Ein silbrig-graues Strahlen mitten in Berlin machte im Sommer 1995 die Stadt zu einem magischen Anziehungspunkt. Christos Hülle verlieh dem altehrwürdigen wilhelminischen Reichstag eine Leichtigkeit, die aber das Wesentliche sichtbar machte.
Metallisch glänzen die gespannten Stoffbahnen in der Sonne. Um das verhüllte Gebäude breitet sich ein besonderes Licht aus. Zu Tausenden stehen die Besucher davor und staunen. Im Juni und Juli 1995 war Christo und Jeanne-Claude gelungen, was jahrelang zwischen den politischen Fronten zu scheitern drohte: die Verhüllung des Reichstags.
Was hatte die Regierung in Bonn an Diskussionen und Zeit gebraucht. Was hatte Christo zusammen mit Jeanne-Claude, seiner Frau und künstlerischen Partnerin, für dieses Projekt gekämpft. Schon 1961 sprach der Künstler Christo erstmals von seiner Idee, ein großes öffentliches Gebäude zu verhüllen. Die Anregung, es mit dem Reichstagsgebäude zu versuchen, stammte 1971 von dem amerikanischen Historiker Michael S. Cullen. Christo war bis 1976 nie in Berlin gewesen. Als er mit seinen Plänen zu „Wrapped Reichstag – project for Berlin" an die Öffentlichkeit trat, passierte zunächst einmal gar nichts. Von Mummenschanz und Reklamerummel war die Rede, auf einen Termin konnte sich niemand verständigen, in der geteilten Stadt – damals noch im Kalten Krieg – wollte keiner den Burgfrieden mit einer vermeintlichen Provokation stören, zumal das Gebäude ziemlich nah an der Sektorengrenze zum Osten stand.
Jahrelange Diskussionen
Erst nach dem Mauerfall 1989 und dem Beschluss von 1991, die Bundesregierung von Bonn nach Berlin umziehen zu lassen, erhielt der Gedanke „Verhüllter Reichstag" einen neuen Schub. Am 25. Februar 1994 beriet das Parlament über das Projekt. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl lehnte es ab, ebenso der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble, während Rita Süssmuth, ebenfalls CDU, sich dafür aussprach. Viele Sozialdemokraten wie Freimut Duve oder Peter Conradi, der davon sprach, dass die Umhüllung mit Stoff diesen Bau in seiner Eigenart wahrnehmbar mache, sprachen sich dafür aus. Am Ende stimmten 292 Abgeordnete dafür und 223 dagegen. Aus der Umhüllung wurde ein „sanftes Signal", so Freimut Duve, ein „Moment der Entspannung", bevor das Parlamentsgebäude durch Sir Norman Foster umgebaut werden sollte und mit der aufgesetzten Kuppel eine neue Wirkung erhielt.
Bis zur Verhüllung blieben nach dem Bundestagsbeschluss nur knapp anderthalb Jahre. In dieser Zeit organisierten Christo und Jeanne-Claude gigantische logistische sowie Ingenieurs- und Projektleistungen. Firmen wurden gesucht, die handwerklich den qualitativen Anforderungen des Künstlerehepaares entsprachen. 110.000 Quadratmeter an Stoffen mussten gewebt, bearbeitet und zugeschnitten, Gerüste konstruiert und Manpower für Spezialaufgaben geordert werden. Und immer wieder gab es Auflagen vom Umwelt- und Naturschutz oder vom Brand- und Arbeitsschutz. „Ich hörte in einer ZDF-Sendung, dass für das Projekt der Verhüllungsstoff mit einer dünnen Alu-Schicht versehen werden sollte," erinnert sich Wolfgang Siefert, Geschäftsführer einer Firma zur Oberflächenbeschichtung. „Ich fuhr direkt nach München zu einer persönlichen Präsentation, denn unsere Firma verfügt über langjährige Erfahrung mit unterschiedlichsten Beschichtungsmaterialien- und verfahren. Wir bekamen den Auftrag, die dünne Alu-Schicht durch thermisches Verdampfen aufzubringen, und so erhielten 110.000 Quadratmeter Verhüllungsstoff durch uns die futuristische, silbergraue Farbe."
Über fünf Millionen Besucher
Frank Seltenheim bekam über eine Ausschreibung mit seinem Partner Robert Jatkowski – beide Industriekletterer – die Montageleitung zu dem Projekt. „Bei der Verhüllung des Reichstags wünschten sich die beiden Künstler, dass auch das Entrollen der Stoffbahnen Teil ihrer Kunstaktion ist. Ohne technische Hilfsmittel, also ohne Kräne, mussten die 56 Meter breiten und bis zu 1,2 Tonnen schweren Stoffbahnen bewegt werden. Alles per Hand. Dazu brauchten wir kletternde Profis. In zeitaufwendigen Bewerbungsverfahren haben wir dann 120 Montagehelfer und 96 Industriekletterer eingestellt und eine neue Firma gegründet: die Reichstagsverhüllungsmontage GmbH." Gearbeitet wurde ab dem 17. Juni 1995 in zwei Schichten, in unterschiedlichsten Höhen und Schwierigkeitsgraden. Die Profis kletterten auf 200 Tonnen Stahlunterkonstruktion und auf dem Dach des Reichstages herum, verbanden in nur acht Tagen 16 Kilometer lange Taue mit dem insgesamt rund 70 Tonnen schweren silbrigen Stoff.
