Wo Hunsrück und Eifel die Mosel küssen, wachsen an den Steilhängen seit 2.000 Jahren exzellente Weinreben. Hier lernte Wanderexperte Günter Schmitt Anfang der 90er-Jahre Winzer Heinz Schmitt kennen. Mehr als 25 Jahre später besucht er Carlo Schmitt, der nach dem Unfalltod des Vaters den Betrieb übernommen hat.
Als ich 1993 zu Recherchearbeiten nach Leiwen kam, besuchte ich das Weingut Heinz Schmitt. Noch bevor ich mich versah, saß ich mit Heinz in seinem Auto und war mit ihm in den Weinbergen unterwegs. In einer steilen Rechtskurve ließ er mich aussteigen. Ich sollte zu Fuß den Weinberg hinaufkommen. Die Szene, die sich vor mehr als 25 Jahren abspielte, sehe ich vor mir, als wäre es gestern gewesen. Damals war ich wesentlich sportlicher als heute, ich dachte die wenigen Meter im Steilhang des Schweicher Annabergs seien ein Katzensprung. Doch der lose Schieferboden ließ kein rasches Nach-oben-kommen zu. Oben war ich aus der Puste, schnappte nach Luft. Heinz empfing mich lachend: „Jetzt weißt du, was wir hier täglich im Weinberg leisten. Ich wollte dir mal zeigen wie steil es wirklich ist. In sechs bis acht Wochen ist eine dicke Sohle meiner Arbeitsschuhe flach gelaufen."
Dann öffnete er eine bestens gekühlte Flasche Riesling vom Schweicher Annaberg. Die Sonne stand tief hinter Trier, als wir auf dem warmen Schieferboden saßen und uns zuprosteten. Unten im Tal zog die Mosel wie ein güldenes Band von Trier Richtung Koblenz. Dieser Sommernachmittag im Weinberg mit Heinz hat sich fest in mein Herz gebrannt.
2010 verunglückte Heinz tödlich am Steilhang der Mosel. Der Anruf seiner Frau Silvia mit dieser Schreckensnachricht erreichte mich während meiner achtmonatigen Wanderung rund um Deutschland in Passau. Diesen Schock beschreibe ich so in meinem Buch „5.200 Kilometer bei Fuß": „Freud und Leid liegen dicht beieinander. Ich bin in Feierlaune, als ich zur letzten Etappe des Goldsteigs aufbreche. Der Goldsteig macht der Bezeichnung ‚Top Trails of Germany‘ alle Ehre. Er gehört zu den schönsten Wanderstrecken, die ich jemals in meinem Leben gelaufen bin. Eine abwechslungsreiche Wegführung, gespickt mit landschaftlichen und kulturellen Höhepunkten und ungeheuer liebenswerten Gastgebern. Der Goldsteig ist ein absolutes Muss für jeden Wanderfreak. Als wir nach Passau absteigen, überkommen mich Glücksgefühle. Wir haben den Goldsteig geschafft, ein Meilenstein auf unserem Weg rund um Deutschland. Ich bin gerade dabei, mir im übertragenen Sinn auf die Schulter zu klopfen, als mein Handy klingelt. Silvia, die Frau meines Freundes Heinz aus Leiwen, ist am Telefon. Heinz, Winzer an der Mosel, ist vor wenigen Tagen im Steilhang tödlich verunglückt. Ich finde keine Worte, bin fassungslos, werde in Sekundenbruchteilen ins ‚richtige‘ Leben zurückgeholt. Heinz hatte sich mit Leib und Seele dem Weinmachen verschrieben. Die Intensität seines Schaffens war manchmal beängstigend. Er lebte und liebte seinen Beruf, er machte einen außergewöhnlich guten ‚Stoff‘. Jetzt soll er nicht mehr da sein? Ich vermisse ihn schon jetzt, kann es einfach nicht fassen. Ich schleiche ins Hotel. Die erste Flasche Wein passt gut zum Essen, die zweite trinke ich auf meinen Freund Heinz. An den Rest des Abends kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern." Heinz hinterließ eine große Lücke, als Mensch, aber auch als genialer Weinmacher.
