Fast die Hälfte der Einwohner im Bezirk Neukölln ist zugewandert. Damit sich vor allem arabisch- und türkischsprachige Mütter nicht in einer Parallelwelt abschotten, stehen ihnen ausgebildete Stadtteilmütter zur Seite. Samar B. ist eine von ihnen.
Samar B. lächelt einen Augenblick, als sie das Zeugnis hervorzieht und in die Höhe hält. Ihren vollständigen Namen will sie nicht veröffentlicht sehen, denn sie fürchtet mögliche Anfeindungen. Das Dokument bescheinigt, dass sie die Qualifizierung zur Stadtteilmutter erfolgreich absolviert hat. Seit September 2017 arbeitet die gebürtige Libanesin 30 Stunden in der Woche im Stadtteilmütter-Projekt mit, ihre Arbeitsmaßnahme läuft noch bis 2021. Danach würde sie gern weiterarbeiten, doch das ist noch ungewiss. „Viele meiner Freundinnen und meine Nachbarin arbeiten als Stadtteilmutter. Das hat mich inspiriert", erzählt die 44-jährige Palästinenserin, die selbst von einer Stadtteilmutter über verschiedene Kinder- und Familienthemen informiert wurde.
Das Diakoniewerk Simeon, ein staatlich anerkannter evangelischer Jugendhilfeträger, qualifiziert als Projektträger arbeitslose Migrantinnen – vor allem aus der Türkei und dem Nahen Osten – in einem sechsmonatigem Kurs zu Themen der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Gesundheit. Erklärtes Ziel des Projekts ist es unter anderem, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken und sie auf Angebote im Bezirk aufmerksam zu machen.
Doch zurück zu Samar B. 1989 flüchtete sie mit ihrer Familie aus dem Libanon nach Deutschland. Die libanesische Bevölkerung erlebte zur damaligen Zeit den ersten Bürgerkrieg in der Geschichte des Staates im Nahen Osten. Zunächst lebte Samar B. in Oer-Erkenschwick, einer Kleinstadt in der Nähe von Dortmund – in einen Wohnheim. Ihre Familie durfte erst mal nur drei Jahre in Deutschland bleiben. Mit 18 heiratete sie ihren Mann, zog zu ihm nach Lübeck, wo sie ihre älteste Tochter zur Welt brachte. Mitte der 90er-Jahre zog die Kleinfamilie dann nach Berlin, denn hier lebte schon ein Teil der Familie ihres Ehemannes. „Heute ist Berlin meine Heimat. Als Palästinenserin fühlte ich mich im Libanon wie eine Ausländerin", erzählt die Neuköllner Stadtteilmutter.
In Eltern-Cafés an Schulen, Kitas, Familienzentren macht Samar B. wie ihre Teamkolleginnen Werbung für die kostenlosen Angebote der Stadtteilmütter, seien es Veranstaltungen zu einem Schwerpunktthema oder regelmäßige Verabredungen mit den Frauen. „In Schulen und Kitas ist man fest verabredet, da geht man nicht einfach so vorbei. Die Treffen finden regelmäßig statt, damit für beide Seiten Verlässlichkeit hergestellt ist", betont Muna Naddaf, Regionalleiterin des Projekts „Stadtteilmütter in Neukölln". Und wenn die Eltern noch immer detaillierte Fragen zu einem Thema haben, können sie mit Samar B. einen Termin zu Hause vereinbaren. „Wir sagen immer, dass wir nicht zu den Familien gehen, weil es dort Probleme gibt, sondern weil wir wertvolle Informationen weitergeben. Die sind interessant für alle Eltern", beschreibt die Projektkoordinatorin den ressourcenorientierten Ansatz des Projekts.
Sechsmonatige Ausbildung
Doch weil die Corona-Krise auch das öffentliche Leben in der Hauptstadt weitestgehend lahmgelegt hat, können auch die Berliner Stadtteilmütter derzeit keine persönlich aufsuchende Arbeit oder Begleitung anbieten – sowohl zu ihrem eigenen als auch zum Schutz der Familien. Samar B. ist aber wie ihre Kolleginnen für die Familien und Institutionen telefonisch erreichbar. Und sie steht mit den Familien in Kontakt, leitet Informationen über den Coronavirus, Hygieneempfehlungen und Regelungen des Senats und Bezirks tagesaktuell und teilweise in der Muttersprache an die Familien weiter.
