Jean Pierre Carme ist Südfrankreichs dienstältester Glöckner. Der 75-Jährige bringt in Castres in der Kathedrale die 34 Glocken regelmäßig zum Klingen.
Fast zärtlich streicht Jean Pierre Carme über die kleine, in den hellen Sandstein gemeißelte Glocke. Man muss schon genau hinsehen, um sie am Treppenabsatz der Kathedrale Notre Dame de la Platé in Castres zu entdecken. Ein Steinmetz hatte sie bei der letzten Renovierung wie ein Emblem in den weichen Stein modelliert. Der Carillonneur – zu Deutsch Glockenspieler – der okzitanischen Stadt zeigt sie gern, wie er auch gern mit einer Seelenruhe die Geschichte über seine Vermählung mit den „cloches qui chantent", den „singenden Glocken" erzählt. „Ich war junger Messdiener und durfte das Glockenspiel einmal in Vertretung anspielen. Man schlägt die Holztasten mit dem Handrücken bei geschlossener Hand und dem kleinen Finger. Als ich den nur ganz leicht das erste Mal angehoben habe, ist der Funke sofort übergesprungen", erinnert sich der asketisch wirkende Franzose, der in Castres aufgewachsen ist. Zeitlos wirkt der Mittsiebziger in seinen Jeans und der legeren Strickjacke, während er mit dem leise rasselnden und großen Schlüsselbund in der Hand die ersten der 120 Stufen zu seinem Klangrefugium in den Glockenturm hinaufsteigt. Den Weg ist er schon Hunderte Male gegangen. Immer wieder belohnt ihn oben der Blick über die rot geziegelten Dächer seiner Geburtsstadt, über der der Himmel im Winter bleiern ruht. Wenn er gleich auf seinem Carillon spielen wird, wird sich der Gesang der Glocken weit über die am Flüsschen Agout gelegene Stadt ausbreiten. Castres liegt im Département Tarn und ist mit seinen 41.000 Einwohnern immerhin das größte Industriegebiet zwischen der 72 Kilometer entfernten Hauptstadt Okzitaniens – Toulouse – und Montpellier. Der international agierende Pharmazie-Konzern Pierre Fabre hat hier seinen Sitz.
Die Glocken erklingen auch mal wochentags
Die Maisons sur l’Agout – bunte Häuschen am Flussufer, sind Castres Wahrzeichen und bauliche Zeitzeugen der industriellen Anfänge seit dem Mittelalter. Sie erinnern an die Epoche der Weber, Färber und Gerber, die hier Wolle, Leder und Papier herstellten und der Stadt durch ein wachsendes Textilgewerbe zu Wohlstand verholfen hatten. In den ersten Etagen waren Trockenräume. Heute sind es einfache Wohnhäuser. Projekte, sie anderweitig zu nutzen, sind in Planung. Das mit Stein, Holz und edlem Schwarz modernisierte „Grand HÔtel de Castres", erinnert an die Belle Époque des frühen 19. Jahrhunderts. Von der Terrasse oder am prasselnden Kamin genießt man kontemplativ den Blick auf die charmant morbide Kulisse am stillen Flussausläufer des Tarn. Zu Fuß erreicht man von hier den ehemaligen Bischofspalast, den Sonnenkönig Ludwig XIV. erbauen ließ. Das erklärt auch, dass der schmucke Bischofsgarten in Form der königlichen Lilie mit Versailler Handschrift angebaut wurde. Als einer der „jardins remarquables" wurde er in den Reigen der schönsten Gärten Frankreichs aufgenommen. Bemerkenswert ist aber auch die Tatsache, dass in dem heute hier verorteten Rathaus auch das Goya-Museum seinen Sitz hat. Die nach dem Louvre zweitgrößte Sammlung spanischer Malerei in Frankreich kann man hier bestaunen: Von Goya über Murillo bis Velasquez reihen sich die „alten" Spanier in ihrer goldenen Rahmung nebeneinander. Die Tatsache, dass um das 648 gegründete Castres im 9. Jahrhundert eine Festung rund um eine Benediktiner-Bastei erbaut wurde und der Jakobsweg nach Santiago de Compostela via Tolosana aus Arles an der Dame von Platé vorbeiführt, ist vielleicht ein Indiz für deren „spirituelle" Standhaftigkeit. Im „Midi", wie Südfrankreich genannt wird, ist das Carillon das einzige Glockenspiel, das ohne Unterbrechung seit 1847 manuell gespielt wird. Vom ersten Ton an haben alle Bénévole – Carillonneure jeden ersten Sonntag im Monat um die Mittagszeit die Glocken an den dicken Kordeln tanzen lassen. Auf der flämischen Tastatur unter dem Carillon haben sie das melodische Repertoire okzitanischer Lieder gespielt. Wenn es Jean Pierre Carme im „kleinen Finger juckt", legt sich der Glockenklang spontan auch mal wochentags über die Stadt. Die Liebe zu seinen 34 Glocken-Mädels hat ihn in den fast 50 Jahren nie wieder verlassen. Diesen fast ein halbes Jahrhundert alten „Service bénévole", empfindet er als seine eigentliche Berufung. Im echten Leben arbeitete er bis zu seiner Pensionierung bei einem Telekommunikationsunternehmen. Südfrankreichs dienstältester Glöckner kannte seinen Turm sogar noch im Originalzustand. 1972 wurden die Holzverstrebungen ersetzt und einige Jahre später die 15 Glocken eingeschmolzen. Die wurden zu 24 neuen gegossen und auf 33 ergänzt. Nur die alte Hugenottenglocke „Louise" aus dem Jahr 1650 ist im Original erhalten. Ende 1685, nach dem Widerruf des Edikts von Nantes, beschlagnahmte Ludwig XIV. die 600 Kilogramm schlanke „Grand Dame" und schenkte sie den Jesuiten. Die ersetzten die protestantischen Gravuren durch die Blumen von Lys (Französische Lilien), ihrem Ordenssymbol. Dem König zu Ehren wurde sie „Louise" getauft und fand in Castres ihren Platz. 2017 kam die 34. Glocke im Reigen dazu.
