Helmut Kohl gilt als Kanzler der Einheit und als Verfechter eines geeinten Europas. Doch der Altkanzler war auch ein eiskalter Machtmensch, der bedingungslose Loyalität verlangte, die auch vor der eigenen Familie nicht Halt machte. Anfang April wäre er 90 Jahre alt geworden.
Lange wurde Helmut Kohl belächelt und unterschätzt. Wegen seiner „provinziellen" Herkunft, dem angeblichen Mangel an Intellekt und seiner als Kleinkariertheit gedeuteten Volksnähe. Vom Amt des CDU-Ministerpräsidenten in Mainz wechselte der „schwarze Riese" in den Bonner Bundestag, wo er sich als Oppositionsführer und Gegenspieler von SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt profilierte. 1982 gelang dem Christdemokraten über ein konstruktives Misstrauensvotum der Sprung ins Kanzleramt. Dort regierte er 16 Jahre von 1982 bis 1998, zwei Jahre länger als sein großes Vorbild Konrad Adenauer. Der erste Bundeskanzler hatte es auf 14 Regierungsjahre (1949 bis 1963) gebracht.
Höhepunkt der politischen Karriere Helmut Kohls war die Wiedervereinigung des seit Kriegsende geteilten Deutschlands im Jahr 1990. Vor allem im Ausland wird der Staatsmann als Kanzler der deutschen Einheit und großer Europäer gefeiert. Hierzulande reiben sich noch viele an ihm wegen der Parteispendenaffäre (1999). Ob deren Schatten auf Dauer die Lebensleistung Kohls zu trüben vermag, wird die Zukunft zeigen. Denn wahre historische Größe zeigt sich erst im größeren Zeitabstand.
Helmut Kohls Wurzeln liegen in Ludwigshafen am Rhein, wo er am 3. April 1930 – also vor 90 Jahren – geboren wurde und mit zwei Geschwistern aufwuchs. In seiner pfälzischen Heimat erlebte er als Jugendlicher die Unterdrückung durch die Nationalsozialisten, den Bombenterror und die hoffnungsvollen Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Er engagierte sich früh in der Jungen Union und war bereits 1955 Mitglied im CDU-Landesvorstand von Rheinland-Pfalz. Dem Studium der Geschichte und Staatswissenschaften folgte 1958 in Heidelberg eine Doktorarbeit. Deren Thema passte zur künftigen Karriere des Politikers: „Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945."
Für Professor Hans-Peter Schwarz, seinen Biografen, verkörperte Helmut Kohl den Idealtyp des durchsetzungsfähigen „Partei-Tiers" mit einer „Bilderbuch-Parteikarriere vom Plakatkleber zum Parteichef". Ralf Georg Reuth schildert den „Machtmenschen aus der Pfalz" als einen Modernisierer mit klarem Blick für die Realitäten, der von seinen Gefolgsleuten unbedingte Loyalität verlangte. Wer es daran mangeln ließ, wie etwa Heiner Geißler 1989 als CDU-Generalsekretär, wurde abserviert. Kohl war der Prototyp eines Alleinherrschers, der für die Partei wie ein Vater sorgte, aber zu Eiseskälte fähig war. Die CDU war Kohls Heimat und Familie, das Kraftzentrum seines politischen Erfolgs. Mit ihrem Innenleben bis zur Parteibasis war der Vieltelefonierer auch während seiner Kanzlerzeit bestens vertraut.
Bekenntnis zu seinen pfälzischen Wurzeln war große Stärke
Die Pfalz mit ihrem überragenden historischen Erbe war für den in historischen Dimensionen denkenden Politiker kein Hort provinzieller Rückständigkeit. Sie spiegelte in seinen Augen vielmehr den kulturgeschichtlichen Reichtum einer deutschen Region. Hier erhebt sich der mehr als 900 Jahre alte Speyerer Dom, einst das größte Gotteshaus des christlichen Abendlandes. Ein steinernes Monument der gemeinsamen Kultur Europas in Glaube, Wissenschaft und Kunst. Hier kündet das Hambacher Schloss von der größten Freiheitskundgebung (1832) des 19. Jahrhunderts. Die Vielfalt solcher „Provinzen" bereichere jede Einheit. Auch das wiedervereinigte Deutschland und das friedlich zusammenlebende Europa. In diesem Sinne schlug Kohl den Bogen von den eigenen Wurzeln zur Zukunft des europäischen Kontinents: „Die Pfalz ist meine Heimat, Deutschland mein Vaterland und Europa unsere Zukunft."
