Grünen-Politiker Manuel Sarrazin, Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe, warnt, dass Corona die Beziehungen zwischen beiden Staaten dauerhaft beschädigen könnte. Ohne die deutsch-polnische Freundschaft könne Europa nicht funktionieren.
Herr Sarrazin, Sie haben in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki vor einem dauerhaften Schaden in den Beziehungen beider Länder infolge der Corona-Krise gewarnt. Woher kommt Ihre Sorge?
Die deutsche Debatte war sehr stark von den geschlossenen Grenzen zu Frankreich und der Schweiz oder der Frage der Nichtschließung in Richtung Niederlande geprägt, wohingegen Polen kaum vorkam. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind aber noch viel stärker als andere Nachbarschaften durch den persönlichen Austausch von Menschen geprägt – in der Wirtschaft, in der Zivilgesellschaft und in der Kultur. Gleichzeitig erleben wir in beiden Ländern nicht erst seit Corona, aber dadurch noch einmal verstärkt, eine Tendenz zu einem stärkeren nationalen Denken. Mit meinem Brief wollte ich ein Warnsignal aussenden und daran appellieren, dass wir nach Corona wieder stärker aufeinander zugehen, damit sich die Entwicklung nicht verstetigt.
Corona hat der EU-Integration ja nicht gerade einen Schub gegeben. Sehen Sie dennoch Chancen für eine bessere Zusammenarbeit?
Wir haben uns inzwischen schon fast daran gewöhnt, dass wir bei der Bekämpfung der Corona-Krise nicht mehr in dem Maße europäisch denken und vor allem nicht aus deutsch-polnischer Perspektive. Dabei sind viele der betroffenen Wirtschaftsbereiche zwischen beiden Staaten eng vernetzt. Wir haben viele gemeinsame Interessen. Viele unterschätzen auch, dass Deutschland und Polen nicht nur an den Grenzregionen miteinander verbunden sind, sondern auch darüber hinaus intensive persönliche Beziehungen bestehen: zwischen Familien und Freunden, Kultureinrichtungen, Sportvereinen, freiwilligen Feuerwehren. All das ist eine wichtige Grundlage für die deutsch-polnische Freundschaft, die wir weiter pflegen sollten. Wir müssen aufeinander zugehen und auch beim Weg aus der Krise gemeinsame Wege finden.
Was wäre aus Ihrer Sicht die Alternative gewesen zu einer überhasteten Grenzschließung?
Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass wir die Frage, ob die Grenzschließungen eigentlich effektiv zur Eindämmung der Pandemie beigetragen haben, in der gesamten Europäischen Union noch einmal kritisch hinterfragen sollten. Im konkreten Fall hätte ich mir konkret gewünscht, dass beide Regierungen von Beginn an klar kommunizieren, wie sie vorzugehen gedenken und jetzt auch deutlich machen, wie sie die deutsch-polnischen Beziehungen wieder in Gang bringen wollen. Es ist aber zumindest ein gutes Zeichen, dass Außenminister Heiko Maas direkt nach der Grenzöffnung nach Warschau geflogen ist. Das zeigt, dass die Bundesregierung die deutsch-polnische Beziehung auf dem Zettel hat.
Momentan ist viel von der Achse Berlin-Paris die Rede. Welche Rolle spielen im Vergleich dazu die deutsch-polnischen Beziehungen in der deutschen Außenpolitik?
Es war sehr wichtig, dass Deutschland und Frankreich in wichtigen Pandemie-Fragen Einigkeit erzielen konnten. Gleichzeitig gilt aber weiterhin, was auch vor der Krise galt: Dass die deutsche Europapolitik mehrere Standbeine braucht. Dazu gehört neben der unverzichtbaren Partnerschaft zu Frankreich eben auch der Blick auf die zentraleuropäischen Nachbarn und insgesamt auf die kleineren Staaten. Momentan verhält sich die deutsche Politik abwartend mit Blick auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Polen am 28. Juni. Grundsätzlich sollte sie die polnische Politik aber unbedingt als wichtigen europapolitischen Partner betrachten.
Deutschland setzt auf Europa, dagegen sind aus Polen vermehrt europakritische Stimmen zu hören. Welche Rolle spielt Europa für die Polen – und welche Rolle spielt
Polen umgekehrt für die EU?
Ich habe die Europapolitik der polnischen Regierung in der Vergangenheit als eher skeptisch gegenüber einer weiteren Vertiefung der europäischen Institutionen wahrgenommen. Sie ist sicherlich eher kein Partner, mit dem man die aus meiner Sicht notwendigen politischen Reformschritte innerhalb der EU wie eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion und einen Ausbau europäischer Kompetenzen progressiv vorantreiben könnte. Gleichzeitig zeichnet sich die polnische Europapolitik selbst unter der Regierung der PiS-Partei durch ein Maß an Pragmatismus aus, das durchaus zu konstruktiven und sinnvollen Vorschlägen führt, beispielsweise in der Frage europäischer Kompetenzen bei der Energieunion. Auch wenn der aktuelle Konfrontationskurs der polnischen Regierung, vor allem in Bezug auf die Rechtstaatlichkeit und die Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, sicherlich ein Problem ist, bin ich grundsätzlich der Überzeugung, dass Europa nur mit einem starken Polen erfolgreich sein wird, und dass ohne die deutsch-polnische Freundschaft Europa nicht gelingen kann.
Woher kommt diese Europaskepsis auf polnischer Seite? Fühlen sie sich benachteiligt, weil viel Geld in den Süden geflossen ist – und im Zuge der Corona-Programme
auch künftig fließen wird?
Die Position der PiS hat eher etwas mit Ideologie zu tun. Was die Finanzverteilung innerhalb der EU angeht, hat Polens Ministerpräsident Morawiecki in einem Gastbeitrag in deutschen Medien sogar extra betont hat, wie wichtig es ist, dass auch die südlichen Staaten Europas jetzt finanziell gestützt werden, weil ohne sie auch der polnische Erfolg gefährdet wäre. Das war eine bemerkenswerte Tonverschiebung in der polnischen Europapolitik. Das Problem ist eher, dass die ewige Debatte über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in weiten Teilen der polnischen Bevölkerung und auch in der polnischen Politik weit über das Lager der Regierungsparteien hinaus das Gefühl aufkommen lässt, dass man eigentlich nicht als vollwertiges Mitglied der europäischen Gemeinschaft gesehen wird. Das führt dann zu einer Europaskepsis. Es wäre deshalb gut, wenn man die Corona-Krise als Anlass nehmen würde, diese Tendenzen in den Keller zu räumen und gut wegzusperren.
Deutschland hat ab dem 1. Juli für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft inne. Eine gute Gelegenheit, um sich Polen wieder anzunähern und das Land für die weitere europäische Integration ins Boot zu holen?
Die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen sind extrem wichtig, um jene Kräfte in der polnischen Politik, die von der europäischen Idee wegdriften, wieder ins Boot zu holen. Deutschland sollte die Ratspräsidentschaft nicht nur für ein effektives Management dieser Krise nutzen, sondern auch seine alte Rolle als Anwalt der mittel- und osteuropäischen Staaten wieder stärker betonen und so einen Beitrag dazu leisten, das positive Europabild zu stärken, das in der polnischer Bevölkerung immer noch breit vorherrscht.
Mit anderen Worten: Es wäre der falsche Weg, die Probleme ausschließlich mit der deutsch-französischen Achse lösen zu wollen?
Genau. Die deutsch-französische Achse ist extrem wichtig, aber das gilt für Polen ganz genauso.