Spanien hat gewählt – und ist nun von einer stabilen Regierung weiter entfernt als zuvor. Wahlgewinner: erneut EU-Kritiker. In ganz Europa werden Stimmen, die gegen die Europäische Union schießen, lauter. Dabei soll die EU doch verbinden, nicht spalten.
Europa steckt in einer Krise. Nicht nur als Gesamtkonstrukt, auch seine Mitgliedsstaaten stehen vor einigen Problemen. Viele europäische Staaten scheinen mit ihren Regierungen zu hadern. Darunter auch Spanien, das nun zum vierten Mal in vier Jahren wählt. Wieder hat es nicht für einen klaren Regierungsauftrag für die Sozialdemokraten gereicht, was nicht zuletzt am Stimmenzuwachs der Rechten lag. Dabei hätte Spanien etwas Stabilität bitter nötig. Nach der Verurteilung der katalanischen Separatistenführer hat das Land mit vielen Demonstrationen zu kämpfen. Auch in Rumänien zerbrach die sozialdemokratisch geführte Regierung. Nun sollen die Konservativen das Land mit einer Minderheitsregierung bis zu den regulären Wahlen im Herbst 2020 führen. Das Verhältnis zu den Sozialdemokraten ist zerfahren, was die Regierungsarbeit erheblich erschweren wird. Belgien hingegen hat seit der Wahl am 26. Mai 2019 noch immer keine handlungsfähige Regierung bilden können. Dass dieser Prozess in Belgien besonders lange zu dauern scheint, zeigte bereits die Regierungsbildung im Jahr 2010, als es die Belgier 541 Tage kostete, bis eine Regierung gefunden war. Auch in Österreich ist noch keine Koalition in Sicht, ÖVP-Chef Kurz sprach sich allerdings nun für Koalitionsverhandlungen mit den Grünen aus.
Viele europäische Parteien sind nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft Mehrheiten zu erlangen. Grund ist neben dem Aufkommen neuer Parteien auch die vorherrschende Unzufriedenheit der Bürger. Doch solche langwierigen Prozesse und die Instabilität mancher Bündnisse schwächen das Vertrauen in die Politik weiter.
Die EU-Staaten scheinen heterogener denn je, ein gemeinsamer Konsens gestaltet sich schwierig, ist doch selbst national die Suche danach komplex. Einige Staaten fühlen sich durch die intransparente Gesetzgebung der EU in eigenen Entscheidungen eingeschränkt. Dabei soll die EU doch gerade eins: für Gemeinschaft sorgen. Das regelt auch der Lissaboner Vertrag. Obwohl dieses Wir-Gefühl einmal der Kern des europäischen Gedankens war, stehen nun insbesondere nationale Interessen im Vordergrund. Das zeigt nicht zuletzt auch der Brexit.
Zusammenhalt versus Nation
Die Unstimmigkeiten auf europäischer Ebene stärken insbesondere EU-Gegner und den rechten Rand. In vielen Ländern gewinnen rechte Parteien an Stimmenzuwachs, andere wenden sich immer weiter von der Europäischen Union ab. Dies schwächt den Zusammenhalt. In Ungarn ist mit Regierungschef Viktor Orban ein bekennender Anti-Europäer am Zug, und auch in Polen regiert mit der PIS eine patriotische Partei mit absoluter Mehrheit. Bürgerrechte wie auch Pressefreiheit sind in beiden Ländern eingeschränkt, die demokratische Gewaltenteilung ausgehebelt. Auch in Italien ist trotz Neuwahlen der Einfluss von Ex-Innenminister Matteo Salvini stark. In den ersten Regionalwahlen nach der Regierungsauflösung ging der Sieg mit seiner rechtspopulistischen Partei Lega nach Hause.
Die Prioritäten der Mitgliedsstaaten haben sich geändert. Themen wie die innere Sicherheit gewinnen an Bedeutung. Damit verbunden ist auch die Migrationspolitik. Erstmals sind nach UN-Angaben über 70 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Durch die Schließung der Balkanroute sowie das Türkei-Abkommen sind die Flüchtlingszahlen in Europa zwar auf rund 650.000 gesunken, doch mangelt es an einem Mechanismus zur geeigneten Verteilung. Insbesondere die an den Meeren gelegenen Staaten leiden darunter. Die Folgen der damit verbundenen Überforderung: Anlegeverbote für Seenotretter oder auch das Aushebeln des Schengen-Abkommens. Auf Initiative des deutschen Innenministers Horst Seehofer (CSU) hatten Deutschland, Frankreich, Italien und Malta einen „Solidaritätsmechanismus" ausgehandelt, der vorsieht, dass die EU-Staaten die in Italien und Malta aus der Seenot geretteten Bootsflüchtlinge nach einem gewissen Schema verteilt aufnehmen. Aber nicht jeder möchte sich daran halten – darunter Ungarn, Polen und Tschechien. Die EU-Kommission verklagt diese nun. Der Vorwurf: Verstoß gegen das „Wesen der Solidarität". Die Konsequenz dieser mangelnden Unterstützung untereinander ist zwangsläufig die Entzweiung zwischen jenen, die die Verantwortung tragen, und denen, die sich ihrer Vogel-Strauß-Mentalität hingeben.