Der 21-Jährige brennt wie der Vater für seinen Beruf
Umso mehr freut es mich, dass sein Sohn Carlo in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist. Er hat seine Winzerlehre abgeschlossen und anschließend in Luxemburg sein Gesellenjahr verbracht. Seit Herbst 2019 ist der inzwischen 21-Jährige auf dem Weg zum Weinbautechniker in Weinsberg. Wenn er über Weinbau, Weinlagen und die Weinherstellung redet, leuchten seine Augen. Wie Heinz brennt auch Carlo für seinen zukünftigen Beruf, er hat die Gene des Weinmachens im Blut. Heinz hatte schon früh für seinen Sohn einen Hektar Steillage des berühmten Neumagener Rosengärtchens gekauft.
Großes Hallo als ich in Leiwen ankomme. Carlo möchte mir unbedingt seinen Weinberg in Neumagen zeigen. Zunächst wollen wir aber in den
Schweicher Annaberg, eine Weinberglage oberhalb von Schweich. Wenn Carlo von Weinbergen und Weinmachen erzählt, erlebe ich die gleiche Leidenschaft, mit der Heinz erzählen konnte. Mimik und Gestik sprechen Bände – hier steht jemand, der sich mit Leib und Seele seinem Beruf verschrieben hat. Carlo hat eine Flasche eingepackt, die sein noch Vater produziert hatte: Heinz Schmitt, Riesling, Auslese 2003, Fass 4, Schweicher Annaberg. Der goldgelbe Wein im Glas weckt viele Erinnerungen, Erinnerungen an meinen Freund Heinz, seine Familie und die vielen Gespräche in seinem Keller oder auf dem Weinberg.
Nachmittags bin ich mit Carlo auf dem Moselsteig unterwegs nach Neumagen-Dhron. Der Weg verläuft oberhalb von Leiwen, auf dem bewaldeten Rücken des Hunsrücks vorbei am „Zummethof". Von dort hat man den ersten großartigen Ausblick ins Moseltal. Carlo und ich sitzen auf der Außenterrasse des Ausflugslokals. Der Hunsrück zeigt sich an diesem Plätzchen von einer seiner schönsten Seiten. Unten windet sich die Mosel in einer eleganten Schleife um den Winzerort Trittenheim, die gesamte Ortslage ist von Reben umgeben.
Ob der römische Dichter Ausonius, der den Text „Mosella" verfasste, diesen Blick ebenfalls erleben durfte? Decimius Magnus Ausonius, um 310 in Burdigala, dem heutigen Bordeaux geboren, war ein hoher gallo-römischer Staatsbeamter. Er bereiste die Römerstraße, die heute seinen Namen trägt, von Mainz über Bingen durch den heutigen Hunsrück zum Moseltal und weiter über Neumagen nach Augusta Treverorum – Trier. Seine lateinische Reisebeschreibung, die in 483 kunstvollen Hexametern seine Eindrücke beschreibt, soll um 371 entstanden sein. Die antike Wegstrecke zwischen Rhein und Mosel ist noch im Gelände erhalten und auf ganzer Länge (107 Kilometer) als „Ausonius-Wanderweg" beschildert. „Die Römer", so erzählt mir Carlo, „erkannten schon vor 2.000 Jahren, dass die Schiefersteillagen der Mosel ideale Bedingungen boten und begründeten den Weinbau in der Region. Mildes Klima, die intensive Sonneneinstrahlung und dunkle, lockere Schieferböden, die tagsüber Sonnenwärme speichern und sie in der Nacht an die Reben abgeben, sind optimale Voraussetzungen."
Neumagen, das alte Noviomagus Treverorum, war die Wiege des Weinbaus in Deutschland. Es profitierte von der günstigen Lage des Orts. Eine antike Fernstraße führte mitten durch die römische Siedlung. Der Knotenpunkt zwischen den alten Straßen durch den Hunsrück, dazu die Möglichkeit mit einer Fähre den Fluss zu überqueren, machte den Ort zu einem bedeutenden Umschlagplatz, an dem sich Händler, Handwerker und Großkaufleute niederließen. Letztendlich wurde ein Kastell gebaut, das Kaiser Konstantin als Sommerresidenz nutzte.
Weiter erfahre ich von Carlo, dass die Schieferformationen in den Hängen von spröden Grauwacken bis zu weichem Tonschiefer reichen. Sie liefern der Traube wichtige Mineralstoffe und prägen den typischen Geschmack der Weine. Die Pfahlwurzeln alter Rebstöcke dringen bis zu zehn Meter in den Schiefer vor.
