Nicht nur im Onlineshopping, sondern auch schon im stationären Handel ist das virtuelle Anprobieren von Kleidung auf dem Vormarsch. Dem Versandhandel kann das erhebliche Retourenkosten, dem Kunden den nervigen Kleiderwechsel ersparen.
Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Synovate und des Lifestyle-Unternehmens Royal Philips gaben 65.000 Befragte vor fünf Jahren an, dass die winzigen, meist steril-hellen Umkleidekabinen das mit Abstand Unbefriedigendste beim Shoppen sind. Daraus hatten die Studienautoren den Schluss gezogen, dass ein angenehmes Ambiente beim Anprobieren ein unterschätzter Faktor beim Einkaufserlebnis ist. Dabei hatte schon vor gut 52 Jahren im Herbst 1967 ein gewisser Jean-Claude Bourdier, Chef einer Filmfirma namens „Audiovisuel France", ein optisches Umkleideverfahren ausgetüftelt und im Pariser Nobelkaufhaus „Au Printemps" den staunenden Kundinnen vorgeführt. Dank „magischem Spiegel" sollte sich das Hineinschlüpfen in Kleidungsstücke erübrigen. Der Clou dabei war, dass der Kopf der Kundin auf den visualisierten Körper von Mannequins gesetzt wurde und auf deren Körper danach eine Vielzahl von Klamotten per Knopfdruck aufprojiziert werden konnte. So konnten theoretisch 300 Kleider in einer halben Stunde begutachtet werden. Auch wenn seinerzeit vor allem amerikanische Luxusketten, hier aber auch Karstadt oder Hertie großes Interesse an der Erfindung angemeldet hatten. Damals war die Zeit für eine virtuelle Umkleide offenbar noch nicht reif.
Das hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Auch wenn noch nicht abzusehen ist, wohin genau die technische Reise in Sachen Virtual Reality (VR) führen wird. Innovative Start-ups experimentieren mit verschiedensten Technik-Spielereien – der Spiegel-Klassiker „Magic Mirrors" ist ebenso vertreten wie VR-Brillen, die früher nur unter Nerds verbreitet waren. Allerdings haben die Brillen den Nachteil, dass zum perfekten Eintauchen in die Dreidimensionalität auch die Klamotten mit einer speziellen Fototechnik bearbeitet werden müssen, was noch immer sehr kostenintensiv ist und daher nur von wenigen Häusern gestemmt werden kann.
Mit einer App lässt sich alles abwickeln
Im chinesischen Einzelhandel gibt es allerdings schon vernetzte Umkleidekabinen, sie könnten künftig auch hierzulande ein Vorbild für virtuelle Geschäfte werden. Doch auch in der Bundesrepublik gibt es schon erste Hightech-Stores, wo man/frau sich erste Eindrücke der neuen Einkaufswelt verschaffen kann. So hat beispielsweise Bonprix im Februar 2019 in Hamburg einen Pilot-Shop eingerichtet, dessen Konzept auf Basis des Smartphones auf einer Mischung von digitalem und analogem Shoppen beruht. Das Magazin „Stern" hat dem Laden im Frühjahr 2019 einen Testbesuch abgestattet. Vor dem Betreten des ultramodernen, mit zahllosen Flachbildschirmen ausgestatteten Shops mit Kleidungsstücken auf verchromten Ständern gilt es, mit der Bonprix-App einzuchecken. Die dient dann als digitaler Shopping-Assistent und begleitet den Kunden von den smarten Fitting-Rooms bis zum Bezahlen per Paypal und dem finalen Auschecken. Die Präsentation der Kleidung erinnert an eine Nobelboutique, obwohl es hier viele Stücke für kleines Geld gibt. Was gefällt, kann beim Schlendern in den virtuellen Einkaufskorb eingetippt werden. Die Auswahl wird auf Wunsch in Windeseile und in der richtigen Größe in großzügigen, auf individuellen Lichtgeschmack einstellbaren Umkleidekabinen bereitgelegt. Per Display können von hier aus auch andere Größen oder Alternativteile nachgeordert werden, die wie von Zauberhand in integrierten Umkleideschränken auftauchen.
