Am 18. Oktober 1989 segnete offiziell das SED-Zentralkomitee den vom Politbüro erzwungenen Rücktritt Erich Honeckers ab. Tags zuvor wurde erfolgreich der Putsch des DDR-Politbüros eingefädelt. Der gebürtige Saarländer hatte 18 Jahre quasi diktatorisch die Geschicke der DDR gelenkt.
Dass die überstürzt für den 18. Oktober 1989 einberufene Sondersitzung des SED-Zentralkomitees, dem nach dem Politbüro zweitwichtigsten Machtzentrum der DDR, alles andere als eine Routineangelegenheit sein würde, dürfte jedem der 206 anwesenden Mitglieder und Mitgliedskandidaten bewusst gewesen sein. Sie nahmen daher gespannt nach
13 Uhr ihre Plätze im großen Sitzungssaal des äußerlich etwas düsteren Hauses am Berliner Werderschen Markt ein. Aber kaum jemand dürfte tatsächlich damit gerechnet haben, dass der allmächtige Erich Honecker, der quasi in diktatorischer Form 18 Jahre lang die Geschicke der DDR gelenkt hatte, kurz nach 14 Uhr in brüchig-heiserer, sich teilweise überschlagender Stimme seinen Rücktritt von all seinen Ämtern als SED-Generalsekretär, als Vorsitzender des Staatsrats der DDR und als Vorsitzender des nationalen Verteidigungsrats der DDR verkünden und Egon Krenz als seinen Nachfolger vorschlagen würde.
Nur für die 23 Mitglieder des Politbüros, die am Vortag bei der entscheidenden Sitzung dieses Gremiums den Sturz des gebürtigen Saarländers erzwungen hatten, konnte diese historische Zäsur natürlich keine Überraschung mehr darstellen. Den Abdankungstext hatten mit Günter Schabowski, mächtiger Chef der SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin, und Egon Krenz, langjähriger Honecker-Ziehsohn, Thronfolge-Kandidat und als stellvertretender Staatsrats-Vorsitzender der zweitmächtigste Mann der DDR, zwei der zentralen Putschisten noch in der Nacht zuvor in aller Eile mithilfe eines Amiga-Computers verfasst. Honeckers Auftritt war daher nichts anderes als eine demütigende und abgekartete Inszenierung, weil es längst Usus geworden war, dass das Zentralkomitee widerspruchslos sämtliche Entscheidungen des Politbüros einfach abzunicken pflegte. Honeckers „Bitte" um Entbindung von seinen drei Führungspositionen, wofür er offiziell, wie bei unfreiwilligen Spitzenfunktionärs-Rücktritten in der DDR allgemein üblich, seinen angeschlagenen Gesundheitszustand als Grund anführen musste, wurde dann auch ganz formell ohne jegliche Debatte per Abstimmung gegen 14.30 Uhr entsprochen: Mit Hanna Wolf, der ehemaligen Direktorin der SED-Parteihochschule Karl Marx, wagte nur ein einziges Zentralkomitee-Mitglied das Rücktrittsgesuch abzulehnen.
Meldung nahm Rücktritt vorweg
Unmittelbar nach der Abstimmung verließ der sichtlich bewegte Erich Honecker gegen 14.45 Uhr mit Tränen in den Augen unter stehendem Applaus aller Anwesenden den Sitzungssaal und ließ sich von seinem Chauffeur in seinem Citroen CX zu einem Waldspaziergang fahren. Das letzte Kapitel in Honeckers Karriere hatte weniger als 20 Minuten gedauert. Makaber war zudem, dass die amtliche DDR-Nachrichtenagentur ADN schon um 14.16 Uhr eine vor allem auch in den westlichen Medien eine wie eine Bombe einschlagende Ticker-Meldung versandt hatte, der zufolge Egon Krenz zum Nachfolger Honeckers als neuer Generalsekretär gewählt worden war. Zu diesem Zeitpunkt war der Rücktritt Honeckers noch gar nicht vom Zentralkomitee angenommen, und die einstimmige Wahl von Krenz sollte erst um 15.20 Uhr über die Bühne gehen.
Bevor Egon Krenz gegen 16 Uhr seine Antrittsrede als neuer Generalsekretär hielt, mussten die Delegierten noch die Entlassung der beiden engsten Vertrauten Honeckers aus dem Politbüro absegnen. Ein überraschender Coup, schließlich hatten Günter Mittag, der für alle Wirtschaftsfragen zuständige Zentralkomitee-Sekretär, und Joachim Herrmann, der SED-Chefagitator, wider Erwarten am Vortag im Politbüro gemeinsame Sache mit den Putschisten gemacht und offen Position gegen ihren lange bewunderten Chef bezogen. Aber die führenden Persönlichkeiten der Verschwörung gegen Honecker, nämlich Schabowski, Krenz, Stasi-Chef Erich Mielke, der Vorsitzende des Ministerrates Willi Stoph und der Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen beim Zentralkomitee der SED Wolfgang Herger, wollten in Sachen Honecker offenbar komplett Tabula rasa machen.
