Während manche Menschen gerne alleine sind, leiden andere unter chronischer Einsamkeit. Eine Diagnose, die immer öfter gestellt wird und sowohl Seele als auch Körper angreift.
Sitzen sei das neue Rauchen, unsere Nahrung enthalte zu viel Zucker, und zu wenig Schlaf stelle ein großes Gesundheitsrisiko dar. All das haben die Gesundheitskampagnen der letzten Jahre den Menschen nähergebracht. Dabei habe man jedoch die gefährlichste aller Zivilisationskrankheiten übersehen, glaubt der Hirnforscher und Bestsellerautor Manfred Spitzer. Einsamkeit sei eine Gefahr für Leib und Seele und sie könne sich in den reichen Industriegesellschaften verbreiten wie eine Epidemie.
Tatsächlich zeigen Studien wie etwa die von Ellen Lee von der University of California und San Diego und ihrem Team, dass sich der Anteil der einsamen Menschen in den letzten 50 Jahren verdoppelt hat. Mit einem standardisierten Psychotest erfassten sie den Grad der Einsamkeit ihrer Probanden und auch die Lebensumstände. Das Ergebnis überraschte: Drei Viertel der Teilnehmer empfanden sich als mittel- bis schwergradig einsam. Die Forscher hatten zuvor maximal 50 Prozent erwartet. „Das ist bemerkenswert, weil die Teilnehmer unserer Studie vorher nicht als besonders anfällig gegenüber der Einsamkeit galten", sagt Lees Kollege Dilip Jeste. Sie hatten keine psychischen Störungen oder Erkrankungen und waren auch nicht überdurchschnittlich stark sozial isoliert. „Unsere Teilnehmer waren ganz normale Leute", so Jeste. Auch in Deutschland ist die sogenannte Einsamkeitsquote bei den 45- bis 84-Jährigen von 2011 bis 2017 um rund 15 Prozent gewachsen. Im Jahr 2017 fühlten sich 9,2 Prozent der Menschen dieser Altersklasse einsam, heißt es in einem entsprechenden Papier der Bundesregierung.
Wer sich dauerhaft einsam fühlt, hat ein höheres Risiko, chronische Krankheiten zu entwickeln. Das gilt für körperliche wie seelische Leiden. Dazu zählen etwa Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Alzheimer, Demenz, Depression, Schizophrenie und Sucht. Statistischen Untersuchungen zufolge verringert Einsamkeit die Lebenserwartung stärker als Rauchen, Bewegungsmangel und Übergewicht. Woher aber kommt die zunehmende Einsamkeit, und wann gilt man überhaupt als einsam?
Schon beim Definitionsversuch stößt man auf das erste Problem: Es gibt keine einheitliche Begriffsbestimmung. Grundsätzlich ist das eine subjektive Einschätzung – jemand fühlt sich einsam. Maike Luhmann ist Psychologie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum und befasst sich schon länger mit dem Konstrukt der Einsamkeit. „Es gibt keine offizielle Diagnose für Einsamkeit und daher auch keinen ‚Wert‘, ab dem jemand einsam ist. Man misst das Phänomen, indem man Menschen entweder direkt zu dem befragt oder indirekt zu ihrer sozialen Verbundenheit. An den Antworten kann man dann einschätzen, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die sich manchmal, oft oder immer einsam fühlen", so die Forscherin. Hinter dem Phänomen Einsamkeit verbirgt sich die tief im Menschen verwurzelte evolutionäre Angst vor Ausstoßung. „Seit Urzeiten ist es für uns wichtig, Kontakte zu suchen und aufzubauen", erklärt der Neurologe Walter Möbius. Dieser Kontakt zu anderen sicherte unserer Spezies das Überleben und ist bis heute überlebenswichtig.
Es kommt auch auf die Qualitäten der Beziehungen an
Einsamkeit entsteht aber nicht zwingend daraus, dass jemand alleine ist. Manche Menschen sind sehr gerne alleine und suchen ganz bewusst Momente der Ruhe. Andere hingegen leiden gar unter Leuten an chronischer Einsamkeit. „Es geht nicht nur darum, eine Gruppe um sich zu haben, sondern darum, dass es eine Gruppe ist, auf die man sich verlassen kann", begründet Luhmann diese verschiedene Wahrnehmung. „Einsam fühlt man sich dann, wenn man das Gefühl hat, dass die Qualität der Beziehungen, die man hat, nicht ausreicht." Ähnlich argumentiert auch Manfred Spitzer in seinem Buch „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit": „Mancher lebt zwar alleine (also in einem Singlehaushalt), ist aber dauernd mit Freunden zusammen, wohingegen andere zum Beispiel als Paar im fortwährenden Rosenkrieg zusammenleben und nur selten mit anderen Kontakt haben."
Woher kommt sie also, die Einsamkeit, die sich plötzlich so stark in der Gesellschaft zu verbreiten scheint? Auch dazu vertritt Spitzer unterschiedliche Thesen. Der Stellenwert von Ehe und Familie habe abgenommen, die Werte und Praktiken der modernen Welt würden immer individualistischer. Die „Singularisierung" ziehe sich wie ein roter Faden durch verschiedene Lebensbereiche, so der Hirnforscher. In Deutschland etwa habe die Zahl der Singlehaushalte und der Scheidungen stark zugenommen. Der Wohlstand verringere die Abhängigkeit des Einzelnen von Familie, Freunden, Verwandten und Gemeinschaft. Gleichzeitig gehe es immer stärker um die Selbstentfaltung des Individuums.
