Nach 13 Jahren übernimmt Deutschland wieder die Präsidentschaft in der EU. Die Corona-Krise hat die Themen verschoben. Die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie stehen im Vordergrund.
Die Bewältigung der Pandemie-Folgen sind wahrlich dicke Brocken! Daneben stehen aber auch die Dauerbrenner auf der Agenda der Europa-Politik: Brexit und das zukünftige Verhältnis zu Großbritannien, die ungelöste Migrations- und Asylpolitik, das Negieren von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten oder auch die unsichere Weltlage durch das Verhalten von Trump, Putin und Xi Jinping mit negativen Folgen für unseren Kontinent.
In dieser komplexen Situation sind die Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft hoch gesteckt. Als Motto hat Berlin „Gemeinsam: Europa wieder stark machen" gewählt. Die 27 Mitgliedsländer haben in letzter Zeit oft lieber auf eigene Faust gearbeitet und politischen Willen zur Einigung vermissen lassen. Politisch gibt es eine Kluft zwischen Ost und West, wirtschaftlich zwischen Nord und Süd. Da wird viel Fingerspitzengefühl nötig sein, um Ergebnisse zu produzieren und die Union nach innen wie nach außen stärker zu machen. Der Wiederaufbau der darniederliegenden Wirtschaft in Europa ist die Top-Priorität. Für einen Europäischen Wiederaufbau-Fonds gibt es den deutsch-französischen Vorschlag von 500 Milliarden Euro und die Forderungen aus Parlament und Kommission nach weit mehr Unterstützung. Geklärt werden muss, wie viel von dem Geld als Zuschüsse und wie viel als Kredite an die Mitgliedstaaten gegeben werden und natürlich, für welche Zwecke europäische Gelder eingesetzt werden dürfen. Sinnvoll wäre, Investitionen in die Zukunft zu tätigen, sei es bei der digitalen Modernisierung oder der nachhaltigen Entwicklung. Das Europa-Geld sollte nicht in die Staatsfinanzierung und nicht in die Erhaltung maroder Strukturen gesteckt werden.
Das Coronavirus darf den Blick nicht auf ein weit schlimmeres und langfristigeres Virus verstellen, das es zu bekämpfen gilt: den Treibhausgas-Virus. Die deutsche Präsidentschaft muss deshalb helfen, den Klimaschutz in allen Ländern der EU voranzubringen. Die vielen Milliarden sollten genutzt werden für klimafreundliche Maßnahmen im Energie-, Verkehrs- oder Agrarbereich. Der „European Green Deal" ist ein Flaggschiff der EU-Politik und muss durch die Wiederaufbauprogramme einen neuen Schub erhalten. Effiziente Energienutzung und Gebäudesanierung in großem Stil sind ein Konjunkturschub für die lokale Wirtschaft, Geld und Mehrwert bleiben im Land. Dafür könnte sogar Polen gewonnen werden. Der Umbau der Energiesysteme und Europa als führende Region für grünen Wasserstoff sollten einen Sprung nach vorne machen.
Solidarität und Verantwortung
Auch die Themen Migration und Asyl schlagen wieder auf. Die wirtschaftliche Notlage durch die Pandemie wird viele Menschen anspornen, irgendwie nach Europa kommen zu wollen. Nach jahrelangen Streitereien ist es Zeit für ein europäisches Einwanderungs- und Asylsystem. Die beiden Pfeiler Solidarität und Verantwortung müssen von allen 27 Mitgliedern akzeptiert werden. Keine leichte Aufgabe bei der Weigerung der Visegrad-Staaten, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Dafür sollten sie mehr leisten beim gemeinsamen Europäischen Grenzschutz oder den EU-Projekten in den Herkunftsländern in Afrika und Asien.
Ein Positives hatte der Corona-Lockdown: Die Nutzung des Internets ist geradezu explodiert. Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Das Dilemma ist die Tatsache, dass die Server zur Datenverarbeitung entweder in den USA oder in China stehen. Beides keine zufriedenstellende Situation. Das ‚digitale Europa‘ mit einem eigenen Server und der strategischen Souveränität bei Künstlicher Intelligenz, Cloud und Supercomputing muss ganz oben auf die Tagesordnung.
Richtig knorrig, wenn nicht gar fürchterlich schwierig, wird es bei weiteren Themen. Der Brexit wird in der zweiten Jahreshälfte 2020 vollzogen. Die Verhandlungen über ein geordnetes Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien kommen nicht voran. Es droht zum 31. Dezember ein harter Ausstieg vom UK, mit negativen Folgen für viele Wirtschaftsbereiche. Ob Kanzlerin Merkel da noch etwas in letzter Minute retten kann? Es wäre ein Meisterstück. Allerdings müsste die Johnson-Regierung in London von ihrem hohen Ross runter und faire Kompromisse eingehen. Noch sieht es nicht danach aus.
