In Deutschland sind aktuell Dutzende Arzneimittel nur eingeschränkt oder gar nicht lieferbar. Das hat viele Gründe – nicht nur die Corona-Krise.
Schmerzmittel, Allergiemittel, Antidepressiva oder Blutdrucksenker können derzeit in vielen Apotheken ausverkauft sein. Millionen Patienten können das von ihnen benötigte Medikament somit nicht erhalten. Laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) gibt es derzeit bei über 270 Präparaten Lieferschwierigkeiten. Ende 2019 waren es noch etwa 200. Darunter auch Medikamente wie das Schmerzmittel Ibuprofen. Bei 20 krankenhausrelevanten Medikamenten soll der Engpass frühestens 2021 enden, bei einem Medikament sogar erst im Mai 2022.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel bietet auf seiner Webseite Informationen darüber, bei welchen Arzneien genau es derzeit Lieferengpässe gibt. Seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013 hat die Zahl der betroffenen Arzneimittel konstant zugenommen. Zwar ist dies mit Vorsicht zu genießen, da sich 2017 die Meldekriterien geändert haben und allein die Verunreinigung des Blutdrucksenkers Valsartan zu 118 Einträgen geführt hat. Da die Einträge aber auf freiwilligen Angaben der Hersteller beruhen, ist von einer beträchtlichen Dunkelziffer auszugehen. Gesetzlich verpflichtet sind Produzenten lediglich zur Meldung an Krankenhäuser – nicht aber an das Bundesinstitut für Arzneimittel oder niedergelassene Apotheken. Ein Lieferengpass bedeutet, dass ein Medikament über zwei Wochen hinaus voraussichtlich nicht im üblichen Umfang geliefert werden kann oder die Nachfrage so steigt, dass ihr nicht angemessen nachgekommen werden kann. Lieferengpässe führen, so das Bundesinstitut für Arzneimittel, nicht zwangsläufig zu Versorgungsengpässen, da oft alternative Arzneimittel zur Verfügung stehen. Die zu organisieren, kostet Ärzte und Apotheker jedoch Zeit und Energie. 90 Prozent der selbstständigen Apotheker nennen Engpässe eines der größten Ärgernisse in ihrem Berufsalltag. Die Mediziner wiederum brauchen mehr Zeit, um verunsicherte Kranke über Ersatzpräparate zu informieren und das Vertrauen in ein neues Mittel herzustellen. Hinzu kommt ein Zeitaufwand, weil bei neuen Medikamenten mitunter auch neue Bluttests nötig sind, um die Wirksamkeit sicherzustellen – insbesondere, wenn es sich um Medikamente für schwere Erkrankungen handelt.
Der Zeitaufwand bei neuen Mitteln spielt eine Rolle
Das Schmerzmittel Paracetamol ist ein Beispiel für solch einen Lieferengpass. Weil kurz die Meldung kursierte, Ibuprofen verschlimmere die Corona-Symptome, deckten sich Menschen mit der Alternative Paracetamol ein. Die Weltgesundheitsorganisation hat diese Warnung mittlerweile zurückgenommen, das Problem besteht mittlerweile nicht mehr. Auch manch andere Medikamente wurden aufgrund der Covid-19-Pandemie knapp.
Doch auch vor der Krise gab es schon deutliche Engpässe bei Medikamenten. Eine Hauptursache dafür ist, dass die Produktion in Länder außerhalb Europas verlagert wurde und man sich dort wiederum auf weniger Standorte konzentriert. Kommt die Produktion an einer Stelle ins Stocken oder gibt es Schwierigkeiten mit der Qualität der Produkte, ist die komplette Versorgung gefährdet. Ebenso wie andere Industrien auch, versuchen Pharmafirmen ihre Produkte möglichst günstig zu produzieren. Das geht zum Beispiel in China oder auch in Indien. Rund 80 Prozent der wichtigsten Wirkstoffe werden außerhalb Europas produziert. Wegen des Preisdrucks in der Branche konzentrieren sich die Bestellungen meist auf den günstigsten Lieferanten.
Die durchschnittliche Versorgung eines deutschen Patienten kostet 60 Cent pro Tag, das ist weniger als ein Kaffee am Automaten, erläutert Siegfried Throm vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller gegenüber der Deutschen Welle. „Preise für Generika sind inzwischen so niedrig, dass die Hersteller von Wirkstoffen, zum Teil auch von Arzneimitteln, nicht mehr genug Geld verdienen, um ihre Anlagen wirklich auf absolutem Topniveau zu halten. Die werden, auch weil die Nachfrage recht groß ist, dann eben so lange gefahren, bis die Anlage zusammenbricht." In einem System, das derart vom Preisdruck beherrscht und auf Effizienz getrimmt wird, macht sich jede kleinste Veränderung bemerkbar – Verzögerungen beim Zulieferer ebenso wie Unfälle oder eine große Erkältungswelle.
Die Pharmafirmen machen die Krankenkassen für diese Situation mitverantwortlich. Der Grund: Die Kassen handeln Rabattverträge mit einigen wenigen Herstellern aus und bestimmen, welche Medikamente an den Kunden abgegeben werden dürfen. Das befördere den Preisdruck und die Verlagerung der Produktion. Die Pharmabranche will deshalb, dass bei Rabattverträgen grundsätzlich drei Arzneimittel-Hersteller zum Zuge kommen.
Experten fordern internationale Lösungen
Was also tun gegen den Medikamentenmangel? Bereits im Februar dieses Jahres hat der Bundestag das Arzneimittelgesetz geändert. Neu ist: Pharmafirmen können künftig von den Behörden verpflichtet werden, über Lagerbestände, Produktion und Absatzmenge bestimmter Arzneimittel zu informieren. Kommt es zu einem Engpass, können Firmen oder Arzneimittelgroßhändler angewiesen werden, größere Mengen dieser Präparate auf Vorrat zu lagern. Für Patienten gilt: Kann ihr gewohntes preisgünstiges Medikament nicht geliefert werden, können Apotheken auch die teureren Arzneimittel mit dem gleichen Wirkstoff ausgeben. Der Patient muss dafür keine Mehrkosten tragen. Ärzte und Medizinexperten hatten gefordert, Lieferengpässe für gängige Medikamente in Zukunft auf internationaler Ebene zu lösen. Europa müsse demnach eine Führungsrolle bei der Lösungssuche übernehmen.
Der Direktor der Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission, Andrzej Rys sagte bei einem Kongress im Januar, eine Option sei auch, die Produktion nach Europa zurückzuholen. Da stelle sich jedoch die Frage, wie man die Industrie zu diesem Schritt bewegen könne. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) plant einen europäischen Ansatz. So hat er bereits im vergangenen November angekündigt, das Thema in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2020 anzugehen. Ziel sei, das europäische Vergaberecht zu überarbeiten. Es solle bei Zuschlägen nicht nur nach dem Preis gehen, sondern auch danach, wo Produktionsstandorte seien.