Das Inkrafttreten des Versailler Vertrags am 10. Januar 1920 ist die Geburtsstunde des Saargebiets. In den Anfängen war es aber lange auch ein mühsames Ringen um Demokratie und Selbstbestimmung und ein leidiges Hin und Her zwischen Deutschland und Frankreich.
Zu den schwerwiegenden Folgen, mit denen Deutschland die Niederlage im Ersten Weltkrieg bezahlen musste, gehörte der Verlust des Industriereviers an der Saar. Dieses aus vormals bayerischen und preußischen Landesteilen neu gebildete Territorium wurde im Friedensvertrag von Versailles vom Deutschen Reich abgetrennt, seine Verwaltung dem neu gegründeten Völkerbund und seine Kohlengruben als Entschädigung für erlittene Kriegsschäden Frankreich übertragen. Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags am 10. Januar 1920 – also vor 100 Jahren – begann die Geschichte des Saarlandes als einer eigenständigen Region in wechselndem politischem Kontext. Die Geburtsstunde des Saarlandes war jedoch keine Sternstunde der Demokratie und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Beides wurde den Menschen an der Saar erst 1955 in vollem Umfang zuteil.
Das Völkerbund-Experiment im Saargebiet begann am 10. Januar 1920 und dauerte 15 Jahre. Eine Zeit voller Konflikte zwischen der Bevölkerung und der Regierungskommission, die vom Völkerbund bestimmt und nicht vom Volk gewählt worden war. Die Saarländer lehnten die Abtrennung von Deutschland von Anbeginn als aufgezwungenes Unrecht ab. Schnell bildete sich eine Oppositionsfront sämtlicher Parteien und Verbände. Ihr Ziel war die Rückkehr der Region nach Deutschland.
Die Regierung in Saarbrücken war äußerst unbeliebt. Sie stand nach einem Wort des Weimarer Außenministers Walther Rathenau der Bevölkerung so fern, als hätte sie in einem anderen Erdteil ihren Sitz. Beharrlich widersetzte sie sich der Parteienforderung nach demokratischer Mitbestimmung. Erst auf Drängen der Weltöffentlichkeit schuf sie 1922 eine Volksvertretung, den „Landesrat". Doch der durfte keine Gesetze verabschieden.
Heftiger Protest gegen französischen Staat
Das Jahr 1923 stand im Zeichen des 100-Tage-Streiks der 72.000 Saar-Bergleute – ein Protest gegen den französischen Staat als Arbeitgeber und eine Geste der Solidarität mit den Kumpeln des Ruhrgebietes. Dort hatte gerade die Besetzung durch französische und belgische Truppen begonnen, der „Ruhrkampf". Die französische Grubenleitung ging rigoros gegen die Streikenden vor. Leute wurden entlassen, Grubenwohnungen gekündigt. Vergebens.
Schließlich verhängte die Regierung in Saarbrücken den Belagerungszustand. Scharfe Notverordnungen drohten Kritikern am Versailler Vertrag oder an der Regierung mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Eine drastische Beschneidung der Presse- und Meinungsfreiheit. Zeitungsverbote folgten. Das schlug hohe Wellen bis ins britische Unterhaus. Erst jetzt schritt der Völkerbundsrat in Genf ein und hob die Maßnahmen auf.
Ärger gab es auch in der Schulpolitik, weil die Grubendirektion auch die Kinder der saarländischen Belegschaft in die französischen Volksschulen („Ecoles Domaniales") drängte. Dort wurde in französischer Sprache und nach eigenen Lehrplänen unterrichtet. Die Grubendirektion lockte mit Lehr- und Lernmittelfreiheit und drohte den Bergleuten mit Entlassung oder Wohnungsverlust. „Französische Kulturpropaganda", unkten Einheimische. Ein bitterer Streit entbrannte, und wieder hagelte es Proteste, bis man nachgab.
Im Sommer 1925 erinnerten Gedenkfeiern an Rhein, Mosel und Saar an die 1.000-jährige Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Das ganze Saargebiet prangte im Fahnenschmuck. Überall Girlanden, Umzüge, Freudenfeuer und patriotische Lieder. Ein machtvolles Bekenntnis der Menschen zu ihren deutschen Wurzeln. Das schikanöse Einschreiten der Regierung verpuffte wirkungslos. Dem französischen Aufsichtsratschef der Saargruben, Arthur Fontaine, kam es vor, als seien die Würfel für die 1935 anstehende Volksabstimmung bereits gefallen.
Dann kam der 30. Januar 1933, Adolf Hitler wurde Reichskanzler. Unter dem Druck der NS-Diktatur zerbrach der bisher geschlossene Block der rückkehrwilligen Saarländer. Die bürgerlichen Parteien mitsamt der NSDAP blieben bei der Parole „Heim ins Reich", die Linksparteien und eine christliche Minderheit um den Journalisten Johannes Hoffmann plädierten für die Beibehaltung des Völkerbundregimes (Status quo), solange Hitler Deutschland regiere. Ein aussichtsloses Unterfangen.
