In Deutschland leiden zwei bis drei Millionen Menschen unter Zwangsstörungen. Ihre Krankheit bringt sie dazu, ständig absurde Dinge zu tun oder beschämenden Gedanken nachzuhängen. Da den Betroffenen ihr Verhalten selbst peinlich ist, verheimlichen sie ihre Störung.
Bis vor wenigen Jahren wurden Zwangsstörungen noch als selten auftretende Krankheit angesehen. Was vor allem auch damit zusammenhängt, dass nur ein vergleichsweise geringer Teil der Betroffenen seine Probleme als gesundheitsgefährdend einstuft und sich in physiotherapeutische Behandlung begibt. Schätzungsweise nur ein Drittel der Betroffenen kann sich letztendlich zu diesem Schritt durchringen, weil ihr Alltag durch die Krankheit erheblich beeinträchtigt wird. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass etwa zwei bis drei Prozent der deutschen Bundesbürger an einer solchen Störung leiden. Die Zwangsstörung ist damit die vierthäufigste seelische Erkrankung nach Depressionen, Ängsten/Phobien und Suchterkrankungen. Sie ist etwa doppelt so stark verbreitet wie Schizophrenie.
Bis Mitte der 1960er-Jahre galten Zwänge als unbehandelbar, was sich mit der Entwicklung von Therapietechniken wie der Exposition, die auch Konfrontations- oder Reizkonfrontationstherapie genannt wird, grundlegend geändert hat. Dabei muss sich der Patient unter professioneller Aufsicht direkt seinen Zwängen stellen. Denn inzwischen konnte durch eine Vielzahl von Studien belegt werden, dass durch eine Kombination der Exposition mit weiteren Techniken Besserungsraten zwischen 50 und 85 Prozent erzielt werden können (eine vollständige Heilung ist die absolute Ausnahme). Vor allem die kognitive Verhaltenstherapie, die verbreitetste Form der Psychotherapie, deren Zielsetzung es ist, beim Patienten nicht zutreffende oder belastende Überzeugungen aufzudecken und zu verändern, stellte sich als wirksam heraus. Vor dem Hintergrund mangelnder Spontanheilung ist dies als großer Erfolg einzustufen. Denn der Krankheitsverlauf, der in der Regel schleichend ist und bei dem es nur eine sehr geringe Selbstheilungschance gibt, ist langdauernd, weshalb die Zwangsstörung zu den chronischen Krankheiten gezählt wird. Phasen längerer Symptomfreiheit treten nur sehr selten auf.
Exposition und Verhaltenstherapie
Die Erkrankung, die bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auftritt, beginnt meist in früher Kindheit oder Jugend und vor allem während der Pubertät. Bis zum Erreichen des 30. Lebensjahrs hat sich die Krankheit bei 75 bis 85 Prozent der Betroffenen schon manifestiert, jenseits des 40. Lebensjahrs nimmt kaum ein Krankheitsverlauf seinen Anfang. Für Betroffene ist es meist gar nicht so einfach, einen kundigen Helfer zu finden. Denn bei Hausärzten als erste Ansprechpartner ist der Wissensstand bezüglich Zwangsstörungen meist sehr begrenzt. Selbst viele Fachärzte oder Psychiater verfügen nicht über ausreichende Erfahrungen mit dem ziemlich komplizierten Störungsbild. Daher gehen Experten davon aus, dass im Schnitt noch immer zehn bis zwölf Jahre nach Beginn der Erkrankung vergehen, bevor eine individuell-zielgerichtete Behandlung aufgenommen wird.
Die offizielle Leitlinie zur Behandlung von Zwangsstörungen sieht vor, dass die kognitive Verhaltenstherapie an erster Stelle stehen sollte, verbunden mit Konfrontationsübungen, bei denen das Zwangsritual unterdrückt werden muss. Bei schweren Fällen kann zusätzlich eine Medikamentengabe hinzukommen, meist handelt es sich dabei um Präparate aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI). Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen kritisiert allerdings auf ihrer Homepage den durch mehrere Studien belegten Sachverhalt, dass hierzulande noch immer die Konfrontationsbehandlung noch viel zu selten angewandt wird, obwohl sie gemeinhin zu den wirksamsten Methoden der Psychotherapie gezählt wird.
