Die zu Beginn ihrer Karriere als „Märchentante" verunglimpfte Selma Lagerlöf war die erste Frau, die mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Auch für Frauenrechte setzte sie sich ein. Ihre Vorliebe fürs eigene Geschlecht wurde erst nach ihrem Tod vor 80 Jahren enthüllt.
Der 13. Dezember 1909 war ein ganz besonderer Tag für die Schriftstellerin Selma Lagerlöf und die bürgerliche Frauenbewegung Schwedens. Nur 24 Stunden nach dem offiziellen Nobelpreisbankett fanden sich im Wintergarten des „Hotel Royal" in Stockholm 1.200 Damen zusammen, um ihren Star hochleben zu lassen und gemeinsam auf den Literatur-Nobelpreis anzustoßen. Ohne die frühe mäzenatische Unterstützung seitens der Baronin Sophie Adlersparre und des von ihr 1884 gegründeten bürgerlich-feministischen Frauenverbandes „Fredrika-Förbunet" wäre die schnelle Karriere Lagerlöfs als freie Autorin wohl kaum möglich gewesen. Ihr Debüt-Roman „Gösta Berling" aus dem Jahr 1891 wurde dank Publikationshilfen und Stipendium-Vermittlung durch die Baronin lanciert und trotz anfänglicher Ablehnung der heimischen Literaturkritik zu einem Mega-Publikumserfolg.
Selma Lagerlöf kam am 20. November 1858 auf dem elterlichen Gut Marbacka in der heutigen varmländischen Gemeinde Sunne zur Welt. Sie wuchs zunächst wohlbehütet und von Gouvernanten unterrichtet im Kreis ihrer Geschwister auf, musste sich jedoch von Geburt an mit einer Hüftbehinderung auseinandersetzen. Diese führte zwischenzeitlich sogar zu einer Lähmung beider Beine, ließ sich aber nach vielen Arztbesuchen auf ein leichtes Hinken reduzieren. In ihren auf drei Bände verteilten und zwischen 1922 und 1932 erschienenen „Memoiren" hatte sie die Behinderung als eigentlichen Antrieb für ihre frühe Liebe zur Schriftstellerei beschrieben, die ständig durch die im Elternhaus rege gepflegte Erzähltradition gefüttert worden sei. Tatsächlich war das Schreiben neben dem Lehrerinnenberuf damals eine der wenigen Berufschancen, die einer bürgerlichen Frau, die wegen ihrer Behinderung nicht auf Versorgung durch einen Ehemann hoffen konnte, offenstanden.
Holgersson-Übersetzung brachte ihr genug Geld für Rückkauf des Guts
Die Trunksucht ihres innig geliebten Vaters, die das elterliche Gut zunehmend in den Niedergang trieb, veranlasste sie 1881 zum Besuch eines Stockholmer Mädchengymnasiums, um die Zulassung für ein Lehrerinnenseminar zu erhalten, das sie zwischen 1882 und 1885 erfolgreich absolvierte. Nach dem Tod des Vaters und dem Verlust des Gutes musste Lagerlöf mit ihrem Lehrerinnengehalt ihre Mutter und ihre jüngste Schwester mit versorgen. Dennoch nahm sie neben dem anstrengenden Schuldienst die Arbeiten an ihrem Erstlingsroman „Gösta Berling" auf. Dessen Erfolg eröffnete ihr die Möglichkeit, sich nach ihrem Umzug nach Falun 1897 ganz der Schriftstellerei widmen zu können. Zudem konnte sie so auf Auslandsreisen durch Europa und den Nahen Osten in Begleitung ihrer Freundin, der jüdischen Schriftstellerin Sophie Elkan, gehen. Literarische Produkte dieser Reisen waren ihr Roman „Die Wunder des Antichrist" 1897 und das zweibändige Roman-Opus „Jerusalem" aus den Jahren 1901 und 1902. Lagerlöf wollte mit dem Schreiben möglichst schnell genügend Geld verdienen, um das elterliche Gut zurückkaufen zu können. Die Erlöse aus der deutschen „Holgersson"-Übersetzung sollten ihr dies neben dem Erwerb ihres Faluner Wohnsitzes bereits 1907 ermöglichen. Das Nobelpreisgeld konnte sie zum großzügigen Aus- und Umbau von Gut Marbacka verwenden, wo sie eine wirtschaftlich kaum tragfähige Fabrik für Hafermehlproduktion einrichten ließ, um Arbeitsplätz für die Menschen im direkten Umfeld zu schaffen.
Die enge Beziehung zu Sophie Elkan hielt bis zu deren Tod im Jahr 1921, wurde aber zunehmend durch Eifersüchteleien belastet, die aus Lagerlöfs gleichzeitiger Liebe zur Studienrätin und Suffragette Valborg Olander heraufbeschworen wurden. Mit Olander, die die Star-Autorin bei ihrer Arbeit beispielsweise durch Manuskript-Lektorate unterstützte, hatte Lagerlöf wohl auch eine erotische Beziehung, wie aus ihrem Brief-Nachlass geschlossen werden konnte. Olander wurde von Lagerlöf selbst als „richtige Schriftsteller-Ehefrau" bezeichnet.
