Toni Kroos spielt schon seit fast zehn Jahren für die Nationalmannschaft. Während sich seine Wegbegleiter nach und nach verabschiedeten oder ausgebootet wurden, ist der Mittelfeld-Star von Real Madrid immer noch dabei. Und das als feste Größe auf dem Weg zur EM 2020.
Als Toni Kroos im März 2010 – also vor fast genau zehn Jahren – sein erstes A-Länderspiel bestritt, war das noch eine andere Zeit. Im Tor stand René Adler, der Kapitän hieß Michael Ballack und zu den Stammkräften gehörten Spieler wie Cacau, Thomas Hitzlsperger oder Piotr Trochowski. Von den 25 Spielern, die beim damaligen 0:1 gegen Argentinien im Kader standen, ist aktuell sonst nur noch Manuel Neuer dabei.
Toni Kroos hat die Nationalmannschaft in diesem Jahrzehnt geprägt. 96 Länderspiele hat er absolviert, so viele wie Berti Vogts und mehr als Sepp Maier oder Karl-Heinz Rummenigge. Sein 100. Länderspiel könnte er ausgerechnet im ersten Gruppenspiel der EM 2020 feiern. Er ist Stellvertreter von Kapitän Neuer und hat trotz starker Konkurrenz auf seiner Position im defensiven Mittelfeld seinen Stammplatz sicher. Nach vier Champions-League-Siegen und einem WM-Titel eigentlich kein Wunder. Doch Kroos überstand auch den Umbruch nach der katastrophalen WM 2018. Während Mesut Özil zurücktrat, Sami Khedira nicht mehr nominiert wurde und Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller wenige Monate später von Bundestrainer Joachim Löw ausgemustert wurden, war der gebürtige Greifswalder immer über jeden Zweifel erhaben. Auch dass er am Ende des verkorksten DFB-Jahres 2018 zum „Fußballer des Jahres" gewählt wurde, war ein Zeichen, das bedeutete: An Kroos lag es trotz seines katastrophalen Fehlers im Spiel gegen Schweden (den er mit dem Siegtor in der Nachspielzeit wettmachte) am wenigsten, dass Deutschland in Russland in der Vorrunde ausschied.
Angeblich hatte der 29-Jährige einen Rücktritt durchaus ernsthaft erwogen, doch Löw überzeugte ihn zum Weitermachen. Und Kroos wusste, dass er gebraucht wird. „Grundsätzlich bin ich beim Bundestrainer, dass ein Umbruch im Team nötig war, da es mit der alten Besetzung wohl nicht mehr besser geworden wäre", sagte er später. Aber es sei schon wichtig, dass auch auf dem Spielfeld „jemand vornweg geht. Das kann der Manu im Tor nicht alleine."
Für Löw ist Kroos eine Korsettstange beim Neuaufbau, auch wenn die Leistungen des Stars von Real Madrid im Jahr nach der WM-Blamage selten überragend waren. „Toni führt die Mannschaft an", sagte Löw und fügte das ultimative Lob an: „Er ist ein Vorbild in seiner ganzen Art und Weise, wie er diesen Beruf sieht. Er arbeitet vor und nach dem Training für sich. Er ist top-professionell. Das sehen natürlich die jungen Spieler. Es ist gut, wenn man so ein Vorbild in der Mannschaft hat."
Als Führungsspieler mit natürlicher Autorität, aber ohne expliziten Machtanspruch, wird er eben auch von den jungen Nachrückern akzeptiert. Joshua Kimmich, so etwas wie das Sprachrohr der Next Generation und oft fast ein bisschen zu nassforsch in seinem Führungsanspruch, ordnet sich Kroos klaglos unter oder zumindest neben ihm ein. Zusammen bilden die beiden eine Doppel-Sechs, die am wenigsten als Schwachstelle in dieser Mannschaft zählt. Kroos lobte Kimmich als „Giftzwerg", der Bayern-Spieler erklärte im Gegenzug: „Mit Toni kommt schon eine gewisse Dominanz in unser Spiel."
„Aktuell gehören wir nicht zu den Titelfavoriten"
Hinzu kommt: Kroos ist nicht so eitel, ständig etwas sagen zu müssen. Als Dampfplauderer gilt er ebenso wenig wie als Selbstdarsteller in den sozialen Medien. Doch wenn der 29-Jährige falsche Entwicklungen erkennt, ist er der Erste, der sie anspricht. Und seine Meinung wird gehört. Als er im vergangenen September zu Leroy Sané befragt wurde, dessen Streichung aus dem WM-Kader nahezu kein Experte verstand, sagte Kroos: „Von seiner Köpersprache her hat man manchmal den Eindruck – gewinnen oder verlieren, nicht so schlimm. Aber das ist die Köpersprache. Ob es so ist, weiß ich nicht." Sané sei „grundsätzlich ein Spieler, der alles mitbringt, um absolute Weltklasse zu werden. Man hat aber das Gefühl, dass er gesagt bekommen muss, was zu tun ist, um das zu werden." Diese Rolle übernimmt Kroos offenbar mit. Ein Konter Sanés blieb ehrfürchtig aus. „Mir ist nicht alles egal", beteuerte er nur und fügte an: „Dass es für den einen oder anderen manchmal so aussieht, ist okay für mich." Und die anderen jungen Spieler wussten, woran sie waren.
Um weiter unumstritten sein zu können, muss Kroos natürlich seine Leistung bringen. Und das auf der Position, auf der Löw die meiste Auswahl hat. Doch aktuell befindet sich Kroos alles andere als im Formtief. Im November war er beim Spiel gegen Weißrussland (4:0), mit dem Deutschland das EM-Ticket löste, der überragende Mann auf dem Platz. Und auch in Madrid, das nach einem Umbau eigentlich eine holprige Saison spielt, überzeugt er. Nach Ansicht des Fachblatts „Marca" ist er so gut wie noch nie und sowieso der beste Deutsche, der je bei Real gespielt hat. Seine Vorgänger lauteten immerhin Paul Breitner oder Günter Netzer.
Kroos macht vieles mit Routine, selbst an schlechten Tagen ist er meist nicht richtig schlecht. Seine Technik und Ruhe sowie sein Organisationstalent auf dem Platz sind im DFB-Team derzeit einfach unverzichtbar. Er ist eben ein echter Stratege. „Er hat einfach eine überragende Orientierungsfähigkeit auf dem Platz", sagt Löw. „Er ist ständig Anspielstation, auch in Bedrängnis."
Und wie sieht der Führungsspieler die Chancen von Deutschland bei der Europameisterschaft im kommenden Jahr? „Wir haben gute Phasen. Das reicht, um gegen bestimmte Gegner zu gewinnen. Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir mehr Konstanz reinbekommen", sagt Kroos. „Natürlich fehlt noch Erfahrung, aber die Abläufe werden besser, wir sind auf einem guten Weg. Aktuell gehören wir nicht zu den Titelfavoriten. Aber das heißt ja nichts."
Nach einem Rückschlag wie dem WM-Aus, so der erfahrenste Feldspieler, müsse man sich „als Mannschaft zurückkämpfen. Und da sind wir mittendrin." Bei der Weltmeisterschaft sei das DFB-Team im Vorfeld und nach einer Quali mit ausschließlich Siegen zu sehr gelobt worden. „Vielleicht waren wir damals schlechter, als wir gemacht wurden", sagt Kroos. „Und vielleicht werden wir diesmal besser auftreten, als viele es vorher denken."