Frank Seltenheim und Dr. Wolfgang Siefert ist es zu verdanken, dass sie mit ihren damals neu gegründeten Firmen die Entstehung des gemeinsamen Kunstwerks von Christo und Jeanne-Claude ermöglichten. Ihre beiden Firmen, die Reichstagsverhüllungsmontage GmbH und die Rowo Coating GmbH, haben bis heute überlebt und noch viele andere Projekte Christos begleitet.
Am 24. Juni 1995 war es dann so weit. Das vollendete Werk erstrahlte in einer Leichtigkeit, die das massive Gebäude vergessen ließ. Der Wind spielte mit der Umhüllung, blaue Seile umfassten scheinbar locker die Stoffbahnen, das Licht reflektierte die Farbe des Stoffes mit jeder Bewegung anders. „Ein magisches, wunderbares Licht", resümierte Christo 1995 vor seinem Kunstwerk. „Alles in Silber und Grau, selbst wenn man die Augen schließt."
Immer wieder zog es die Berliner und ihre Gäste zu diesem einmaligen Kunst-Bauwerk, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Als das Sommermärchen nach zwei Wochen vorbei war, hatten mehr als fünf Millionen Menschen die Verwandlung des Reichstags erlebt. Und tatsächlich, der Blick auf den Reichstag war von da an ein anderer.
70 Tonnen silbriger Stoff
Was blieb von diesem Kunstwerk? Die verwendeten Materialien wurden recycelt. Es gab keine Schulden. Die Gesamtkosten von mehr als elf Millionen Dollar finanzierten Christo und Jeanne-Claude, wie alle ihre Projekte, aus dem Verkauf von originalen Collagen, Zeichnungen und Modellen. Ihre Projekte, so ihr Wunsch, überdauern in der Erinnerung das temporär Erlebte. Dank der Sammlung von Ingrid und Thomas Jochheim zeigt das Palais Populaire Berlin jetzt zum 25-jährigen Jubiläum des „Wrapped Reichstag" eine umfassende Ausstellung mit weiteren Werken des Künstlerpaares Christo und Jeanne-Claude („Christo and Jeanne-Claude. Projects 1963 – 2020"). Seit 1994 verband das Ehepaar Jochheim aus Recklinghausen eine lange Freundschaft mit den beiden Künstlern, und so gehören zu ihrer Sammlung Objekte und Unikate sämtlicher Projekte des Künstlerehepaares von 1963 bis heute. Ernst Ulrich, ein Besucher, der damals selbst dabei war, erinnert sich: „An seinem Campingtisch sitzend, zelebrierte ein Pärchen kurz nach Sonnenaufgang mit gefüllten Sektgläsern den Blick auf das Kunstwerk, junge Leute rekelten sich noch in ihren Schlafsäcken, andere picknickten bereits auf der großen Rasenfläche vor dem verhüllten Reichstag. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, Verweilen oder Vorbeiziehen, auch von internationalen Musikern und Künstlern. Es war das Berliner Woodstock-Festival." Dabei steht er vor den zwei übergroßen, wandfüllenden Zeichnungen „Wrapped Reichstag" (1983, Pastell, Kohle und Kreide; und 1987, Bleistift, Kohle, Wachskreide).
Die Skizzen, Zeichnungen und Objekte zeigen konzentriert die geballte künstlerische Kraft des weltweiten Schaffens der Christos. Farbenfroh und optimistisch präsentieren die Originalzeichnungen pinkfarbene Stoffbahnen vor der Küste von Miami (1980 – 1983), die verpackte Brücke Pont Neuf in Paris (1975 – 1985), die goldgelben und blauen „Umbrellas" (1984 – 1991) in Kalifornien und Japan, die königsgelben „The Gates" (1979 – 2004) im New Yorker Central Park, die „The Floating Piers" (2014 – 2016) auf dem italienischen Lago d’ Iseo sowie die aus 7.506 Ölfässern gestapelten „Mastaba"(1968 – 2018) im Londoner Hyde Park.
Arc de Triomphe wird 2021 verpackt
Es waren die Ideen, die die beiden Künstler Christo und Jeanne-Claude vereinten und sie großartige, temporäre Kunstwerke schaffen ließen – weltweit für ein Millionenpublikum. Die finanzielle Unabhängigkeit gab ihnen die künstlerische Freiheit, ihre Visionen frei umzusetzen. Ihr Mut und ihre Beharrlichkeit überwanden Schwierigkeiten, auch wenn es Jahre dauerte, bis ihre Ideen zur Realität wurden. „Bei der Realisierung eines Projekts wird eine große Energie freigesetzt –
man spürt die enorme Dynamik, wenn man vor etwas steht, das so viele Jahre für seine Entstehung gebraucht hat", sagte Christo einmal. An der geplanten Verhüllung des Arc de Triomphe in Paris arbeiteten er und Jeanne-Claude seit 58 Jahren. Die Ausstellung im Palais Populaire endet mit ihren Entwürfen zu „L’Arc de Triomphe Wrapped". In diesem Jahr sollte das Projekt in Paris realisiert werden. Die Verhüllung wurde jedoch durch die Corona-Pandemie verschoben. Nun, nach Christos Tod am 31. Mai, will die französische Regierung sein letztes Kunstwerk vom 18. September bis 3. Oktober 2021 zu seinen Ehren vollenden. An dem Verhüllungsmaterial arbeitet wie schon beim Reichstag die Rowo Coating GmbH. „Wir haben schon etwa die Hälfte des Gewebes metallisiert und werden auch den restlichen Stoff metallisieren", sagt Geschäftsführer Dr. Wolfgang Siefert. Auch der Triumphbogen soll einmal so glänzen wie vor 25 Jahren der Reichstag.