Wetten, dass der Schweizer Roger Federer weiß, wie Stars und Höchstleistungen dramaturgisch perfekt inszeniert werden? Den Beweis dafür lieferte die dritte Auflage des Laver Cups in Genf, der Tennis emotionsstark vermarktet und dem neuen ATP Cup den Weg bereitet.
Das Laver-Cup-Motto: „Aus Rivalen werden Freunde, aus Einzelspielern ein Team", gab am dritten Septemberwochenende das Drehbuch vor. Für das größte Sportevent der Schweiz aller Zeiten, dem von Kritikern mangelnder Sportcharakter vorgeworfen wird. Grund: Die Teilnahme der jeweils sieben Mannschafts- und Ersatzspieler von „Team Europe" und „Team World" richtet sich nicht nach der sonst relevanten ATP-Rangliste oder -Qualifizierung. Der „Europa gegen den Rest der Welt"-Wettbewerb ist ein rein privates Einladungsturnier, dessen Auswahl vom Erfinder des Laver Cups, Roger Federer, bestimmt wird. Das Reglement ignoriert viele der üblichen Turnier-Vorgaben. Speziell die Zweifach-Wertung gewonnener Matches am zweiten Spieltag und die Dreifach-Wertung am Finaltag stellen dramaturgische Besonderheiten dar. Zudem wird gnadenlos von der Seite gecoacht: Letzteres ist ein absolutes „Geht-gar-nicht" auf der „echten" ATP-Profi-Tour der Männer.
Die Zuschauer sind ganz nah dran
Gerade das sonst Undenkbare macht jedoch den Charme dieses gigantischen Werbe-Ereignisses für Tennis als bunte Bereicherung des Lebens aus, was in den sozialen Medien auch frenetisch gefeiert wurde: Wenn Rafael Nadal den Team-Kapitän, Legende Björn Borg aus Schweden, übertönt, um Dominique Thiem heftig gestikulierend Tipps aus seiner großen Erfahrungskiste zu geben. Oder wenn das angebliche „Enfant Terrible" der Szene, Nick Kyrgios, ermutigend von hinten auf den sitzenden Aufschlagriesen John Isner einredet und ihm eine Wasserflasche reicht. Die Kameras und Mikros fangen alles ein, die Zuschauer sind ganz nah dran. Auch an allem, was sich auf den Team-Bänken am Rande tut. Sie beobachten gemütliche Pläuschchen zwischen Federer und Nadal; sie versuchen, deren Körpersprache zu lesen. Ob die beiden vielleicht doch so etwas wie Freunde sind, der Spanier und der Schweizer, die zwei heißesten Anwärter und Konkurrenten auf den Titel „Größter Tennisspieler aller Zeiten" (GOAT). Oder ob sie wirklich so euphorisch beziehungsweise nervös sind, wie sie sich darstellen. Etwa wenn sich Federer beim entscheidenden Fight zwischen Alexander („Sascha") Zverev und Milos Raonic kurz die Augen zuhält. Oder wenn „Rafa" und der „Maestro" Zverev zwischendurch zur Kabine begleiten und mit deftigen Worten auf ihn einreden, doch bitte unbedingt positiv zu denken, zu gestikulieren und seine durchwachsene Saison mit einem Laver-Cup-Sieg zu retten.
Zugegeben: Nicht der reine Sport, aber gute Unterhaltung für die ganze Familie war dieser Laver Cup. Besonders am Finaltag, der ein Kopf-an-Kopf-Rennen zum Nägel-Zerkauen zwischen zwei eigentlich sehr unterschiedlich aufgestellten Teams herzvorzauberte: Team Europe, das aus Top-Ten-Spielern und der Nummer elf der Welt bestand, besiegte am Ende mit gerade einmal zwei Punkten Team World. Dessen bestplatziertes Mitglied Isner steht auf Platz 20 der globalen Rangliste. Sein Landsmann Jack Sock ist gerade jenseits der Top 200 eingestuft, legte dennoch in Genf einen starken Auftritt hin. „Es ist ein bisschen so wie bei einem Klassenlager", bestätigte Federer gegenüber der „Aargauer Zeitung" den Eindruck, dass sich an diesem langen Cup-Wochenende Menschen in zwei Teams zusammenraufen und ehern zusammenhalten, die sich als rivalisierende Individuen sonst vielleicht nicht so abkönnen. Wer würde unter anderen Umständen schon annehmen, dass Deutschlands Nummer eins, Sascha Zverev, nicht nur mit Dominic Thiem, sondern auch mit Stefanos Tsitsipas, Roberto Bautista Agut und Fabio Fognini Spaß haben und nach dem gemeinsamen Sieg ihres Teams Europe auf dem Boden herumbalgen mag? Oder dass er mit Nadal und Federer aus einem Pokal Champagner zu trinken hofft?
„Ein bisschen wie ein Klassenlager"
Wer würde meinen, dass sich die aus Nordamerika und Australien stammende, körperlich imposante Gruppe der „Welt"-Mannschaft, bestehend aus Isner, Raonic, Kyrgios, Taylor Fritz, Denis Shapovalov, Sock und Jordan Thompson, vom in Ehren ergrauten John McEnroe herumscheuchen lassen würde und sich Kyrgios, statt desinteressiert herumzuhängen, sogar eine Verletzung einhandeln würde? Ähnlich wie Nadal, der auf dem Platz bei „regulären" Events eher selbstbezogen wirkt. Alle wurden mitgenommen: Es gab fröhliches Public Viewing ebenso wie öffentliches Training der Superstars der Tennis-Szene vor 6.000 Menschen.
