Die Erfahrungen der Corona-Monate werden Schulen über Hygienemaßnahmen und Digitalisierung hinaus prägen. Die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) über Orte des gesellschaftlichen Lebens, Beziehungsgeflechte, Hierarchiegrenzen und die Rolle der KMK.
Frau Ministerin Streichert-Clivot, die Schulen haben inzwischen erste Schritte zurück zum Unterricht gemacht. Das hat Erwartungen geweckt. Wie gehen Sie damit um?
Für uns bedeutet das weiterhin, in kleinen Schritten voranzugehen. Wir können jetzt noch nicht sagen, wo wir in vier Wochen stehen. Das ist und bleibt die extrem große Herausforderung.
Wie verändern die Erfahrungen der vergangenen Wochen die Politik, wo man im Bildungsbereich doch eher gewohnt ist, dass alles sehr strukturiert und in intensiven Diskussionen vorbereitet wird und jetzt alles auf Improvisieren angelegt ist?
Ich würde es nicht improvisieren nennen, weil natürlich auf allen Ebenen die Intensität der Abstimmungen zugenommen hat und das ganz massiv. Die Kultusministerkonferenz (KMK) tagt inzwischen in wöchentlichen Abständen, und wenn ich die Ebene der Staatssekretäre dazu nehme, also die Amtschefkonferenz, dann sind wir zwischen den Bundesländern alle zwei, drei Tage im Austausch, welches Land welchen Schritt plant und wie die Erfahrungen dabei sind. Wir beginnen ja durch die unterschiedlichen Ferienregelungen zeitversetzt mit den Maßnahmen. Deshalb ist es gar nicht so improvisiert, wie man es sich vielleicht vorstellt. Und die entsprechenden Maßnahmen mit Einhaltung der Hygienevorschriften haben natürlich einen entsprechenden Vorlauf.
Gegen das Vorgehen gab es etliche Bedenken.
Wir haben im Haus einen Arbeitsstab, der sich regelmäßig trifft, bis heute eigentlich noch täglich zusammenkommt. Auf dieser Basis werden die Entscheidungen getroffen, natürlich in Rückkopplung mit den Hauptpersonalräten, den Lehrerorganisationen und Gewerkschaften, Eltern- und Schülerinnenvertretungen. Und natürlich geht man dann auch schon mal mit unterschiedlichen Meinungen auseinander.
… was in der Bildungspolitik ja eher der Normalfall ist …
… ja, aber ich finde das auch gut, um sich gegenseitig ein Stück weit messen zu können, ob die Entscheidungen, die man in dieser unsicheren Situation trifft, auch die richtigen sind. Das ist auch das Spannende an diesem Prozess. Es ist aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Haus mit einem erheblichen Druck verbunden. Normalerweise geht eine Vorplanung, etwa für eine Kabinettsvorlage, über Wochen, mit langen Fristen. Das geht in dieser Dynamik natürlich überhaupt nicht.
Es heißt, in der Krise seien viele Dinge möglich geworden, mit denen man sich zuvor schwergetan hat. Gilt das auch für den Bildungsbereich?
Tatsächlich hat die Krise auch zu einem Modernisierungsschub innerhalb der Verwaltung geführt. 90 bis 95 Prozent unserer Abstimmungen laufen über Video- oder Telefonschaltkonferenzen. Wo früher Abteilungsleiterkonferenzen in Präsenzform tagten, kommen jetzt alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf diesem Weg zusammen. Damit weicht man natürlich auch gewisse Hierarchiegrenzen auf, um schnell zu einem Ergebnis zu kommen. Die jetzt notwendige Beschleunigung hat einiges verändert.
Was bleibt davon?
In dem Tempo auf Dauer weiterzumachen wäre sicher eine zu hohe Belastung. Aber die Art und Weise, wie man auf kurzem Wege Entscheidungen finden kann, ist schon etwas, was man in die nächste Zeit mitnehmen kann. Wir haben auf diesem Weg aber auch viele Meinungen mit einbeziehen können bei der Entwicklung notwendiger Konzepte. Man muss dabei immer sehen, dass wir als Ministerium Schule nicht allein gestalten, sondern mit den Lehrerinnen und Lehrern, den Schulträgern, Landrätinnen und Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, die gerade jetzt auch ganz wichtig sind, wenn es um die Ausstattung der Schulen auch in Hinblick auf Hygienemaßnahmen geht. Die wollen natürlich unsere Pläne genau wissen, um sie dann auch gut begleiten zu können. Das schaffen wir auch besser durch diesen Modernisierungsschub. Das gilt auch in den Schulen selbst, Lehrerinnen und Lehrer stimmen sich ja jetzt auch auf solchen Wegen ab.
