„Lebensmenschen – Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin" heißt die Doppelretrospektive, die erstmals das große Künstlerpaar der Moderne gemeinsam würdigt. Das Museum Wiesbaden präsentiert 187 Gemälde, Grafiken und Zeichnungen auf 900 Quadratmetern Ausstellungsfläche.
Was wie ein grandioser Paukenschlag wirkt, war seinerzeit ein Schlag ins Gesicht. Die Geburt der Expressionisten. Zwei dieser Erneuerer der Kunst porträtierten sich selbst. Vor einhundert Jahren waren die Zeitgenossen entsetzt über die bunten fratzenhaften Gesichter. Diese Werke, „Selbstbildnis 1910" von Marianne von Werefkin und „Selbstbildnis 1912" von Alexej von Jawlensky, bilden, auf weißer Wand gleichberechtigt nebeneinander gehängt, Entree und faszinierenden Mittelpunkt.
Die Programmatik des Ideengebers und Kurators Dr. Roman Zieglgänsberger offenbart sich mit großer Klarheit. An der gegenüberliegenden Wand sind biografische Angaben der Künstler, daneben Zitate zu lesen: fertig. Während des Rundgangs wird man nicht mehr durch Buchstaben abgelenkt.
Die Museums-App empfehle ich als Appetithäppchen vor dem Ausstellungsbesuch – wichtige Werke werden kurz und knapp vorgestellt. Am Eingang erhalte ich ein Handout, das dann hilfreich ist, wenn ich es möchte. Das Begleitheft ist in die Kapitel unterteilt, die die Ausstellung strukturieren. Selten habe ich mich sogleich beim Betreten einer Ausstellung so wohlgefühlt und empfunden, wie sorgfältig und klug alles für die Besucher eingerichtet wurde. Im Mittelpunkt steht die Kunst. Eine farbstarke und wirkmächtige Kunst, die Widerhall beim Betrachter hervorruft. Und mit einem grandiosen Paukenschlag beginnt.
Die rotglühenden Augen von Marianne von Werefkin sind unverwandt auf mich gerichtet. Alexej von Jawlensky schaut kritisch. Kurator Dr. Zieglgänsberger stellt das ungleiche Paar als „die Magierin der Avantgarde und den intuitiven Farbmaler" vor. Beinahe 30 Jahre lang waren Werefkin und Jawlensky einander verbunden, dennoch fand noch nie vorher eine Doppelretrospektive des Künstlerpaares statt, zudem: Ihre Selbstbildnisse waren noch nie in einer Ausstellung vereint.
Die Doppelretrospektive ist „wie ein geflochtener Zopf, mal nebeneinander, mal gegenüber, mal alternierend" angeordnet, erklärt der Kunsthistoriker die Konzeption. Erstaunlich, dass noch keiner auf die Idee gekommen ist Werefkin und Jawlensky gemeinsam der Öffentlichkeit zu präsentieren. „Die Idee, bin ich mir sicher, hatten schon viele, aber noch nicht diese Chuzpe, das anzugehen," erläutert Dr. Zieglgänsberger und gesteht: „Es ist nicht einfach, das auf die Beine zu stellen, dazu braucht man starke Partner. Das Lenbachhaus München ist das Haus für den Blauen Reiter. Wir sind das Haus für Alexej von Jawlensky. Erst als wir, als zwei starke Institutionen, die Fondazione Marianne Werefkin, Ascona und das Jawlensky-Archiv, Muralto mit ins Boot holen konnten, war uns leichter ums Herz, und wir haben gesagt: ‚Dann schaffen wir das auch.‘"
„Wir sind das Haus für Alexej von Jawlensky"
In München war die Schau unter Leitung der Kuratorin Dr. Annegret Hoberg bereits zu sehen. Kaum nachfolgend in Wiesbaden eröffnet, musste, wegen des Corona-Shutdowns, geschlossen werden. Das Museum Wiesbaden bezeichnet die Schau als „großangelegt", aber sie ist darüberhinaus: großartig! Nachdem alle Leihgeber zustimmten, die Werke am Ort zu belassen, wurde eine Verlängerung der Ausstellung bis 23. August angekündigt. Auch in Ascona werden die „Lebensmenschen" Station machen, dem dortigen Publikum wird eine italienische Version des gleichnamigen Kataloges angeboten werden. Der Katalog, ein Prachtband, ist beim Prestel Verlag in München erschienen.
Marianne von Werefkins Blick scheint mir zu folgen. Sie war 50 Jahre alt, als sie das Selbstbildnis schuf. Alexej von Jawlenskys Stimmung verdüstert sich, grimmig schaut er in meine Richtung, als ich mich langsam entferne.
Jawlensky, vier Jahre älter als Werefkin, traf sie durch Vermittlung von Ilja Repin in Sankt Petersburg. Beide hatten bei dem berühmten Maler des russischen Realismus Unterricht. Werefkin war bereits als „russischer Rembrandt" bekannt. Jawlensky war Offizier, Student an der Kunstakademie, Schürzenjäger und arm. Werefkin war vermögend, weltgewandt, Künstlerin und Baronin.