Somit demonstrierte das mit schwarzer Halle und roten Teppichen zelebrierte Show-Wochenende genussvoll und in großem Stil, was besonders die niedrig eingestuften Turniere der „echten", Punkte bringenden ATP-Tour ebenfalls schon praktizieren: Viel Bling, Bling um den eigentlichen Wettbewerb, um hartes Fighten auf den Courts, damit Zuschauer und Sponsoren angelockt und bei Laune gehalten werden und der Tennissport eine Zukunft auch beim Nachwuchs hat. „Das war Tennis auf wirklich gutem Niveau", verteidigte etwa Sky- und Deutscher Tennisbund (DTB)-Experte Marcel Meinert im „Tiebreak"-Podcast der „Tennisproleten" das Geschehen auf den Courts gegen jegliche Schaukampf-Vorwürfe. „Ich fand alle, die dabei waren, wirklich authentisch". Rund 85.000 Zuschauer aus 82 Ländern, die Höchstpreise von bis zu 13.000 Franken für Hallentickets in der Palexpo-Arena zahlten und keinen Platz auf den Rängen frei ließen, wurden einbezogen in Team-Dramen auf und neben dem Court. Der Laver Cup bezauberte Fans und viele andere, die gar nicht wussten, dass Tennis ein so mitreißender Sport sein kann.
Kaum ein Match wurde ohne Match-Tiebreak entschieden. Das heißt, bei acht von insgesamt zwölf Partien wurde bei Unentschieden nach zwei Sätzen gespielt, bis einer der Kontrahenten zehn Ballwechsel gewonnen hatte. Am Finaltag ging Team World zum Start auf einmal in Führung, weil es drei Punkte für den Sieg im Doppel bekam. Den abschließenden Sonntag konnten sich Zuschauer vor dem Fernseher deshalb nachfolgend getrost von der Spannung auf den Bildschirmen aufhellen lassen. Draußen prasselte bei manchen der Regen an die Fenster, und drinnen entstand beim gemeinschaftlichen Mitfiebern Kaminfeuer-Stimmung, wie einst bei „Wetten, dass". Bis Sascha Zverev – natürlich im Match-Tiebreak – die entscheidende Partie für Team Europe gewann und sich im Hechtsprung auf den Boden warf. Seine Mannschafts-Kollegen stürzten sich auf ihn. Happy End. Der Laver Cup 2019 bot einmal mehr „Tennistainment" vom Feinsten. Nachdem der althergebrachte Davis Cup mit seinen traditionellen Auswärts- und Heimspielen begraben wurde, braucht Tennis neue Team-Formate. Gegebenenfalls auch mit emotionsstarkem Randgeschehen, das Aufmerksamkeit aufs Tennis zieht, wenn es nicht aus dem Bewusstsein der Massen verschwinden und die Filzkugel hinter König Fußball im Mauseloch versinken lassen will.
„Tennistainment" vom Feinsten
In Boston geht es nächstes Jahr weiter, damit der Laver Cup mehr von dem bekommt, was ihm naturgemäß noch fehlt: Tradition. Heuer noch, im November, nach dem Ende der anstrengenden Saison, werden Publikumsmagneten wie Federer und Zverev beim fehlsanierten Davis-Cup-Finale fehlen. Fehlen wird manchen Zuschauern auch der Hopman Cup. Der war auch so eine Turnierveranstaltung ohne sportlichen „Wert", sprich Weltranglistenpunkte, aber mit seinen Mixed-Matches der Top-Stars ein besonderer Spaß.
Die globale Elite trifft sich stattdessen vom 3. bis zum 12. Januar in Brisbane, Perth und Sydney zum ersten ATP Cup, für den bereits 27 Spieler der aktuellen Top 30 ihr Kommen zugesagt haben. Schließlich sind sie im Januar eh auf dem Weg nach Australien, zum ersten Grand Slam des Jahres. Wenn auch noch 15 Millionen US-Dollar Preisgeld locken, bis zu 750 ATP-Punkte fürs persönliche Sportwertkonto, sowie Spaß mit insgesamt 24 Teams, die in sechs Vorrundentagen und drei Viertelfinal- bis Endspieltagen die weltbeste Tennisnation des Jahres in Einzeln und Doppeln ausfechten: Wer wollte da nicht mitmachen? Deutschland schickt mit Sascha Zverev und Jan-Lennard Struff seine zwei besten Spieler, sowie mit Boris Becker einen prestigereichen Kapitän. Großbritannien darf aufgrund des geschützten Weltranglistenplatzes von Andy Murray dabei sein, der auch selbst aufschlägt. Kein Zweifel: Team Cups, zuletzt nicht mehr die große Destination für Profis, werden mit ein wenig Creme süffiger und attraktiver für die Spieler gemacht. Und das weckt auch in den Zuschauern Appetit auf mehr. Vielleicht sogar auf eine organisatorische Verschmelzung von altem Davis Cup und neuem ATP Cup, irgendwann.