Inwieweit fließen die Erfahrungen der Lehrer aus dieser Phase, etwa der intensiven individuellen Betreuung der Schüler, die zu Hause bleiben mussten, in zukünftige Planungen ein, was auch die pädagogische Seite betrifft?
Wir sehen natürlich, dass man einen anderen pädagogischen Zugang entwickeln muss, wenn wir mit den neuen Regeln arbeiten. Einmal, wenn ich kleinere Lerngruppen habe, was sehr positiv gesehen wird. Andererseits muss ich fragen, was es für die Schülerinnen und Schüler heißt, wenn ich Klassenverbände wegen der Abstandsregelungen auseinandernehmen muss. Gerade an Grundschulen, wo das Prinzip der Klassenlehrer gilt, ist das ein Thema. Da ging es zunächst um ein Konzept für die Viertklässler, die als erstes wieder den Unterricht aufgenommen haben. Auch was die Aufarbeitung der Zeit, in der sie nicht in der Schule waren, betrifft. Wir müssen aber auch einen besonderen Blick auf die Schülerinnen und Schüler haben, die im ersten Schritt nicht dabei sind, aber eine besondere Begleitung brauchen. Das hat übrigens auch die KMK bedacht, die gesagt hat, wir sollten uns das nicht nur jahrgangsweise betrachten, sondern jetzt schon die Kinder und Jugendlichen im Blick haben, die eine besondere Unterstützung aufgrund ihrer Situation brauchen. Da arbeiten wir übrigens auch eng mit der Jugendhilfe zusammen.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Wir haben in der Kultusministerkonferenz gesagt, dass wir jedem Schüler noch vor den Sommerferien ein Angebot machen, in die Schule zu kommen. Das ist so interpretiert worden, als würden wir alle Schulen wieder bis zum Sommer komplett öffnen. Das ist natürlich nicht der Fall. Mein Ziel ist es, so schnell wie möglich wieder zu einem möglichst regulären Unterricht an den Schulen zurückzukehren. Aber solange wir Abstandsregelungen haben, wird das nicht funktionieren, das ist eine einfache Rechenaufgabe. Aber wenn wir klug zwischen digitalen und Präsenzangeboten wechseln, können wir im Rahmen der Möglichkeiten den Kindern und Jugendlichen, die mit dem Lernen zu Hause aus welchen Gründen auch immer nicht klarkommen und zusätzliche Unterstützung brauchen, Angebote machen. Das gilt jetzt ganz konkret für die Ausstattung mit digitalen Endgeräten, die wir verbessern wollen. Und da kriegt auch das Thema multiprofessionelle Teams mit Lehrern, Schulsozialarbeit, Sprachförderung und Eingliederungshilfe nochmal eine neue Bedeutung.
Es gibt Schüler, die mit der Krise sehr gut klarkommen, es gibt aber auch andere. Die Krise trifft nicht alle gleich, das hat auch mit dem sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund, mit der persönlichen und familiären Situation zu tun. Das bedeutet auch, dass wir in der Gestaltung von Unterricht und Lernangeboten im nächsten Schuljahr und auch danach einen anderen Ansatz brauchen: wesentlich individueller. Wobei auch vor Corona klar war, dass man es in einer Klasse nicht mit einer homogenen Gruppe zu tun hat. Wir können zum Beispiel die Erfahrungen, die wir jetzt mit digitalen Medien machen, in den Unterricht integrieren, um individuellere Angebote zu machen.
Lehrer haben sich in den vergangenen Wochen sehr intensiv um Schüler zu Hause gekümmert und damit auch einen ganz anderen Kontakt zu den Eltern gefunden. Bringt das neue Perspektiven?