Normalerweise bringt die Stadtteilmutter zu ihren Informationsbesuchen eine rote Mappe mit Informationsmaterial und Flyern mit – zu jedem der zehn Themen überreicht sie je eine. Die Palette reicht dabei vom Schulsystem und Kindertagesstätten über gewaltfreie Erziehung und Kinderrechte, Entwicklung der Sexualität, Suchtvorbeugung bis zum Umgang mit Medien. „Zum Beispiel enthält eine Mappe einen Leitfaden zur Gesundheitsförderung. Alle Informationen, alle Flyer sind auf Deutsch und Arabisch verfasst", sagt Samar B.
Als Samar B. vor der Corona-Zeit unterwegs zu den Familien war, trug sie einen roten Schal und über der Schulter eine Umhängetasche, auf der die Aufschrift „Stadtteilmutter in Neukölln" prangt. „Wir werden in der Regel von den Familien sehr herzlich empfangen", sagt sie. Manchmal wird sie sogar von den Müttern zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Über entsprechende Themen diskutiert sie mit den Müttern, klärt Fragen, und leitet sie auch bei Bedarf an Behörden und Beratungsstellen weiter. Der erste Kontakt ergibt sich auch andernorts, beispielsweise in Supermärkten, auf Spielplätzen und in Frauenarztpraxen. Samar B. erzählt, dass sie vor Kurzem auf der Straße von einer Frau um Hilfe wegen eines Problems mit ihrem Mann gebeten wurde. „Wenn es um häusliche Gewalt geht, lassen wir niemanden im Regen stehen und geben im Zweifelsfall entsprechende Adressen weiter", sagt Naddaf.
„Vertrauensebene ist extrem wichtig"
Auf die Frage, welche Themen am meisten angesprochen werden, nennt Samar B. Stress in der Schule, den Umgang mit Computerspielen und Cybermobbing. Aktuell stehen viele Migrantenfamilien vor der Frage, auf welche weiterführende Schule ihre Kinder wechseln sollen. „Ich werde zum Beispiel von den Müttern gefragt, welche Schule ich ihnen empfehle und welche meine Kinder besucht haben", schildert sie. Dabei ist es so, dass die Migranten, die neu in Deutschland sind gar nicht das deutsche Schulsystem mit seinen vielen Wahlmöglichkeiten kennen. Und viele stehen vor der Herausforderung einen Kitaplatz in Wohnortnähe zu finden, was in Berlin-Neukölln nicht leicht ist, denn der Ausbau der neuen Plätze geht nur stockend voran.
Denkt sie zurück an ihre erste Zeit als Stadtteilmutter, erzählt Samar B. von einem Gefühl der Aufregung und der Angst etwas falsch zu machen. „Als ich meine erste Familie besuchte, war ich ein bisschen aufgeregt, aber schon nach kurzer Zeit habe ich ihr Vertrauen gewonnen", sagt sie. Samar B. weiß inzwischen, dass die Frauen eine Barriere weniger überwinden müssen, wenn sie mit ihnen in ihrer Muttersprache Arabisch oder Türkisch kommuniziert. Mitunter unterhält sie sich mit den Familienmüttern auch in einem Sprachmix aus Deutsch, Englisch und Arabisch. „Die Vertrauensebene ist extrem wichtig. Schließlich laden die Frauen die Stadtteilmütter zu sich nach Hause ein", sagt die Projektkoordinatorin. Nicht nur über die Sprache wird Vertrauen aufgebaut, auch Erfahrungen wie ein gemeinsamer Schulbesuch und eine ähnliche Migrationsgeschichte schaffen ein Zugehörigkeitsgefühl.
Der Job als Stadtteilmutter hat Samar B. in ihrem Bewusstsein und Verhalten verändert. Zum einen ist sie viel sensibler dafür geworden, was die Anliegen von Frauen und die Rechte von Kindern angeht, sagt sie. Den eigenen Kindern gegenüber ist sie viel offener geworden, insofern, dass sie mit ihnen über Sexualität spricht und ihnen zum Beispiel sagt, wann sie ihre Periode hat. Die Frage, ob die Arbeit sie weitergebracht hat, bejaht sie ohne Umschweife. „Ich habe sehr viel gelernt und viele Erfahrungen gesammelt. Ich bin froh, dass ich mein Wissen und meine Erfahrungen weitergeben kann." Samar B. möchte daher andere zugewanderte arbeitslose Frauen in Berlin ermutigen, sich als Stadtteilmutter qualifizieren zu lassen.