, um die Brissago-Inseln zu erkunden. Die größere der beiden erwarb 1927 der Hamburger Kaufhauskönig Max Emden von der verschuldeten Baronin Antoinette Saint-Léger. Der von ihr 1885 angelegte Botanische Garten hat sich unterdessen zu einer Wohlfühloase mit Gewächsen aus allen Kontinenten und verträumten Bronze-Beautys unter Palmen entwickelt. Die klassizistische, fein möblierte Villa, die sich Emden errichten ließ, heißt nun „Hotel Villa Emden". „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?" dichtete Goethe und meinte Italien. Auf den Tessiner Brissago-Inseln reifen sie sogar.
Zurück in Locarno erstaunt die abendliche Ruhe in den gemütlichen Altstadtgassen. Eine junge Frau spaziert noch durch den Hofgarten der „Casa dei Canonici", erbaut im 16./17. Jahrhundert. Doch in der Hochsaison pulsiert dort das Leben, vor allem auf der Piazza Grande, in den dortigen Shopping-Arkaden und ganz besonders beim Locarno Film Festival. Dann sitzen Cineasten aus aller Welt Stuhl an Stuhl, genießen Kino unterm Sternenhimmel und bewundern ihre Stars auf der Riesenleinwand. Nur wenige Schritte weiter, in der barocken Chiesa Maria Assunta (Kirche Maria Himmelfahrt), auch Chiesa Nuova genannt, ist die Madonna der Star auf dem kostbaren Deckengemälde.
Mehr an solchen Eindrücken – jenseits von Baden und Bräunen – möchten heutzutage zahlreiche Tessin-Urlauber sammeln. Sie wollen auch Dinge tun, für die daheim wenig Zeit oder Gelegenheit ist. Bei den einen stehen Wandern und Biken auf der Wunschliste, bei anderen Kultur tanken und besondere Kirchen anschauen, um so neue Kräfte für Leib und Seele zu gewinnen.
Oft lässt sich das auch kombinieren. Etwa an und auf dem 1.700 Meter hohen Monte Generoso, dem Lieblingsberg der Tessiner. Bei klarem Wetter ist von dort oben das Matterhorn zu sehen.
Madonna ist der Star in der barocken Chiesa Maria Assunta
Eine weitere Attraktion ist hier das von Stararchitekt Mario Botta entworfene Bergrestaurant „Steinblume", auf Italienisch „Fiore di pietra". Die kantigen konkaven Türme lassen den modernen Bau wie eine sich öffnende Blüte wirken, und intensiv nehmen die Fenster das Blau des Himmels auf. In seiner Jugend sei er zusammen mit Freunden in Sommernächten auf den Monte Generoso gestiegen, erzählte Botta in einem Interview. Heutzutage erledigt das in 40 Minuten die rote Zahnradbahn ab Capolago. Sportliche Zeitgenossen steigen jedoch unterwegs aus und gehen die letzten Kilometer zu Fuß. Den indirekten Wettstreit um das blauste Blau gewinnt – wieder im Tal angekommen – der Luganer See. Postkartenromantik ist gar nichts gegen das Bild, das sich am späten Nachmittag bietet. Eine neue Treppe führt danach aus dem modernisierten Bahnhof Richtung See. Der Turm der Kathedrale, der aus dem Grün hervorlugt, dient als Wegweiser.
Eine weitere Kraftort-Kombination von Berg und Bauwerk ist der 1.960 Meter hohe Monte Tamaro. „Berg der Emotionen" steht übersetzt auf dem Seilbahnticket, und da ist tatsächlich was dran. Gerade rückt an der Talstation in Rivera eine Schulklasse an, die sich oben im Abenteuergelände und auf der Sommerrodelbahn austoben will. Direkt unterhalb der Bergstation schwingen sich die Gleitschirmflieger in die Lüfte.
Andere zieht die Kapelle Santa Maria degli Angeli, erbaut 1996, in ihren Bann. Ein reicher Unternehmer – Egidio Cattaneo – hatte sie von Mario Botta entwerfen lassen. Es ist ein Bau in Erinnerung an seine verstorbene Frau Mariangela, ein steinerner Liebesbeweis. Der turmlose Bau aus rotbraunem Porphyr passt sich dem Umfeld an. Wer oben auf der Rampe entlanggeht, meint, die Berggipfel gegenüber greifen zu können und fühlt sich fast auf dem Weg in die Unendlichkeit. Treppen führen nach unten in die Kapelle. Die vom Monte Tamaro über mehrere Gipfel führende viereinhalbstündige Wanderroute zum 1.624 Meter hohen Monte Lema, mit Blick auf den Lago Maggiore, den Monte Rosa und das Matterhorn, macht auch Bergsportler glücklich. Und schließlich lockt noch das Maggiatal (Valle Maggia), das zu den ursprünglichen Tessiner Tälern zählt. Nach vielen Serpentinen im Auto oder per Bus kommt das Bergdorf Mogno in Sicht. Dort ist die ebenfalls von Mario Botta entworfene Kirche das Ziel der Kulturfans aus nah und fern. Das 1996 errichtete spektakuläre Gotteshaus ersetzt die durch eine Lawine zerstörte frühere Kirche. Ein mit Gras bedeckter Wall schützt nun den Botta-Bau vor weiteren Lawinen, weiß Experte Urs von der Crone. „Der Grundriss ist eine Ellipse, etwas Unvollkommenes. Bis zum Dach verwandelt sie sich in einen Kreis, ins Vollkommene", fügt er hinzu. Drinnen faszinieren die kühnen Verstrebungen.
Speisen im beliebten Felsenrestaurant
Doch die verwitterten Häuser darum herum stehen leer, die Bewohner haben das Dorf verlassen. Dennoch kommen Paare nach Mogno – und auch zur Kapelle Santa Maria degli Angeli auf dem Monte Tamaro –, um in diesen von Mario Botta entworfenen Kirchen zu heiraten. Bei entsprechender Voranmeldung ist das möglich und bleibt sicherlich ein unvergessliches Erlebnis.
Wer nach dem Besuch in Mogno durch das Maggiatal zurückfährt, wird im „Antico Grotto Mai Mourire" in Avegno, einem der beliebten Felsenrestaurants, auf angenehme Art satt. Regionale Küche wie von früher wird dort geboten. Die Polenta mit Steinpilzen, begleitet von einem Tessiner Merlot, wird zum Hochgenuss. Direkt in der Grotte sitzen die Gäste heutzutage nicht mehr. Die kühlen Höhlen dienen als Lagerräume. Diese Landgerichte, früher typisch als Speisen für die Armen, machen nun in verfeinerter Form im Tessin Karriere. Selbst Sterneköche besinnen sich auf das Ursprüngliche.