Eine wandhohe Fotografie zeigt das Paar 1893 gemeinsam im Atelier. Werefkins „Selbstbildnis mit Matrosenbluse" ist rechts davon platziert. Ich erkenne das Gemälde unfertig auf der Fotografie. Werefkin hat ihre Arbeit unterbrochen und betrachtet prüfend Jawlenskys Werk auf der Staffelei. Die Fotografie nimmt Kommendes vorweg.
„Diese Begabte hat zehn Jahre auf eine eigene künstlerische Tätigkeit verzichtet, weil sie Jawlenksy fördern wollte?" schnaufe ich unmutig im FFP2-Modus. „Genau, das hört sich irgendwie absurd an", erwidert Dr. Zieglgänsberger, „weil sie eine fortschrittliche Frau war, dann kommt ihr die gesellschaftliche Konvention in die Quere. Beide wollten die Kunst erneuern. Das war Programm. Sie hat gewusst – und da lag sie wohl nicht falsch – dass das als Mann leichter ist denn als Frau. Es ist natürlich ein Stück weit ein Irrweg von ihr, weil man einen künstlerischen Kopf irgendwann nicht mehr lenken kann. Das ist letztlich der Grund, weshalb sie wieder zu malen anfängt, weil sie den Einfluss auf Jawlensky verloren hat, er seinen eigenen Weg geht. Um 1906 herum ist sie zu dieser Erkenntnis gelangt." Das Künstlerpaar wohnte von 1896 bis 1914 in München. Vier Räume in der Ausstellung zeigen ihr Schaffen aus dieser Zeit. Dazu zählen auch jene Werke, die bei Malausflügen mit Wassily Kandinsky und Gabriele Münter nach Murnau ins Alpenvorland, entstanden sind.
„Beide wollten die Kunst erneuern"
Jawlenskys großformatigstes Werk ragt vor mir auf. „Helene im spanischen Kostüm". Helene stemmt die Arme in die Hüften, als müsste sie ihren Platz behaupten. Ihr Blick wirkt müde, als wisse sie selbst, auf verlorenem Posten zu sein.
Werefkin, Jawlensky und Helene leben in München als Ménage à trois zusammen. Jawlensky lernte Helene Nesnakomoff im Hause Werefkin kennen, sie wird als Dienstmädchen angelernt. 1902 wird Jawlenskys Sohn Andreas in Russland geboren. Helenes Geburtsjahr wird mit 1881 angegeben. Der Werefkin-Biograf Bernd Fäthke glaubt, sie war jünger. Dr. Zieglgänsberger ist dagegen sicher: „Sie sind nach Russland gegangen, nicht um zu vertuschen, dass Helene minderjährig war, sondern weil sie ihren Ruf wahren wollten. Für die Baronin Werefkin war es sehr schwierig kundzutun, dass ihr Lebenspartner mit ihrem Dienstmädchen ein Kind hat. Das eigentlich Entscheidende ist, dass Werefkin und Jawlensky beschließen zusammenzubleiben. Je älter Andreas geworden ist, umso komplizierter wurde diese Konstellation – das ist das Problem dieser Beziehung."
„Liebeswirbel" heißt das beliebteste Postkartenmotiv bei den Besuchern. Im Zentrum des Gemäldes von Werefkin steht eine einsame Frauenfigur. In einer apokalyptisch anmutenden Natur erkennt man einander umschlingende Paare. „Das Bild wirkt ein Stück weit kosmisch und irreal – es steckt eine allgemeine Wahrheit in dem Bild. Wenn man genau hinschaut: Diese Paare sind nicht glücklich", führt Dr. Zieglgänsberger aus, „bei Werefkin wird eine Geschichte aufgerufen, die nicht zu Ende erzählt ist. Wir erzählen sie im Kopf weiter für uns. Bei Jawlensky berühren uns die Farben emotional, und wir sind sofort involviert. Zwei verschiedene Methoden."
Der Experte hat sich nicht nur mit der Wirkweise dieser Kunst beschäftigt: „Ich glaube, dass es für beide Seiten gut war, dass diese Beziehung auseinandergegangen ist – sie hätten sich aufgefressen."
Jawlensky heiratet Helene 1922 und zieht nach Wiesbaden. Werefkin lebt in Ascona am Lago Maggiore und ist Mitbegründerin der dortigen Künstlergruppe „Der große Bär". Sie lernt den Sänger Ernst Alfred Aye kennen, den sie Santo nennt.
Jawlensky wird 1933 Mal- und Ausstellungsverbot erteilt, dennoch erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft. Er malt seine letzte Werkreihe „Meditationen" zwischen 1934 und 1937. Er kann den Pinsel, einer schmerzhaften Gelenkerkrankung wegen, kaum noch führen. An Emil Nolde schreibt er: „Ich arbeite den ganzen Tag, und niemand versteht, was ich male."
Wechselseitige Inspirationen
Seine meditativen Köpfe lösen auf Anhieb keine Begeisterung aus. Wie kann man sich diesen Werken nähern? frage ich beim Kunsthistoriker Dr. Roman Zieglgänsberger nach. „Zunächst muss man sich Zeit nehmen. Diese meditativen Köpfe am Ende, die kleinsten seiner Werke – damit vollendet er sein Schaffen. Er schaffte damit moderne Ikonen. Er hat viele, viele unter großen Schmerzen geschaffen und wusste: Sein Körper wird vergehen, aber sein Geist wird weiterleben – der Gedanke des Dualistischen."