Eine Zwangserkrankung ist eine psychische Störung, deren wesentliche Kennzeichen ständig wiederkehrende unerwünschte Gedanken oder Obsessionen sowie zwanghafte Handlungen oder Zwangsrituale sind, mit denen sich der Betroffene immer wieder beschäftigen muss. Vergleichbare Vorstellungen oder Vorgehensweise kennt auch jeder Gesunde aus seinem Alltag, weil wohl jeder schon mal mehrfach überprüft hat, ob die Tür tatsächlich verschlossen oder die Herdplatte wirklich ausgestellt war, obwohl das durch die vorige Kontrolle eigentlich sichergestellt gewesen sein müsste. Krankhaft wird es erst dann, wenn sich derartige Verhaltensweisen andauernd wiederholen.
Den meisten Betroffenen ist die Sinnlosigkeit ihrer Obsessionen durchaus bewusst, nur können sie nichts dagegen tun und fühlen sich immer wieder dazu genötigt, absurde Dinge zu tun oder bestimmten Gedanken nachzuhängen. Obwohl sie dabei Scham, Ängste, Unbehagen oder auch Ekel empfinden, mithin unerwünschte Gefühle, die sie häufig durch Ausführung von Zwangshandlungen zurückzudrängen versuchen. Nach jahrelanger Krankheit kann das Empfinden der Sinnlosigkeit sogar verlorengehen. Die Scham bleibt aber fast immer vorhanden, weshalb die Erkrankung möglichst vor dem persönlichen Umfeld verborgen und daher gemeinhin als „verheimlichte Krankheit" bezeichnet wird. Deren Behandlung sollte jedoch möglichst früh beginnen, weil dann die Erfolgsaussichten zur Besserung am größten sind.
Direkte Konfrontation mit den individuellen Zwängen
Zu den häufigsten Zwangsstörungen gehören Kontroll-, Wasch- und Putzzwänge, gefolgt von Ordnungs- und Zählzwängen. Aggressive und sexuelle Zwangsgedanken nicht zu vergessen. Die damit verbundenen Rituale dienen letztendlich dazu, Ängste zu besänftigen oder Spannungen abzubauen. Zwangspatienten haben meist Angst, aus Unachtsamkeit Fehler zu machen, durch irgendetwas beschmutzt worden zu sein oder die Kontrolle zu verlieren. Beim Versuch, die Handlungen zu unterdrücken, stellen sich meist Angst oder Anspannung ein. Viele Betroffene entwickeln auch ein Vermeidungsverhalten. Sprich, sie versuchen Situationen aus dem Weg zu gehen, in denen sich die unliebsamen Gedanken regelmäßig einstellen oder bei denen sie zu den rituellen Handlungen gezwungen werden. Im Extremfall ist es Betroffenen nicht mehr möglich, das eigene Haus zu verlassen oder einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Stattdessen wird ihr ganzes Leben von Zwangshandlungen und -gedanken dominiert.
Die Ursachen für Zwangsstörungen sind noch nicht eindeutig geklärt. Genetische, psychologische und organische Faktoren scheinen dabei zusammenzuwirken. Manche Experten vermuten, dass unter anderem das Zusammenspiel bestimmter Hirnbotenstoffe (speziell Serotonin und Dopamin) aus dem Gleichgewicht geraten ist oder dass Störungen der sogenannten Basalganglien im Gehirn ursächlich sein könnten. Zwillingsstudien lassen Rückschlüsse auf genetische Ursachen zu. In der Psychoanalyse werden Zwänge oder Zwangsneurosen, wie die Krankheit früher genannt wurde, als innere Abwehrmechanismen gedeutet, die eigentlich dafür sorgen sollen, Gedanken aus dem triebhaft-unbewussten Teil der Persönlichkeit zu kontrollieren. Auch die Erziehung in einem rigiden Elternhaus mit großer Strenge oder hoher Leistungserwartung könnten eine Rolle spielen, weil sich dabei ein gesteigerter Perfektionismus oder übertriebene Sauberkeitsvorstellungen ausbilden können. Nicht zuletzt werden auch traumatische Erlebnisse, die mit Angst und Ekel verbunden sind, oder auch extreme seelische Belastungen als mögliche Auslöser genannt.
Für eine optimale Therapie ist die richtige Diagnose grundlegend, für die im Wesentlichen ein ausführliches Patientengespräch und eine körperliche Untersuchung die Basis bildet. Wie schon angedeutet, gilt die kognitive Verhaltenstherapie in Kombination mit Exposition als wirksamste Behandlungsform. Für den Patienten ist es dabei ganz wichtig, nach und nach zu lernen, dass durch die direkte Konfrontation mit seinen Zwängen die Ängste und Anspannungen nicht ins Unendliche gesteigert werden, sondern sich im Laufe der Therapie allmählich erschöpfen. Die Dauer der therapeutischen Behandlung lässt sich kaum vorhersagen und hängt letztendlich vom individuellen Krankheitsbild ab.