Lagerlöfs Ruhm wuchs mit jeder weiteren Veröffentlichung und erreichte im Jahr 1906 seinen Höhepunkt – ausgerechnet in einem Schulbuch. „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" wurde damals allein in Schweden 140.000 Mal verkauft. Noch wichtiger für die schwedische Autorin wurde allerdings der deutsche Markt mit seiner riesigen Lesergemeinde. Für ihre glühendsten heimischen Fans stand außer Frage, dass Selma Lagerlöf als erste Frau mit dem noch jungen, seit 1901 verliehenen Literaturnobelpreis ausgezeichnet werden musste.
Hesse, Zweig und Mann bewunderten sie
Die Schwedische Akademie sah sich fraglos auch mit einem gewissen Nationaldruck konfrontiert. Bei der ersten Nominierung 1904 war Lagerlöf noch gescheitert, bei der zweiten Nominierung 1908 herrschte aber große Siegeszuversicht, weil sich die Preisverleihung perfekt mit ihrem 50. Geburtstag hätte verbinden lassen. Doch es sollte noch ein weiteres Jahr dauern, ehe sich die Schwedische Akademie endlich für Lagerlöf aussprach. Die offizielle Begründung der Wahl „aufgrund des edlen Idealismus, des Fantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen" konnte nur unzureichend die Probleme überspielen, die das Nobelpreis-Komitee mit dieser Preisträgerin und ihrem Werk hatte.
Zum damaligen Zeitpunkt war noch nicht absehbar, dass „Gösta Berling" mal so etwas wie das schwedische Nationalepos werden sollte, und dessen Verfilmung 1924 Greta Garbo den Aufstieg zur Leinwand-Göttin verdankte. Den Nobelpreis für ein 500 Seiten starkes Schulbuch zu vergeben, das als neue Pflichtlektüre für den Landeskundeunterricht von Schwedens Allgemeinem Volksschullehrerverband bei Lagerlöf bestellt worden war, konnte man sich wohl kaum trauen. Wohl bewusst war man sich in der Akademie allerdings der Einwände, die gegen eine Nobelpreisträgerin Lagerlöf erhoben werden konnten.
Ihre in vielen Werken verwendete patchwork-ähnliche Erzähltechnik mit häufig nur lose verwobenen Handlungssträngen war fraglos nicht jedermanns Geschmack. Dann gab es ihren ganz persönlichen Erzählstil, der ihr den wenig schmeichelhaften Namen „Märchentante" eingebracht hatte. Damit nicht genug war die Welt der heimischen Märchen, Sagen, Spukgeschichten oder Legenden für Lagerlöf ein schier unerschöpflicher Fundus, um ihre neuromantische Heimatliteratur zu schaffen. Diese wurde von ihrem größten heimischen Kontrahenten August Strindberg, dem Vertreter eines neuen sozialkritischen Realismus, für nicht mehr zeitgemäß, sondern als epigonenhaft deklariert.
Dass Lagerlöf ihren Lesern neben all dem Fantastischen auch tiefe Einblicke in Schwedens tatsächliche Landschaft, Natur, Kultur und Volksseele verschaffte, darf dabei aber ebenso wenig übersehen werden wie ihr erzählerisches Interesse an Psychologischem rund um Schuld und Sühne oder auch an religiösen Thematiken. Nur die heißen sozialpolitischen Eisen ihrer Zeit fasste Lagerlöf in ihrem Werk nicht an, auch der Feminismus schlug sich allenfalls in starken Frauenfiguren nieder. Immerhin wagte sie es in einem ihrer späteren Werke, dem 1918 veröffentlichten Antikriegsroman „Das heilige Leben", einen Kuss zwischen Frauen einzuflechten und damit indirekt einen winzigen Hinweis auf ihre eigenen sexuellen Neigungen zu geben.
Sie starb an den Folgen eines Schlaganfalls
Im deutschsprachigen Raum gehörten Literatur-Giganten wie Hermann Hesse, Stefan Zweig oder Thomas Mann zu ihren glühenden Bewunderern. Hermann Hesse erhob sie sogar über alle Kollegen: „Es lebt zurzeit kein Dichter, der auch nur annähernd diese epische Kraft besitzt." Thomas Mann huldigte ihr zu ihrem 75. Geburtstag mit folgenden Worten: „Mit Selma Lagerlöfs epischer Urbegabung verbindet sich eine Reinheit der menschlichen Gesinnung, einer geistigen Güte, die in meinen Augen ihr natürliches Genie doppelt verehrungswürdig macht."
Dass ihr heimatverbundenes Werk auch bei den Nazis hochgeschätzt wurde, bewahrte ihre Bücher vor dem Scheiterhaufen auf ihrem wichtigsten Absatzmarkt. Und das, obwohl sie den braunen Schergen als Privatperson aufgrund ihrer öffentlich bekundeten Antikriegshaltung, ihrem Eintreten für Frauenrechte, ihrem Einsatz für die Unterstützung verfolgter Juden und nicht zuletzt wegen der von ihr initiierten Rettung der jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs ins schwedische Exil ein Dorn im Auge war.
Beim bürgerlichen Publikum blieb Lagerlöf, die 1914 zum ersten weiblichen Mitglied der Schwedischen Akademie gewählt wurde, bis zu ihrem Lebensende ein gefeierter Star. Sie lieferte immer wieder neuen Lesestoff wie etwa die Roman-Trilogie rund um die Familie Löwensköld aus den Jahren 1925 bis 1928. Am 16. März 1940 starb Selma Lagerlöf auf ihrem geliebten Gut Marbacka nach einem schweren Schlaganfall.