Auf jeden Fall. Dass man nicht mehr physisch zusammenkommen konnte, betrifft ja auch die Zusammenarbeit mit den Eltern. Da haben unsere Lehrer auch sehr individuelle Lösungen gefunden, was auch zeigt, wie engagiert unsere Lehrer sind, weit über den Unterricht selbst hinaus. Die Betreuung zu Hause ist schließlich, das weiß ich als Mutter aus eigener Erfahrung, auch schon in normalen Zeiten eine Herausforderung. Da haben unsere Lehrer sehr gute Wege zu einem engen Kontakt gefunden.
Bekommt Schule nach den Erfahrungen in der Krisensituation eine neue Bedeutung, ein neues Ansehen?
Ich denke schon. Es ist noch mal deutlicher geworden, dass Schulen, übrigens auch Kitas, nicht nur Lernorte, sondern Orte des gesellschaftlichen Lebens sind. Schulen schaffen ja nicht nur Lebensräume für Schüler, sondern auch eine Orientierung für Eltern und Großeltern. Schule ist Austauschplattform und bestimmt auch die sozialen Kontakte. Wenn ich ein schulpflichtiges Kind habe, habe ich Kontakt zu anderen Eltern. Dieser Kontakt ist während der Schließung künstlich unterbrochen. Die Erfahrung hat deutlich gemacht, dass Kitas und Schulen absolut systemrelevante Einrichtungen sind und unser Leben maßgeblich beeinflussen. Wir haben nicht nur eine Schulpflicht im Sinn von Zwang, sondern ein Recht auf Bildung, mit der Garantie des Staates dafür. Dass der Staat das Angebot vor Ort in den Kitas und Schulen aus Infektionsschutzgründen einstellen muss, ist tatsächlich eine sehr einschneidende Entscheidung. Es ist ein massiver Einschnitt in unseren Lebensalltag, wenn Schulen und Kitas geschlossen sind. Das merken wir jetzt, und es gibt uns Anlass, den Wert des Kindes und der Familien noch mal in den Mittelpunkt zu rücken. Kinder werden bei solchen Entscheidungen nicht gefragt, Familien stehen gerade unter hohem Druck. Ihre Bedürfnisse müssen eine stärkere Rolle spielen. Und wir alle sollten uns dazu noch einmal selbst klarmachen, welchen Wert diese Einrichtungen für unser Leben haben.
Wie bewerten sie die unterschiedlichen Reaktionen auf die Frage weiterer Öffnungsschritte?
Gerade wenn es um Grundschulen geht, haben wir bei Eltern sozusagen zwei Blöcke. Die einen, die sich Sorgen machen, ob das jetzt schon der richtige Zeitpunkt ist, und andere, die sogar sagen, bitte noch mehr davon, wir wollen Schule zurück. Beide sind nach meinem Eindruck etwa gleich stark. Bei beiden ist sehr unterschiedlich, welche Mitbestimmung und welches Verständnis man den Kindern zugesteht. Ich glaube schon, dass Kinder verstehen, wie das mit Infektionen ist, und auch, dass ihr Verhalten mit entscheidet, wie wir das Infektionsgeschehen im Griff halten können. Dass das gut funktioniert, sehen wir auch an den Schulen. Es fällt im Übrigen auch uns Erwachsenen schwer, uns immer an die Hygienevorgaben zu halten. Ich sehe an meinen Kindern: Das Virus beschäftigt sie und sie versuchen, damit umzugehen. Darüber muss man mit ihnen auf Augenhöhe reden. Das kann uns in der aktuellen Situation viel helfen, aber auch für den zukünftigen Prozess an Schulen, nämlich den Wert von Kindern, ihrer Bedürfnisse und ihrer Meinungen zu stärken. Wenn wir sie jetzt einbeziehen im Prozess der weiteren Öffnungen, dann muss auch künftig gelten, sie stärker einzubeziehen und mitentscheiden zu lassen. Viele Schulen im Land machen das auch schon.
Wird die „neue Normalität" auch „neue Schulen" bringen?
