Der Alpensteinbock ist das imposanteste Tier der Alpenwelt. In Pontresina in der Schweiz lassen sich die hochalpinen Kletterspezialisten von April bis Juni mühelos aus der Nähe beobachten und sind so zu einer Touristenattraktion geworden.
Imposant ragt das schön gebogene Gehörn in den knallblauen Himmel. Majestätisch, selbstsicher, frei, von der Aura der Einsamkeit umgeben blickt der Herrscher der Gipfel über sein schneebedecktes Reich. Er ist der König der Berge, sein Thron ist die Felsspitze. Er steht dort, wo wir am liebsten selber auch stehen würden: ganz oben. Doch im Hochalpinen ist die Luft dünn.
Der Alpensteinbock ist das imposanteste Tier der Alpenwelt. Nur einmal einen erblicken! Steile Felsen, senkrechte Abbrüche, überhängende Platten und Felshänge oberhalb der Baumgrenze – das ist sein Gelände. Die Vierbeiner meistern extreme Kletterpartien, wagen halsbrecherische Sprünge. Selbst an senkrechten Wänden halten sie sich, als hätten sie Saugnäpfe an den Füßen. In der kargen Felsenwelt, wo Edelweiß und Alpenrosen blühen, bekommt der Wanderer den Kletterspezialisten fast nie zu Gesicht.
Erschöpft von der schwierigen Bergtour kehrt er am späten Nachmittag nach Pontresina zurück. Aber was für eine Überraschung. Unterhalb des Piz Albris, dem 3.139 Meter hohen Gipfel des Hausberges, grasen gut 50 Böcke vor den Häusern des Dorfes wie Haustiere. Auf dem Höhenweg haben sich bereits einige Beobachter gruppiert, die dem seltenen Schauspiel auf den unteren Matten, wo der Schnee schon weggetaut ist, fasziniert zuschauen.
Da futtern die stolzen Unerreichbaren mit Gehörn und Bart am gedeckten Tisch. „Mit der Schneeschmelze steigen sie zum Dorf hinunter", sagt Wildhüter Daniel Godli. Sie haben keinen Bock mehr auf ihr Winterfutter: Nadelfraß, Flechten und Moos. „Frisches Gras ist ihr Salat", scherzt er. Das gehe jetzt schon seit einiger Zeit und ist zur Touristenattraktion geworden. Vor drei Jahren wurde das Steinbock-Paradies mit einer ausgewiesenen Steinbock-Promenade am oberen Ortsrand eröffnet. „Man muss jetzt nicht mehr bergsüchtig sein, um Steinböcke zu sehen", sagt der Mann mit dem Dreitagebart.
In Pontresina lassen sich die hochalpinen Kletterspezialisten von April bis Juni mühelos aus der Nähe beobachten – beinah wie im Streichelzoo. „Da spielen Intuition, Gewohnheit und Bequemlichkeit zusammen", sagt der Tierfreund. Geißen sind nicht dabei. „Die Verbände leben nach Geschlechtern getrennt", erklärt Godli. Während die Böcke sich aller Scheu entblößt die Bäuche voll schlagen, müssen sich die trächtigen Geißen, die im Juni die Kitze werfen, mit dem begnügen, was die winterkargen Gipfelregionen an Nahrung bieten.
Zwei Böcke üben sich im Imponiergehabe
Im Sommer dagegen muss man in die steilen felsigen Südosthänge klettern, um einen Steinbock zu Gesicht zu bekommen. An Nordhängen, in geschlossenen Wäldern und unter 2.500 bis 3.000 Metern seien sie dann nicht mehr anzutreffen, sagt Godli, der seit 34 Jahren Ranger ist. Jeden Tag sind sie stundenlang auf Nahrungssuche und legen dabei an die 30 Kilometer zurück. Das mache es zusätzlich schwer, einen zu erblicken. „Der Klimawandel macht auch vor den Steinböcken nicht Halt", sagt der Ranger. Die Hitze treibt sie immer höher.
Unten im Tal verliert der König der Berge seine Majestät. Ohne den Kopf zu heben, weidet der Wiederkäuer das Gras ab wie ein Rasenmäher. Nach dem entbehrungsreichen Winter im Hochgebirge geben sich die Wildiere unten hemmungslos dem Fressdrang hin. Auf dem saftigen Grün verlieren sie jede Zurückhaltung, ja, sie offenbaren sogar eine ziegenhafte Neugierde. Auch der Ranghöchste ist unter ihnen, der mit den gelb markierten Ohren. Godli nennt ihn Curdin. Der 13-jährige Steinbock trägt ein Imponierhorn von gut einem Meter Länge – so lang wie der Körper hoch ist. Das geschätzte Gewicht liegt bei mehr als sechs Kilogramm.
Das stolze Wappentier wirkt wie in der Zirkusarena. Das ist amüsant. Von den Zuschauern auf der Steinbockpromenade fühlen sich die Tiere völlig ungestört und laufen im Abstand von fünf Metern an ihnen vorbei. Hirsche wären längst im Dickicht verschwunden. Doch die Steinböcke senken den Kopf und äsen. „Tock, tock" macht es auf einmal, als würde jemand auf einen hohlen Baum schlagen. Auf der grünen Wiese gehen zwei Böcke aufeinander los – vom Horn bis zu den Hufen Körperspannung. Ihre Köpfe sind gegeneinander gesenkt, verhaken sich an den Knoten des Horns, lösen sich und steigen wie auf Kommando auf die Hinterbeine. „Die spielen nur", stellt der Ranger fest, und man ist froh, in sicherer Entfernung zu stehen. „Die Rangordnung haben die Stärksten längst geklärt." Dies sei reines Imponiergehabe, auch wenn die Würde jedes Jahr neu behauptet muss. Auffallen ist alles.
Einzelgänger trifft man eher selten an
Trotzdem scheint die Erde zu beben, wenn zweimal hundert Kilo Körpergewicht zusammenrauschen. Ungefährlich sei das für sie nicht, so Godli. Bei einem richtigen Kräftemessen können sich die Kontrahenten mit den Hörnern kräftig in die Flanken schlagen.
Die Verklärung des Steinbocks hält bis heute an. „Das Bild vom einsamen Steinbock auf der Felsspitze ist ein Mythos", korrigiert Godli das Image des Bergkönigs. Einen Einzelgänger anzutreffen, so wie man ihn auf den meisten Fotos sehe, sei äußerst schwierig. „Der Steinbock ist ein Herdentier", betont der Wildhüter. Er entferne sich selten von der Gruppe. Die Fotografen warten auf ein imposantes Exemplar, und wenn sie ihn auf einer Felsnase allein haben, drücken sie ab. Die Herde ist natürlich immer in der Nähe. „Ein bisschen weniger Legende", sagt Godli, „kann dem König der Berge nicht schaden."