90 Prozent votierten 1935 für Deutschland
Zu tief sitzend war der Groll der Saarländer gegen die Völkerbundregierung, zu ungebrochen ihr Nationalgefühl, zu ungleich auch die eingesetzten Propagandamittel. Am 13. Januar 1935 stimmten mehr als 90 Prozent der Saar-Wähler für Deutschland. Viele, wie Hoffmann in seinen Memoiren einräumte, trotz Hitler. Selbst im traditionell „roten" Bergmannsort Dudweiler konnten SPD und KPD nur ein Drittel ihrer Wähler von 1933 für den „Status quo" gewinnen. Am 1. März 1935 kehrte die Saar „heim ins Reich". Ein direkter Weg ins Verderben des Zweiten Weltkriegs.
Johannes Hoffmann hatte wie viele andere sein Eintreten für den Status quo mit Verfolgung und Exil bezahlt. Nach Kriegsende bot sich dem nun an die Regierung gelangten Christdemokraten die Gelegenheit, das Saarland – wie 1934/35 versprochen – zum Bestandteil eines demokratischen Deutschlands zu machen. Es kam anders. Nun setzte er, unterstützt von der Sozialdemokratischen Partei Saar (SPS), auf einen eigenständigen Saar-Staat im Fahrwasser Frankreichs. Dessen Kernmerkmale gab die von der französischen Besatzungsmacht auferlegte Präambel der Saar-Verfassung (1947) vor: politische Unabhängigkeit vom Deutschen Reich und Wirtschaftsanschluss an Frankreich.
Parteien, Gewerkschaften und Zeitungen, die das Saarland als Teil der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland sehen wollten, galten den Regierenden in Saarbrücken als prodeutsche Verfassungsfeinde. Sie durften im Saar-Staat des von 1947 bis 1955 amtierenden Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann nicht frei agieren. Statt auf faire politische Debatten setzten Hoffmann und seine Unterstützer auf Verbote und Bespitzelungen, Ausweisungen und Zensur.
Die repressiven Methoden zur Niederhaltung der prodeutschen Opposition beschäftigten jahrelang die deutsche und europäische Öffentlichkeit und belasteten die Beziehungen zwischen Bonn und Paris. Sogar der renommierte „Figaro" rief im Januar 1950 zur Umkehr auf: „Mit den Mitteln des Despotismus macht man keine freiheitliche Politik."
Erneute Abstimmung am 23. Oktober 1955
Erst am 23. Juli 1955 traten im Saarland die uneingeschränkten und für wahrhaft demokratische Staaten selbstverständlichen Freiheitsrechte in Kraft. Eine Folge des von den Regierungen in Bonn (Bundeskanzler Adenauer) und Paris (Premierminister Mendès-France) vereinbarten Saarstatuts, über das die Saarländer am 23. Oktober 1955 abstimmen sollten. Der Abstimmungskampf konnte beginnen. Er dauerte drei Monate und ließ die Wellen zwischen „Ja-Sagern" und „Nein-Sagern" hochschlagen. Verwandte zerstritten sich, Freundschaften gingen in die Brüche. Zu viel Groll hatte sich im zurückliegenden Jahrzehnt aufgehäuft. Man schenkte sich nichts. Übertreibungen und Schimpfwörter auf beiden Seiten. „Nationalisten" hier, „Separatisten" da. Würde ein Ja-Sieg die Abtrennung der Saar zementieren? Wem gebührte der Vorrang? Der Nation oder Europa? Die Prodeutschen wollten „Mit Deutschland nach Europa", Hoffmann erklärte: „In Europa wird sich die Saar wieder mit Deutschland zusammenfinden!"
Unablässig erinnerte die Nein-Seite an die jahrelange „Knebelung" der Freiheitsrechte in Hoffmanns Saar-Staat: an zensierte Zeitungen, abgehörte Telefone, bespitzelte oder ausgewiesene Oppositionelle. Der britische Boulevardjournalist Selfton Delmer verglich das Saarland mit einem Pulverfass. Wo nicht nur der Brite Nationalismus witterte, erblickten andere verständlichen Patriotismus. Selbst die Hoffmann-freundliche Zeitung „Le Monde" in Paris runzelte die Stirn (14.10.1955): „Wenn die Freiheit vorher unbekannt war, explodiert sie wie ein Feuerwerk am 14. Juli."
Im August 1955 löschte der 1. FC Saarbrücken im Vereinswappen die blau-weiß-rote Saarflagge und kehrte zu den alten Farben Blau-Schwarz zurück. Der Meinungsumschwung war komplett, das Ergebnis der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 – 67,7 Prozent Nein-Stimmen – eindeutig. „Herz und Verstand" („FAZ") hatten entschieden und den Wunsch der Saarländer verdeutlicht, zu Deutschland zu gehören und „als Deutsche unter Deutschen ihren Weg in die Zukunft zu gehen", beschreibt es Prof. Dr. Heinz-Otto Sieburg. Das Selbstbestimmungsrecht wurde auch von Frankreich respektiert, das Saarland als – damals elftes – deutsches Bundesland (1957) aus der Taufe gehoben.
Das Saarland wurde 1957 elftes Bundesland der Bundesrepublik
Die Prägung der saarländischen Denk- und Lebensart in den Aufbaujahren nach 1945 hinterließ bleibende Spuren. Man denke an die Strahlkraft der 1948 gegründeten Saar-Universität, an die Pflege der französischen Sprache, die Nähe des Landes zur französischen Kultur und Gastronomie und an das ausgeprägte Regionalbewusstsein der Menschen an der Saar.