Der deutschen Präsidentschaft bleibt auch nicht erspart, eine Entscheidung über den mehrjährigen Finanzplan der EU herbeizuführen. Wie die Arbeit der Union in den nächsten sieben Jahren finanziert werden kann, muss einstimmig beschlossen werden. In der Frage wie viel Geld die EU braucht, prallen seit jeher zwei Welten aufeinander. Einige Länder wollen den Etat kürzen, andere sehen die EU erheblich unterfinanziert. In der Tat sind die Anforderungen an die EU in den vergangenen Jahren gewachsen, etwa beim Klimaschutz, der Migration, der Friedenssicherung in der östlichen und südlichen Nachbarschaft, ohne dass es dafür extra Geld gegeben hätte. Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft schnell auf. Frau Merkel kann sich auf lange Nachtsitzungen kurz vor Weihnachten vorbereiten.
Um Europa herum hat sich die Weltlage kräftig verändert. Donald Trump ist kaum mehr ein verlässlicher Partner und zerstört eine internationale Institution nach der anderen. China stößt kontinuierlich in dieses Machtvakuum und baut seinen Einfluss aus. In Moskau und Ankara sitzen Machthaber, die Unsicherheit und Unfrieden verbreiten.
Ursula von der Leyen hat ihre Europäische Kommission als „geostrategische Kommission" bezeichnet. Europa muss seinen Platz im internationalen Wirrwarr finden, sich behaupten und seinen Einfluss für eine regelbasierte Weltordnung und eine multilaterale Zusammenarbeit einbringen. Europa hat Gewicht, wenn es mit einer Stimme spricht, was leider öfters nicht der Fall ist. Die deutsche Präsidentschaft hat sich vorgenommen, das Verhältnis der EU zu China zu klären.
Enorm hohe Erwartungen
In Leipzig sollte im Herbst der EU-China-Gipfel mit den EU-Institutionen und zum ersten Mal mit allen Mitgliedstaaten stattfinden. Schritt für Schritt hat sich China großen Einfluss nicht nur um die EU herum, sondern auch innerhalb der Union gesichert. Länder wie Griechenland, Portugal oder Ungarn sind durch chinesische Investitionen in die nationale Infrastruktur politisch abhängig geworden und trauen sich keine Kritik mehr an China zu. Tacheles geredet werden muss auf dem Gipfel über unfaire Handelsbeziehungen. Chinesische Staatsunternehmen können auch deshalb auf Shopping-Tour durch Europa reisen, weil sie fast unbegrenzte Finanzierungs- und Kreditmöglichkeiten von ihrer Regierung bekommen. Nicht zu vergessen die Repression gegen die Minderheiten in China und die Repressalien gegenüber Hongkong. Also viel zu besprechen mit der Weltmacht des 21. Jahrhunderts.
Ein ebenso heikles Thema ist die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU. Kaczynski und Orban predigen die „illiberale Demokratie" und verletzten die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Medien- und Meinungsfreiheit. Die Zuweisung von finanziellen Hilfen aus Brüssel soll in Zukunft an die Einhaltung der Grundwerte der Union gekoppelt werden. Auch das steht bis Ende dieses Jahres zur Entscheidung an. Frau Merkel muss es schaffen, den zu erwartenden Widerstand aus Warschau und Budapest zu überwinden und einen neuen „Rechtsstaats-Mechanismus" in der EU einzuführen.
Von Bedeutung ist auch der EU-Afrika-Gipfel im Spätherbst 2020. Unser Nachbarkontinent wird vom Klimawandel wie auch der Corona-Krise besonders gebeutelt. Ein neuer Impuls für umfangreiche Kooperationen zwischen Europa und Afrika ist nötig. Es geht nicht mehr um traditionelle Entwicklungshilfe, sondern um strategische Partnerschaften und Investitionen. Beide Kontinente können sich gegenseitig viel geben.
Die Tagesordnung dieser EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020 ist proppenvoll und voller Brisanz. Erschwerend kommt hinzu, dass Treffen unter Corona-Bedingungen nur eingeschränkt möglich sein werden. Video-Konferenzen können den persönlichen Kontakt und Absprachen hinter den Kulissen nicht ersetzen. Es gehört deshalb ein großes Geschick und auch das notwendige Quäntchen Glück dazu, am Ende des Jahres eine ausreichende Anzahl von Erfolgen vorweisen zu können. Dem von allen Seiten unter Druck stehende Kontinent Europa und seinen Menschen sind diese Erfolge zu wünschen.