Der Schriftsteller Stefan Andres wurde 1906 im nicht weit von hier entfernten Dhrönchen, im Tal der Kleinen Dhron, geboren. Der Ort besteht aus einer Handvoll Häuser, die sich im Schatten der Moselhänge verstecken. In seinen frühen Werken beschreibt er Personen und Geschehnisse seiner Heimat.
Das Elternhaus, die ehemalige Breitwiesmühle, steht noch. Als Stefan Andres im Tal seine Kindheit verbrachte, kannte man elektrisches Licht dort nur aus der Zeitung. Die Schule lag stundenweit jenseits der Berge.
Drei Jahrgänge hat er mittlerweile eigenhändig produziert
Die Landschaft zwischen Hunsrück und Eifel war vielfach Schauplatz seiner Erzählungen und Romane. In seinem autobiografischen Roman „Der Knabe im Brunnen" erinnert sich Stefan Andres, wie er erstmals von der Familie mit zur Kirche genommen wurde und aus dem engen Dhrontal hinter den Bergen auf die Höhe zum Zummet kam: „Auf die Höhe, wo der Weg aus dem kleinen Tal der Dhron in das große Moseltal hinüberläuft. Ich fühlte, wie mein Blick, der drunten am Bach immer gegen den Berg anstieß, in die Ferne fliegen konnte, weiter und noch weiter. – ‚Dat is de Mosel‘, sagte Vater, und sein langer Finger wies in die Tiefe vor uns. – Was mir bis dahin nur aus den Worten der anderen bekannt war, nun sah ich es… während ich schaute, fühlte ich mich angeschaut vom Fluss und von Bergen."
Der Moselsteig verlässt kurz vor Neumagen-Dhron die Höhen und führt an Rebhängen ins Tal. Ebendort erreichen wir das „Neumagener Rosengärtchen". Carlo strahlt, als er seinen Weinberg sieht. Mit flinken Schritten nimmt er die steilen Steintreppenstufen nach oben. Mit kritischen Blicken begutachtet Carlo Blattwerk und Triebe. In den letzten Jahren hat er 300 neue Holzpfähle auf seinem Rücken nach oben geschleppt, um sie gegen alte Pfähle auszutauschen. Eine Knochenarbeit – aber davor schreckt Carlo nicht zurück. Er weiß, was ihn die nächsten Jahre erwartet.
Bei seinen ersten Versuchen im Weinkeller produzierte Carlo mit dem ehemaligen Kellermeister seines Vaters, Erich Clüsserath, die Weine des Weinguts. Mit gerade mal 18 Jahren produzierte er dann einen Wein, der ausnahmslos seine Handschrift trug. „Ich wollte einfach mal ausprobieren, was geht", sagt er lächelnd, als wir den Weinberg wieder verlassen.
Ich bin sicher, da geht sehr viel. Schließlich hat Carlo schon als kleiner Junge Kellerluft geschnuppert, wenn er mit seinem Bobbycar durch den Weinkeller kurvte.
Inzwischen hat Carlo drei Jahrgänge eigenhändig produziert und dabei die Rebsorten Rivaner, Riesling und Weißburgunder aus neun verschiedenen Lagen in den Flaschen. Neben der Klüsserather Bruderschaft, dem Köwericher Laurentiuslay und dem Neumagener Rosengärtchen bearbeitet er Flächen am Galgenberg in Trittenheim und im Klostergarten in Leiwen.
Carlos Neumagener Rosengärtchen Spätlese 2018 feinherb hat die Herausgeber des Magazins für Weinkultur „Vinum" überzeugt. in der Ausgabe 3/2020 heißt es unter dem Titel „The Future Starts here": Es tut sich etwas in Weindeutschland, junge Winzertalente strecken ihre Flügel aus, rekultivieren lange brach liegende Weinberge, krempeln Fassweinbetriebe zu Flaschenproduzenten um oder bringen vergessene Bouquetrebsorten wieder nach vorn. Wir stellen 25 Güter vor, die das Potenzial haben, zu festen Größen zu werden – selbst wenn ihre Rebfläche ganz klein ist." Carlo Schmitt gehört zu den 25 Weingütern, denen die Zukunft gehört.