Beim Windkraftgipfel im Kanzleramt geht es um nichts weniger als um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ein Zauberwort dabei: Wasserstoff. Der soll an der deutschen Nordseeküste und nicht im Wüstensand hergestellt werden.
Dr. Patrick Graichen hält sich bei seinen Vorträgen nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf und kommt gleich zur Sache. „Wir können uns beim Wasserstoff nicht nur auf Importe verlassen, sondern sollten diesen selbst herstellen“, sagt der Direktor der Agora Energiewende gGmbH in seinem Impulsvortrag vor Vertretern der deutschen Windenergiebranche Anfang März. Graichen geht damit direkt auf Konfrontationskurs zu Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Der hatte kürzlich darauf verwiesen, dass Wasserstoff sicherlich der Rohstoff der Zukunft sei und über kurz oder lang Benzin und andere vergleichbare Kraftstoffe ersetzen würde. Doch die Wasserstoffgewinnung verlegte Altmaier ursprünglich in den Wüstensand Arabiens und Nordafrikas. Dort könnte man tatsächlich grünen Wasserstoff mithilfe von Solarenergie gewinnen und den kostbaren Rohstoff dann nach Deutschland bringen. Dies halten die Mitglieder des Thinktanks Agora Energiewende für keinen besonders klugen Plan, weil der massenhafte Import von Wasserstoff auf Dauer viel zu teuer würde. Im Übrigen würde sich Deutschland unnötig in Abhängigkeit anderer Staaten begeben, sagt Agora-Direktor Graichen.
Sein Vorschlag klingt nach mehr als nur nach Energiewende, er hat schon etwas Revolutionäres. Deutschland soll seine Energiewende von fossilen Trägern auf Wasserstoff selbst stemmen – und zwar mithilfe von Windkraft vor allem an der Nord- und Ostseeküste. Dabei machen die Agora-Planer aus der Not eine Tugend. Da es auch in den kommenden Jahren durch fehlende Stromleitungen nicht möglich sein wird, die Windkraftenergie von der Küste quer durch die Bundesrepublik zu transportieren, sollte der gewonnene Strom direkt an der Küste zu Wasserstoff veredelt werden. Den Wasserstoff könnte man dann über ein Pipelinesystem in ganz Deutschland verteilen. Um dieses Wasserstoff-Pipelinesystem wird man in Zukunft ohnehin nicht herumkommen, egal ob der Wasserstoff nun aus Nordafrika oder von der deutschen Nordseeküste stammt. Patrick Graichen geht davon aus, dass diese Technik innerhalb von zehn Jahren zu installieren sei.
Aber die Agora-Denkfabrikanten gehen noch einen Schritt weiter. In absehbarer Zeit sei es möglich, auch auf hoher See schwimmende Windräder zu installieren, die nicht mehr auf dem Meeresboden durch Fundamente gesichert werden müssen. Damit würde eine wesentlich größere Fläche für die Energiegewinnung durch Windstrom möglich, zeigt sich Graichen geradezu begeistert. Laut einer Agora-Studie würde allein die Windfläche der Nordsee ausreichen, um den weltweit benötigten Strom herzustellen. „Natürlich wollen wir jetzt nicht die ganze Nordsee mit Windrädern vollstellen, aber mit schwimmenden Windrädern hätten wir ganz andere Kapazitäten zur Verfügung, sagt Graichen im FORUM-Gespräch. Mit diesen schier unermesslichen Kapazitäten ließe sich unter anderem wirklich grüner Wasserstoff produzieren. Der Vorteil klingt zunächst einleuchtend: Bekommt man den Windstrom von der Küste nicht per Netz weg, dann wird er eben als Wasserstoff gespeichert.