Als es in den 50er-Jahren um die nationale Identität der Saarländer ging, war auch der junge Helmut Kohl dabei. Vor der Saar-Abstimmung von 1955 rührte er – unterstützt von Freundin Hannelore – die Werbetrommel gegen das Pariser Saarstatut und für die Saar als Teil der Bundesrepublik. Das Kalkül der prodeutschen Saar-Parteien und die Karrierepläne des ehrgeizigen Wahlhelfers gingen auf. Die Saar wurde 1957 deutsches Bundesland, und Helmut Kohl beerbte den keineswegs amtsmüden CDU-Ministerpräsidenten Peter Altmeier als Partei- und Regierungschef. Ministerpräsident Franz-Josef Röder (CDU) in Saarbrücken begegnete dem machtbewussten Newcomer Kohl eher kühl, wegen der nicht sehr rücksichtsvollen Art, wie dieser seinen Vorgänger aufs Altenteil abgeschoben habe. Und wegen seines – auch lange von Altmeier geteilten – Appetits auf das kleine Saarland als eine Art Provinz von Rheinland-Pfalz.
Kohl dagegen pflegte freundschaftliche Kontakte zu Röders innerparteilichen Rivalen Scherer und Zeyer. Der bundesweit angesehene Kultusminister Werner Scherer galt lange als Röders „Erbprinz". Als er mit 57 Jahren einem Herzinfarkt erlag, würdigte ihn Kanzler Kohl in der Neunkircher Marienkirche als einen „verlässlichen Freund". Er habe Flagge gezeigt und Wegweiser nicht nur aufgestellt, sondern auch beispielgebend befolgt. Die Devise der Wiedervereinigungspolitik Kohls.
Diese war Ausdruck der Gradlinigkeit, die nach Professor Henning Köhler Kohls Lebensweg bestimmte. Hinzu traten die von dem Soziologen Max Weber in seinem berühmten Münchener Vortrag „Der Beruf zur Politik" (1919) postulierten Merkmale eines charismatischen Politikers: Leidenschaft, Augenmaß und Geduld. Letztere wurde von Kritikern des Kanzlers oft als Führungsschwäche und Problem-Aussitzen gedeutet. Bismarcks Diktum „Man muss die Dinge sich entwickeln lassen" kam ihnen nicht in den Sinn.
Die Gunst der Stunde eindrucksvoll genutzt
Trotz pragmatischer Zusammenarbeit mit der als Unrechtsstaat betrachteten DDR Erich Honeckers hielt Kohl am Ziel der Wiedervereinigung fest. Die politische Linke und die Altachtundsechziger nahmen die Teilung hin. Auch SPD-Spitzenmann Oskar Lafontaine – seit 1985 Regierungschef in Saarbrücken und 1990 Kanzlerkandidat seiner Partei – war ein Gegner des von Kohl beschrittenen Weges zur Wiedervereinigung. Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ergriff Bundeskanzler Kohl den „Mantel der Geschichte" und ebnete mit der neuen, nun demokratisch legitimierten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière und im Einvernehmen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs den Weg zur Einheit. „Fortüne und Gottes Hilfe", ganz im Sinne Machiavellis, seien Kohl zuteil geworden, schreibt Ralf Georg Reuth.
Am 3. Oktober 1990 wurde die Einheit Wirklichkeit. Eine Sternstunde der deutschen Geschichte. Der lange unterschätzte Kanzler hatte – mit den Worten des Brandt-Vertrauten Egon Bahr – die Gunst der Stunde „mit Mut und Augenmaß" genutzt. Unvergessen der Jubel begeisterter DDR-Bürger vor der ersten freien Volkskammer-Wahl 1990: „Helmut Kohl – unsere Alternative zu 57 Jahren Barbarei". Oder kurz: „We like Birne". Die 1998 auf EU-Ebene beschlossene Einführung des Euros betrachtete Kohl – im Gegensatz zu vielen Deutschen, die an der D-Mark hingen – als einen angemessenen Preis für die deutsche Einheit. Das schrieb er später in seinem Buch „Aus Sorge um Europa" (2014).
Letzte Lebensjahre waren geprägt von vielen Streitereien
Die „Ära Kohl" endete 1998, als Gerhard Schröder Kanzler wurde. Der Altkanzler starb im Sommer 2017, 87-jährig, im heimatlichen Oggersheim. Infolge eines schweren Sturzes 2008 konnte er sich zuletzt kaum noch öffentlich artikulieren. Der erschütternde Freitod seiner Frau Hannelore im Jahr 2001, familiäre Verwerfungen, Rechtsstreitigkeiten mit seinem Ghostwriter Heribert Schwan und die Folgen der CDU-Parteispendenaffäre verdunkelten seinen Lebensabend. Helmut Kohl fand seine letzte Ruhestätte unweit des Kaiserdoms zu Speyer am Rhein. Sein Name werde „auf alle Zeit" mit der deutschen Wiedervereinigung verbunden bleiben, würdigte ihn CSU-Chef Horst Seehofer.
Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) nannte den Verstorbenen „einen wirklich großen Deutschen und vor allem großen Europäer". Rücksicht auf die Befindlichkeiten der europäischen Partner, gerade auch der kleineren, sei dem „Ehrenbürger Europas" stets selbstverständlich gewesen, bestätigte aus eigener Erfahrung Luxemburgs Ex-Regierungschef Jean-Claude Juncker. Vor einsamen Beschlüssen hatte der greise Altkanzler bis zuletzt gewarnt.