Auch wenn das Bedürfnis nach innerer Sicherheit zunimmt, wehren sich viele Staaten gegen eine gemeinsame Lösung in der Strafverfolgung – unter anderem, weil die nationale Sicherheit in den EU-Verträgen klar als Eigenverantwortung verortet ist. Der einzige wirkliche Fortschritt der polizeilichen Zusammenarbeit ist die europäische Polizeibehörde Europol in Den Haag. Durch die Personenfreizügigkeit können straffällige Personen den nationalen Behörden ohne große Probleme entkommen. Nach Überschreiten der Grenze ist eine Verhaftung nur durch einen europäischen Haftbefehl möglich. Die Datensammlung von Europol unterstützt die nationalen Behörden hiermit als Mittler und Verbindungsglied. Auch im Aachener Vertrag wird die Bedeutung der Zusammenarbeit in der Strafverfolgung deutlich: Eine engere Kooperation der deutschen und französischen Geheimdienste ist darin vorgesehen.
Nicht nur die Polizei, auch das Militär soll einigen Ländern zufolge besser miteinander verzahnt werden. Eine gemeinsame europäische Armee, so der Vorschlag. Dem stehen allerdings einige Kritikpunkte entgegen. Die EU verfüge nicht über genug Integration und Föderalismus für dieses Vorhaben, und man befürchte, weitere europäische Gesamtlösungen würden EU-Skeptikern neuen Aufschwung verleihen – mit der Folge weiterer EU-Austritte.
Instabilität stärkt den rechten Rand
Doch nicht nur innereuropäisch kriselt es. Die Beziehungen zu den großen Weltmächten sind angespannt. Die USA zählen zu den engsten Verbündeten Europas, die Präsidentschaftswahl Donald Trumps vor drei Jahren erschwerte die transatlantischen Beziehungen allerdings. Die Alleingänge des amerikanischen Regierungschefs, unter anderem in der Handelspolitik, belasten nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Vertrauensverhältnis.
Auch die Beziehungen zu Russland gestalten sich problematisch. Manche Mitgliedsstaaten, wie beispielsweise Griechenland, suchen den Dialog, doch kann nicht jeder den Wunsch nach engerer Zusammenarbeit teilen. Zwar hatte die EU eine strategische Partnerschaft mit Russland aufgebaut, doch litt diese stark unter der Ukraine-Krise. Der europäische Kurs gegenüber Russland ist ambivalent: Einerseits versucht man, die Zusammenarbeit voranzubringen. Doch zeigen nicht zuletzt auch die verhängten Sanktionen, dass man dem Partner mit kritischer Haltung gegenübersteht. Dennoch soll zukünftig mehr russisches Gas nach Europa transportiert werden – laut Kritikern ein Weg in die Abhängigkeit.
Im Umgang mit China tut sich Europa ebenfalls schwer. Dabei ist klar: Um eine gute Beziehung mit dem starken Handelspartner führt kein Weg herum. Viele Staaten, darunter auch Deutschland, stehen chinesischen Investitionen sehr skeptisch gegenüber. Gerade einmal die Hälfte der EU-Staaten lassen sich in die Seidenstraßeninitiative, Chinas Strategien zur Absicherung seiner Auslandsinvestitionen, einbinden – darunter Portugal, Griechenland und Polen. Der chinesische Handel müsse sich für den europäischen Handel öffnen, fordert die Mehrheit der EU-Staaten. Der französische Premierminister Emmanuel Macron gilt als Hoffnungsträger für die europäisch-chinesische Beziehung. Er setzt auf eine gemeinsame europäische Strategie. Denn die EU kann nur gemeinsam mit anderen globalen Playern mithalten. Auch viele weitere Ziele sind nur zusammen erreichbar: sei es ein effektiver Umweltschutz, eine handlungsfähige Verteidigungspolitik oder ein stabiler Binnenmarkt. „Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde die Hoffnung für viele. Sie ist heute die Notwendigkeit für alle", sagte schon Konrad Adenauer. Dennoch werden die Kritiker immer lauter – und sie haben genug Argumente auf ihrer Seite. Dabei sollte Europa doch gerade den Frieden in Einheit erhalten.