Besonders betroffen von Einsamkeit sind Menschen in drei Lebensphasen: am Lebensende, Ende 20 und Mitte 50. Das Forscherteam um Ellen Lee konnte zeigen, dass der Schweregrad der Einsamkeit und das Lebensalter eine komplexe Wechselbeziehung haben. So liegt eine Hochphase der Einsamkeit am Lebensende, bei den über 80-Jährigen. Eine naheliegende Erklärung dafür ist die soziale Isolation vieler alter Menschen, die Freunde und Lebenspartner durch Tod verloren haben.
Aber auch in jungen Jahren gibt es besonders einsame Lebensphasen, wie die Studie enthüllt. So leiden Menschen mit Ende 20 offenbar besonders häufig unter Einsamkeit. Eine weitere Lebensphase mit hohem Einsamkeitspotenzial ist das Alter um Mitte 50 – die klassische Midlife-Crisis. Diese auffälligen Häufungen fanden sich den Wissenschaftlern zufolge sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
Wer einmal in Einsamkeitsgefühlen gefangen ist, gelangt mitunter in eine Abwärtsspirale. „Einsame werden misstrauisch und fassen selbst gutgemeinte Gesten falsch auf", beschreibt der Neurologe Walter Möbius diesen Prozess. „Das ist nicht direkt paranoid, aber der Gedanke überwiegt, dass der andere einem im Grunde genommen nicht gut gesonnen ist." Auch das ist evolutionäres Erbe – wer die Gruppe nicht um sich hatte, war bedroht. Dazu kommt die Ausstrahlung als Leidender, die auf andere abweisend wirken kann. „Das Widerspiegeln der eigenen Abwehr von Zuwendung treibt die Betroffenen immer weiter in den Abgrund", meint Möbius. So verstärkt sich der Kreislauf, in dem man immer isolierter und einsamer wird. Manch einer wird in solchen Situationen erfinderisch. Aus Japan etwa sind Fälle bekannt, in denen hochbetagte Senioren Diebstähle begingen. Ihr Ziel: gefasst werden, um danach mit anderen Leuten im Gefängnis zu sitzen und Gesellschaft zu haben.
Einsamkeit betrifft Männer und Frauen gleichermaßen
Es gibt jedoch auch andere Wege, um der Einsamkeit zu entkommen. Walter Möbius schlägt in seinem Buch „7 Wege aus der Einsamkeit und zu einem neuen Miteinander" unterschiedliche Strategien vor. Nach dem Umzug in eine neue Stadt etwa reiche es oft schon, sich einen Verein zu suchen, sich ehrenamtlich zu engagieren, sich im Chor oder im Fitnessstudio anzumelden. So ergäben sich neue Kontakte, Freundschaften könnten wachsen, die Einsamkeit bleibe eine Episode. Anders sehe es nach dem Verlust des Partners aus. Es brauche Zeit, Tod oder Trennung zu verarbeiten und zu akzeptieren. Wer sich selbst nicht aus der Einsamkeit befreien kann, dem kann auch eine Psychotherapie helfen, aus der Situation auszubrechen.
Der Neurologe hat auch einen Tipp für all jene, die sich um Einsame bemühen: Geduld. „Man muss sich mit echtem Interesse an jemanden wenden und darf sich nicht nach der ersten abweisenden Geste abwimmeln lassen. Bei vielen Einsamen spielt auch Scham eine Rolle. In einer Welt, in der es allen super geht, erscheint die Einsamkeit als Beweis für das eigene Versagen."
Auch Spitzer glaubt, dass neben der Psychotherapie vor allem soziale Unterstützung hilfreich ist. „Alle Handlungen, die uns einander näherbringen, wirken gegen Einsamkeit", schreibt der Hirnforscher. „Jeder Einzelne kann sich mehr um andere kümmern, und unsere Gesellschaft kann dem mehr Raum geben und für eine ‚artgerechtere‘ – gemeinschaftsorientierte und damit menschlichere –
Umgebung sorgen." Maike Luhmann plädiert zudem dafür, die Rahmenbedingungen zu verbessern, um Betroffenen die Teilnahme am täglichen sozialen Leben zu erleichtern. „Auch die gezielte Förderung von Initiativen, die sich gezielt an einsame Menschen wenden, kann hilfreich sein", so die Psychologin.
Auch die Politik nimmt sich dem Problem stärker an. In Großbritannien etwa hat Ex-Premierministerin Theresa May Anfang 2018 eine eigene Ministerin für Einsamkeit ernannt. May sprach in dem Zusammenhang von einer „traurigen Realität des modernen Lebens", die Millionen Menschen betreffe. In Deutschland fordert etwa der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach einen Regierungsbeauftragten, der sich um Einsamkeit und Einsamkeitsschäden in der Gesellschaft kümmert. „Bisher wurde die Zahl der Krankheiten, die durch Einsamkeit ausgelöst werden, unterschätzt", so Lauterbach. Auch Politiker anderer Parteien wie etwa der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann fordern eine Strategie zur Bekämpfung der Einsamkeit. Dazu zählten innovative Wohn- und Mobilitätskonzepte sowie die Förderung von Gesundheitskompetenz. Dabei ist es nicht nur die beeinträchtigte Lebensqualität der betroffenen Bürger, die den Politikern Sorge macht, sondern auch die Kosten für die Behandlung eben dieser Erkrankungen und damit verbundene Ausfallzeiten am Arbeitsplatz.