In seiner Rede versprach Krenz, die „politische und ideologische Offensive wiederzuerlangen" und auch offen den Dialog mit der Bevölkerung suchen zu wollen. Auch die Aufhebung der Reisebeschränkung für DDR-Bürger könne schnellstens in die Wege geleitet werden. Einen ähnlichen Tenor schlug er am gleichen Abend in seiner im Anschluss an die „Aktuelle Kamera" nach 20 Uhr ausgestrahlten Fernsehansprache an, wobei er sich als verständnisvoller Reformer zu präsentieren versuchte. Er benutzte dabei erstmals den Begriff „Wende" und räumte offen Fehler ein. Denn nach seinen Worten hat die Partei „in den vergangenen Monaten die gesellschaftlichen Entwicklungen in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen."
Honeckers Sturz ging Machtkampf voraus
Obwohl er plötzlich auch die Flucht und Ausreise vieler Menschen bedauert und als „schmerzhaften Aderlass" bezeichnet hatte, nahmen ihm die meisten DDR-Bürger diese radikale Kehrtwende nicht ab. Schließlich hatte er längst jegliche Glaubwürdigkeit verspielt durch seine maßgebliche Beteiligung bei der Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahlen im Mai 1989, durch seine Rechtfertigung der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Juni 1989 oder durch seine Verantwortung für das brutale Vorgehen der Sicherheitsbehörden während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, als allein in Ostberlin am 7. und 8. Oktober 1989 von rund 10.000 friedlichen Demonstranten 1.071 festgenommen worden waren. Von Krenz als neuem Generalsekretär versprach sich daher niemand eine echte Wende, was sich auf den Straßen bald schon in Parolen wie „Keine Lizenz für Egon Krenz" niederschlagen sollte. Dem Sturz Erich Honeckers war ein jahrelang im Verborgenen ausgetragener Machtkampf an der SED-Spitze vorausgegangen, der sich in den Monaten Juli bis September 1989 durch die schwere Erkrankung des obersten DDR-Chefs deutlich zugespitzt hatte. Da das gesamte System auf den Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretär zugeschnitten war, führte die Absenz Honeckers zu einer kompletten Lähmung des für alle Fragen zuständigen Politbüros. Die DDR war quasi führungslos, niemand wagte im Politbüro offen die Initiative zu übernehmen, stattdessen wurde im Geheimen sondiert, wie eine Allianz für die Ablösung des greisen Honeckers geschmiedet werden konnte. Da es in kommunistischen Herrschaftssystemen wie der DDR keine institutionalisierte Nachfolgeregelung gab, gab es zum Machtwechsel nur zwei Möglichkeiten: Tod oder eben Sturz des Amtsinhabers, falls dieser nicht freiwillig zurücktreten wollte. Ein Rücktritt des ebenso starrsinnigen wie machtbesessenen Erich Honeckers galt als ausgeschlossen. Allerdings zwang der Realitätsverlust des greisen Generalsekretärs dringend zum Handeln, zumal die mächtigen Funktionäre allein schon zum Erhalt ihrer eigenen Positionen und Pfründe einen Sündenbock für die staatliche und gesellschaftliche Misere präsentieren mussten. Obwohl schon das gesamte sozialistische Lager kräftig wankte und es in der DDR allerorten rumorte, hielt Honecker unbeirrt an alten Phrasen und Ritualen fest. Für die Massenflucht machte er Feinde im Ausland verantwortlich, gegen friedliche Demonstranten wollte er noch am 16. Oktober 1989, als sich in Leipzig 120.000 Menschen versammelt hatten, mit Panzergewalt vorgehen lassen, jegliche Liberalisierung im Sinne der Perestroika lehnte er ab wie auch eine Dialogbereitschaft mit den oppositionellen Teilen der Gesellschaft. Die langjährige Rückendeckung für seinen Hardliner-Kurs hatte er längst auch in Moskau verloren.
Hälfte des Politbüros unterstützte Putsch
Als Honecker im Oktober 1989 wieder auf die politische Bühne zurückgekehrt war, wurde der Termin für seinen Sturz auf den 17. Oktober 1989 festgelegt, nachdem man sich einen Tag zuvor noch sicherheitshalber in Person des Politbüro-Mitglieds und Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Harry Tisch, persönlich das Okay im Kreml bei Michail Gorbatschow eingeholt hatte. Die Putschisten konnten sich der Unterstützung von gut der Hälfte der anwesenden 23 Politbüro-Mitglieder vorab sicher sein. Umso überraschender, dass schließlich in der kurz nach 10 Uhr begonnenen Sitzung alle Spitzenfunktionäre geschlossen den Rücktritt von Honecker forderten und ihn zum alleinigen Verantwortlichen für die Missstände in der DDR erklärten. Der völlig perplexe Honecker lenkte schließlich ein und votierte sogar ganz im Sinne der gängigen SED-Einstimmigkeitspraxis auch selbst für seine Ämterenthebung. Um 13.50 Uhr verließ Honecker grußlos den Sitzungssaal, womit seine erstaunliche Karriere vom Dachdeckerlehrling zum mächtigsten Mann der DDR im Alter von 77 Jahren ein ziemlich unrühmliches Ende fand.