Neue Flüchtlingskrise: Die EU darf sich nicht von Erdogan erpressen lassen
Er hat es also getan. Viele Monate lang hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Verbal-Knüppel geschwungen. Er werde „die Tore öffnen" und wahlweise Flüchtlinge oder islamistische Terroristen nach Europa schicken, polterte er immer wieder. Jetzt hat er seine Drohung wahr gemacht. Die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland ist seit rund einer Woche offen – dank Erdogan.
Der zwischen der EU und der Türkei im März 2016 geschlossene Flüchtlings-Deal ist damit de facto tot. Er sah vor, dass die Regierung in Ankara hart gegen die Schleuser in der Ägäis vorgeht und nach Griechenland gelangte syrische Migranten zurücknimmt. Als Gegenleistung sollten in gleicher Zahl syrische Flüchtlinge aus der Türkei an die EU überstellt werden. Dieses Abkommen hatte zu einer drastischen Reduzierung des Ansturms an Menschen geführt. Nun ist es Makulatur.
Ja, die EU hat Fehler gemacht. Die in dem Vertrag mit Ankara vorgesehene Überweisung von sechs Milliarden Euro für Hilfsprojekte in der Türkei – der Bau von Unterkünften oder Schulen für Migranten – verlief schleppend. Angesichts der gewaltigen Last, die das Land bei der Aufnahme von mehr als vier Millionen Flüchtlingen zu schultern hat, ist die Summe gering. Europa hätte großzügiger sein müssen. Insofern ist Erdogans Appell für eine „faire Lastenteilung" nachvollziehbar.
Doch das rechtfertigt nicht sein zynisches Spiel mit den Migranten. Der Präsident hat sich durch seine nationalistische Außenpolitik in eine Sackgasse geritten. Erdogan bekam zwar für die Errichtung einer von der Türkei kontrollierten Pufferzone in Nordsyrien grünes Licht von Russlands Staatschef Wladimir Putin. Dabei arbeitet er mit islamistischen Milizen wie dem Al-Kaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zusammen, der in der Provinz Idlib die letzte verbliebene Opposition gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad anführt. Das wiederum kollidiert mit Putins Interesse, Assad unter allen Umständen im Sattel zu halten.
Erdogan hat sich verkalkuliert. Die Waffenbrüderschaft mit Moskau ist für ihn kein politischer Blankoscheck. Putin benutzt Erdogan, um das Nato-Mitglied Türkei an sich zu binden und das Bündnis so zu spalten. Doch noch wichtiger ist für Putin, Syrien als staatliche Einheit zu erhalten. Dafür stützt er Assads Armee, die in Idlib Rebellendörfer einkreist, aushungert und knapp eine Million Menschen in die Flucht treibt.
Erdogan befindet sich in einem Mehrfrontenkrieg. In Syrien muss er blutige Verluste hinnehmen. Gleichzeitig wächst im eigenen Land der Widerstand gegen die Migranten, die für viele Türken zu unliebsamen Konkurrenten um Arbeitsplätze geworden sind. Um den Unmut zu mindern, hat Erdogan die „Tore geöffnet".
Die EU darf sich von dem türkischen Präsidenten nicht erpressen lassen. Eine Politik der offenen Grenzen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Herbst 2015 propagiert hatte, ist indiskutabel. Es wäre ein Signal für Millionen Menschen in Syrien, im Irak, in Afghanistan oder in Zentralafrika, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat bereits vor „Massenmigrationsströmen nach Griechenland" gewarnt.
Die EU sollte nun alles daran setzen, ihre Außengrenzen zu schützen. Die Gemeinschaft muss dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis unter die Arme greifen; sein Land hat derzeit den größten Einwanderungsdruck auszuhalten. Die angekündigte Entsendung von Frontex-Personal nach Griechenland ist ein erster Schritt. Möglicherweise sollten noch Polizeikräfte von einzelnen EU-Staaten dazukommen.
Nur so kann verhindert werden, dass ein unkontrollierter Ansturm an Flüchtlingen die Bevölkerung überfordert. Dies würde nur den Rechtspopulisten weiteren Auftrieb verleihen. Die Forderung von Grünen-Chefin Annalena Baerbock, Deutschland solle eine „Koalition der Willigen" anführen und zunächst 5.000 Migranten aufnehmen, ist vor diesem Hintergrund naiv.
Besser wäre es, wenn die EU und Deutschland Flüchtlingen vor Ort – vor allem in Syrien – finanziell helfen. Zudem müsste Europa viel mehr tun, um den politischen Prozess für Stabilisierung und Neuaufbau der Krisenländer voranzutreiben. Zu oft wurde in der Vergangenheit eine reine Appell-Außenpolitik betrieben. Die ist moralinsauer, aber wirkungslos.