Wir erleben nicht nur einen Schub an Digitalisierung, weil die Kinder zu Hause ihren Lernstoff digital erhalten. Das hat auch etwas mit dem Umgang miteinander zu tun. Der Begriff Homeschooling, also das Lernen zu Hause, legt nahe: Wir lernen nur zu Hause und schaffen die Schule ab. Das ist nicht das, was ich unter Schule als gesellschaftlich relevanter Einrichtung verstehe. Wir brauchen Schule als Ort. Aber wir werden es mit anderen Entwicklungen in den nächsten Schuljahren zu tun haben. Die sechs Wochen Schulschließungen – und für viele wird es ja noch länger – werden nicht in ein oder zwei Wochen aufgearbeitet werden können, in den Ferien oder an einem Samstag, wie es in einigen Konzepten steht, die durch die Welt kursieren. Es geht nicht nur darum, klassisch Lernstoff nachzuholen, es hat sich auch etwas im Verhältnis Lehrer, Eltern und Schüler massiv verändert. Es wird im Blick auf Schule und Unterricht zu Veränderungen kommen, auch mit Blick auf Digitalisierung. Aber Schule ist für mich immer noch der zentrale Ort, an dem Bildungsprozesse angestoßen werden und an dem wir gute Bildungschancen für alle organisieren können. Im besten Fall wird es zu einem neuen Beziehungsgefüge untereinander führen.
Stichwort Beziehungsgefüge: Die Kultusministerkonferenz ist in der Vergangenheit häufig und heftig gescholten worden. Wie bewerten Sie derzeit die Arbeit dort?
Ich blicke auf zwei Jahre Diskussionen zurück über einen nationalen Bildungsrat. Da haben wir uns auf der Ebene der Bildungsminister schwergetan. Es war ein Projekt, das im Koalitionsvertrag gelandet und irgendwie schon mit dem Vorwurf verbunden war, die Kultusminister könnten sich nicht abstimmen, hätten keine gemeinsamen Standards, da müsste durch die Bundesebene mal eingegriffen werden in die Länderkompetenz. Das war natürlich sehr strittig. Im Grunde sind wir uns in der Regel über die bildungspolitischen Ziele ziemlich einig, aber über die Wege dorthin gibt es unterschiedliche Auffassungen. Jetzt hat die Krise zu einem engen Zusammenhalt geführt, weil wir alle mit den gleichen Problemen konfrontiert sind.
Natürlich hat das Virus regional sehr unterschiedliche Ausbreitung, aber die Schulschließungen sind überall gleich, auch die Fragen nach Prüfungen und Abschlüssen. Das hat dazu geführt, dass man nicht nur enger zusammenrückt, Beschlüsse schnell fasst, trotzdem intensiv diskutiert und man sich tatsächlich auch an die Beschlüsse hält, was in der Vergangenheit nicht immer so gewesen ist. Das macht jetzt deutlich, dass die KMK handlungsfähig ist. Natürlich werden unsere Beschlüsse vor dem Hintergrund der alten Erfahrungen mit der KMK kritisch bewertet. Aber die Beschlüsse jetzt und der nahezu identische Fahrplan für die Öffnung der Schulen – das ist fast schon ein historisches Ergebnis der Zusammenarbeit. Auch wenn uns das beispielsweise mit Blick auf das Abitur Kritik eingebracht hat. Ich glaube, die KMK wird Lehren ziehen, flexibler werden und Beschlüsse fassen, die nachhaltig wirken.
Die Krise kam also zur rechten Zeit?
Nein, wir brauchen ganz sicher keine solchen Krisen. Aber ich bin ein Mensch, der den Blick auf das Positive lenkt. Bei aller Dramatik, die wir in Deutschland, in Europa, weltweit sehen, sollten wir immer auch den Blick auf positive Perspektiven richten. Was Zusammenarbeit betrifft, im Bereich Bildung oder auch im Bereich Kultur, hat sich gezeigt, dass das Stichwort gesellschaftliche Solidarität nicht nur wichtig ist, sondern tatsächlich gelebt wird. Aber es ist klar, dass diese Solidarität, wenn die Krise länger anhalten würde, strapaziert wird, weil sie von uns allen viel abverlangt. Für uns stellt sich täglich die Frage: Was kann ich den Menschen anbieten, damit sie sehen, Politik arbeitet die Themen Stück für Stück ab, und ich werde mit meinen Problemen wahrgenommen?