Massenhafter Import wäre auf Dauer zu teuer
Nun ist auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier auf den Wasserstoffzug aufgesprungen und hat seinen Entwurf für eine nationale Wasserstoffstrategie ausgearbeitet. Laut dem Papier will Altmaier dafür bis 2026 weitere 1,4 Milliarden Euro für Forschung- und Entwicklung im Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie vergeben. Dazu sollen unter anderem „Reallabore der Energiewende“ gegründet werden, die dazu in den kommenden fünf Jahren noch einmal Fördergelder von bis zu 600 Millionen Euro bekommen könnten. Damit soll Deutschland in Sachen Energiewende doch noch zukunftssicher gemacht werden. Wörtlich heißt es in dem Papier aus dem Bundeswirtschaftsministerium: „Die Vorreiterrolle deutscher Unternehmen im Bereich der Wasserstofftechniken soll ausgebaut werden, um so neue Wertschöpfungsketten für die deutsche Wirtschaft zu schaffen und zur Erreichung der Klimaziele beizutragen.“ Vor allem grüner Wasserstoff soll zukünftig als förderwürdig eingestuft werden, um bis 2030 mindestens 20 Prozent des nationalen Bedarfs mithilfe erneuerbarer Energien zu decken. Drei bis fünf Gigawatt an Elektrolyseleistung sollen dazu in einem ersten Schritt aufgebaut werden. Dazu soll vor allem Windstrom benutzt werden, so die Strategie, die allerdings noch von der Bundesregierung abgesegnet werden muss. Denn aus Sicht des Kanzleramts sei nur CO₂-frei hergestellter Wasserstoff auf Dauer nachhaltig.
Doch um dieses Ziel erreichen zu können, muss beim Windstrom reichlich nachgelegt werden. So sollen in den kommenden zehn Jahren allein 20 Gigawatt Offshore-Windstrom installiert werden, doch selbst dieses Ziel ist derzeit noch überhaupt nicht in Sicht. „Um einen herkömmlichen Windpark auf See zu installieren, braucht man von den ersten Planungsschritten bis zur Inbetriebnahme gut und gerne zehn Jahre“, rechnet Catrin Jung vor. Die Interimschefin Offshore des Energiekonzerns Vattenfall geht vor allem mit der deutschen Bürokratie hart ins Gericht. „In Dänemark oder England gehen Planung und Bau von Windenergieanlangen wesentlich schneller.“ Wenn man tatsächlich zukünftig aus Wind vom Meer grünen Wasserstoff als Ersatz für Benzin machen will, „sollte man sich ins Zeug legen“, sagt Catrin Jung.
Und dies gilt nicht nur für die Windenergieanlagen auf dem Wasser, sondern erst recht für die Anlagen an Land, sagt Hermann Albers. Er ist Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie. Er ist damit Deutschlands oberster Aufseher über 30.000 Windräder, wobei der Großteil der Anlagen an Land steht. „Wir brauchen pro Jahr einen Zubau von 4.500 Megawatt an Windkraftanlagen, doch in 2019 haben wir nicht mal 1.000 geschafft. Wie wollen Sie da eine Energiewende schaffen?“ Die Akzeptanzprobleme bei der Bevölkerung für Windräder auf dem Land hätte man längst im Griff haben können, sagt Albers. „Wir sind doch bereit, die Kommunen, Gemeinden, aber auch die Bürger direkt an den Erträgen der Windräder zu beteiligen.“ Ein Windrad-Bürgergeld soll für erhöhte Akzeptanz an Land sorgen. Doch das ist nicht so einfach, denn die Politik befürchtet, wenn man erst mal Schweigegeld für den Bau von Windrädern zahlt, könnte das zukünftig auch für den Bau von Strom- und Eisenbahntrassen und vieles mehr gefordert werden, wo sich jetzt noch erbitterter Widerstand vor Ort findet.
Will man tatsächlich aus Windenergie zukünftig Wasserstoffenergie herstellen, braucht es finanzielle Anreize für die Bevölkerung, sagt Hermann Albers. „Die Bürger müssen endlich in den Genuss des preiswert hergestellten Windstroms kommen. Wenn Ökostrom viel teurer ist als der konventionelle, dann ist das für die Akzeptanz nicht gut“, geht der Chef des Bundesverbandes mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ins Gericht. In diesem Punkt sieht auch Stefan Thimm dringenden Handlungsbedarf. Er ist der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Windparkbetreiber und fordert eine Umstellung des EEG. „Das Prinzip der gleitenden Marktprämie ist durch die Einführung der CO₂-Steuer im kommenden Jahr nicht länger haltbar, da sonst der Strom für die Verbraucher dann noch teurer wird.“ Bereits jetzt zahlen die Verbraucher in Deutschland im europäischen Durchschnitt die mit Abstand höchsten Strompreise. Deshalb muss die CO₂-Steuer zukünftig mit der EEG-Umlage verrechnet werden, ansonsten würde auch die Akzeptanz für Windkraftwerke zu Land und zu Wasser durch die Verbraucher nicht wirklich besser – doch ohne konsequente Ausbeutung der Windkraft keine Energiewende und damit auch kein bezahlbarer Wasserstoff für die Fortbewegung in der Zukunft.