Im Pays Tarnais gibt es insgesamt nur drei von den alten Carillons: eines in Gaulène, das andere in der Sanctuaire Marial Notre Dame de La Drêche im gut 40 Kilometer entfernten Albi. Sie ist eine von sieben Kirchen, die Albis stattliche römisch-katholische Sankt-Cäcilia-Kathedrale umgibt. Als größte Backsteinkirche der Welt ist sie ein Besuchermagnet der Region. Das zum Hinknien schöne, in prächtigen Farben handgemalte Fresko von Modena und Bologna im Gewölbe ist das größte Werk der italienischen Renaissance in Frankreich. Beeindruckend auch die Darstellung des Jüngsten Gerichts auf der Westwand der Kathedrale. Die Stadt Albi kennen viele auch als die Geburtsstadt des Malers Henri de Toulouse-Lautrec – das Museum mit über 1.000 Werken und seinen bekannten Pariser Milieustudien befindet sich im ehemaligen Bischofspalast Palais de la Berbie. Lautrecs Familie besaß mehrere Schlösser und Weinberge in der Umgebung. Neben der naturgebetteten Ruine „Montfa" als Wanderziel wurden die Anwesen charmante Schlosshotels. Das traumhaft von Weinreben umgebene Château de Salette mit Restaurant in „Cahuzac sur Vère" ist ein traditionell geführtes Weingut mit Galliac-Lagen. Monsieur Carme fährt oft ins 45 Kilometer entfernte Albi und spielt mit der örtlichen Glockenspielerin Corinne Salles gern im Duett. Bald steht der traditionelle Höhepunkt des Jahres an. Der ist von einem weiteren runden Datum geprägt. Kurz vor seinem 75. Geburtstag wird der Glöckner in Castres acht Tage lang zum traditionellen „Nadalet" aufspielen. Das ist okzitanisch und ein Diminutiv für „Noel": kleines Weihnachten. Vom 17. bis 23. Dezember wird sich gegen 18.30 Uhr ein Grüppchen feierlich gestimmter Menschen am Fuße der Kirche treffen, Crêpes, Glühwein oder ein Gläschen Gaillac genießen und von dort oder oben dem 45-minütige Konzert lauschen (der Eintritt ist frei). Die Abfolge ist vorgegeben: Mit dem Weihnachts-„Zähler", dem nadal comptador, acht Miniglöckchen an einem Holzbalken – werden die Tage bis zum Fest gezählt. Diese Anzahl bestimmt die Frequenz eines repetitiven Einstiegsliedes, dem Stücke aus einem Repertoire an 200 internationalen Weihnachtsliedern folgen. Die französisch-okzitanischen Dialoge zwischen Engeln und Hirten hört man bis auf den großen Place Jean Jaurès. Hier findet bis Ende Dezember das jährliche Weihnachtstreiben mit einem Weihnachtsdorf, vielen Genussständen, multimedialen Lichtfresken und 1.001 Leuchtgirlanden statt. Auf dem Platz steht auch das Geburtshaus von Jean Jaurès, den die Castraisen als Volksheld feiern. Um die Jahrhundertwende wurde er mit nur 26 Jahren als jüngster Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt und engagierte sich lokalpolitisch.
Jean Pierre Carme ist eine Art lokaler Held
Jean Pierre Carme ist mit seiner Treue zu seinen Glocken und der Stringenz seines Spiels auch eine Art lokaler Held. Er bleibt bescheiden: „Louise" und ihren gusseisernen Schwestern gehöre doch die Bühne, sagt er. Die Lieder, die sie anstimmen, klingen nach Hoffnung und Frieden – und den brauchen die Menschen heutzutage ganz besonders. Der Ur-Klang einer Glocke hat etwas Magisches, das uns an unsere Kindheit erinnert. Wie ein vibrierender Teppich hallt er lange nach über das Pays de Tarn. Die Region mit ihren Basteien, Schlössern und Burgen bietet die passende Kulisse.