Auch bei Zara hat, nach ersten Tests in Spanien, laut dem People-Magazin „Bunte" die von „Pokémon Go" bekannte Technologie namens Augmented Reality seit 2018 in ausgewählten deutschen Stores bereits mit einer speziellen App Einzug gehalten. Dafür muss das Smartphone nur auf ein favorisiertes Teil ausgerichtet werden, woraufhin die App sogleich anzeigt, wie genau das Kleidungsstück bei einem auf dem Bildschirm flanierenden Model aussieht. Laut der „Bunten" könnte die Technik künftig bei Zara mithilfe eines eingescannten persönlichen Fotos auf einen individuellen Avatar übertragen werden. Schließlich ist Zara in Sachen Augmented Reality auch online sehr aktiv. „Es war nie einfacher, sich durch verschiedene Looks zu probieren", so die „Bunte". „Aber wird sich Augmented Reality beim Shopping tatsächlich durchsetzen? Wir denken schon. Es wird vielleicht noch ein paar Jahre dauern, bis sich die neue Technologie perfektioniert hat. Im Moment steckt Augmented Reality noch in den Kinderschuhen."
Käufern fehlt online die „Anprobiermöglichkeit"
In Rostock und Warnemünde hat die Unternehmensgruppe Adcada schon seit gut einem Jahr die Eröffnung von Nobelboutiquen unter dem Namen „Fashion.Zone" mit digitalen Umkleidekabinen angekündigt. Ein Laden in Warnemünde ist zwar schon eröffnet, doch bislang wurde die Innovation namens „The Mirror" noch nicht präsentiert. Das Geheimnis um den Spiegel haben die Macher aber schon gelüftet. Man/frau muss sich einfach nur vor einen Riesenspiegel in der Kabine stellen, um sich dann die vorab ausgewählten Sachen auf den eigenen Körper maßgenau projizieren zu lassen. Das Umkleiden und Anprobieren soll dadurch komplett überflüssig werden. Rostock soll nur der Anfang sein, angeblich sind schon Filialen in Städten wie Hamburg oder Berlin fest geplant.
Noch größeres Interesse an virtueller Umkleidetechnik gibt es bislang schon im Onlinehandel, dem die Riesenzahl an Retouren heftig zu schaffen macht. Seit Jahren arbeiten für dieses Segment schon verschiedene Entwickler und Start-ups daran, eine Möglichkeit zu finden, wie potenzielle Kunden schon vor dem heimischen Computer Kleidungsstücke vor der Online-Bestellung „anprobieren" können. Anleihen aus der Videospielszene sind dabei gang und gäbe. Eine Szene aus der Kult-Komödie „Clueless" hat die Steilvorlage geliefert: Nachdem sich Cher (Alicia Silverstone) bestimmte Klamotten auf dem PC ausgesucht hat, werden diese auf einen auf dem Bildschirm erscheinenden Avatar ihrer selbst übertragen. So ähnlich funktionieren auch die meisten bisher vorgestellten Innovationen. Meistens müssen die Nutzer vorab Fotos aus verschiedenen Perspektiven hochladen und die Körpermaße eingeben, woraus ein Softwareprogramm dann eine Nutzerfigur virtuell modelliert. Es können aber auch vorgefertigte Modelle auf dem PC genutzt werden.
Noch kommen virtuelle Umkleidekabinen in der Praxis kaum zum Einsatz. Die Technologie ist noch nicht ausgereift. Vor allem Unternehmen wie Metail oder Body Labs arbeiten mit Hochdruck an einer perfekten Lösung. Auch das Start-up Zozo hat unlängst mit einem schwarzen Ganzkörperanzug samt 400 weißen Punkten für Aufsehen gesorgt. Mithilfe des Textils und mit der über die Zozo-App hochgeladenen Fotos verspricht das Unternehmen passgenau maßgefertigte Kleidung. Eine Umfrage ergab, dass nur von zwölf Prozent der Bundesbürger mal eine virtuelle Umkleide ausprobiert haben. Aber das Zukunftspotenzial dürfte riesig sein, wie eine weitere repräsentative User-Befragung ergeben hat, wonach 86 Prozent der Online-Käufer letztlich Abstand von der Bestellung nehmen, weil ihnen bislang die Anprobiermöglichkeit fehlt.