Mit einer plötzlichen Panikattacke fing es an, als Antonia an einer Angststörung erkrankte. Ein langer, schwieriger Weg nahm seinen Anfang.
Wenn Antonia spricht, ihre Hände bewegt, Pausen macht, ihr dunkelblondes Haar aus der Stirn streicht, keiner Frage ausweicht und manchmal lächelt, dann spürt man, dass die 53-Jährige heute vollkommen bei sich ist. Das war nicht immer so, sie macht kein Hehl daraus, schwere Jahre liegen hinter ihr.
Alles begann vor 30 Jahren mit einer Flugreise. Als die Kabinentüren geschlossen wurden und die Maschine auf die Startbahn rollte, spürte Antonia ein starkes, unangenehmes Kribbeln, erst in den Händen, dann in beiden Armen. Dazu Schweißausbruch, Herzrasen und nur noch ein Gedanke: Ich muss hier raus! Da machte sich in ihr, die doch so gerne flog und um die Welt reiste, etwas Neues, Unberechenbares, Unbezähmbares breit: panische Angst. Noch heute kennt sie dieses Gefühl und sie weiß, dass es sie ihr Leben lang begleiten wird. Zu lernen, damit umzugehen, war ein langer, schwieriger Weg.
Nichts deutete darauf hin, dass ihre Angststörung zu einem ihrer Lebensthemen werden würde, heiler konnte ihre Welt nicht sein: ein Medienjob, der ihr Spaß machte, ein Haus am grünen Stadtrand von Berlin, zwei Kinder, ein verständnisvoller Partner und sogar ein Pferd. Angst sucht sich nicht nur die Schwachen, Schüchternen, Mittellosen, sie frisst sich durch alle Schichten und alle Milieus. Ihr ist jedes Opfer recht, und sie schleicht sich langsam an oder kommt aus heiterem Himmel. Sie versteckt sich vor den Ahnungslosen hinter dem Banalen.
Sie schleicht sich langsam an oder kommt aus heiterem Himmel
Scheinbar sind es eben diese Kleinigkeiten, die Antonia zunehmend zu schaffen machen. Sie scheut Spaziergänge durch einsame Wälder, meidet Autobahnen, wo zwischen den Abfahrten plötzlich viel zu viele Kilometer liegen. Nun quälen sie schon Zweifel, wo sie noch keinen Schritt aus dem Haus gemacht hat. Was, wenn sie den langen Anfahrtsweg zu ihren Frühschichten nicht schafft, wo die Arbeit der Kollegen und der reibungslose Betrieb entscheidend an ihrer Anwesenheit hängt? Allein hinterm Steuer auf noch nächtlicher Stadtautobahn, wie soll das zu schaffen sein? Schon der Gedanke an das, was früher normal und einfach war, treibt ihr den Schweiß auf die Stirn. Wild schlägt das Herz. Kerngesund ist sie von Kopf bis Fuß, und plötzlich taucht die immer gleiche Frage auf: Was ist, wenn mir etwas passiert? Das Herz –
ein Schwächeanfall vielleicht? Angst flüstert Unsinn, schlimmer noch die Gewissheit: Du bist allein und es hilft Dir keiner! Dieser Gedanke hat sich in ihrem Kopf festgefressen, er geht nicht weg. Zu dieser Angst gesellt sich das wachsende Misstrauen in die eigene Gesundheit und beides bestärkt sich gegenseitig.
Antonia spricht mit ihrer Mutter. Die kennt solche Anflüge aus eigener Erfahrung, vermutet eine Angststörung. Da muss etwas getan werden. Doch noch versucht es Antonia aus eigener Kraft, selbstverständlich für eine Frau, die Disziplin schätzt und gewohnt ist, alles unter Kontrolle zu haben. Mit dem Fahrstuhl fährt sie nun schon längst nicht mehr, die Gruppe vor der automatischen Tür lässt sie stehen, nimmt die Treppen, entschuldigt sich unwillig mit ihrer klaustrophobischen Ader. Das legt sich schon wieder, denkt sie, aber sie ist es allmählich leid, das jedem lang und breit zu erklären. Was sollen die schon sagen? Gutherzig meinen manche, sie solle sich nur nicht so anstellen. Sie sagen es vielleicht nicht direkt, aber sie gucken genau so. Eine Zeitlang versucht es Antonia mit diesem Appell an sich selbst. Reiß dich doch zusammen! Aber das hilft nicht, im Gegenteil. Es verstärkt nur den Druck. Psyche hört auf kein Kommando. Antonia ahnt bereits, dass sie es so nicht schaffen kann. Das wird nichts mehr mit dem Autofahren, mit dem Fliegen, mit dem Fahrstuhl, mit den Berg- und Höhlenwanderungen. Die innere Stimme ist der kühlen Überlegung meist voraus.
In einer Apotheke kauft sie sich ein rezeptfreies Beruhigungsmittel, für die Handtasche, für den Notfall. Sie nimmt es nie. Zu Alkohol, Tabletten oder anderen Drogen gegen die Angst greift sie nicht, da bleibt sie vollkommen klar. Sowas würde alles nur noch schlimmer machen. Antonia braucht Sicherheit und Selbstkontrolle, in diesen Jahren mehr denn je. Sie ist es schließlich gewohnt, Verantwortung für sich und andere zu tragen. Schon als Kind übernimmt sie davon zahlreiche Aufgaben. Ihre Mutter arbeitete viel, erzog die Kinder allein, Antonia kümmerte sich um den jüngeren Bruder, half, den Laden zusammenzuhalten. Ihre Großmutter und ihre Tante liebt sie innig, sie sind für das Mädchen und später für die junge Frau Vertraute, Ratgeberinnen, Stütze. Als beide kurz hintereinander sterben, bricht was weg. Vielleicht, so sagt Antonia heute, war dies der traumatische Schock, der ihren späteren Ängsten die Schleusen öffnete.
Noch immer gibt es Ereignisse, die Antonia zutiefst beunruhigen
Noch aber ist sie nicht bereit für eine therapeutische Behandlung, die ihr vielleicht solche Erkenntnisse ermöglicht. Noch will sie es mit sich selbst ausmachen. Ihr Alltag wird anstrengender, immer mehr. Sie spricht mit ihrer Mutter, mit ihrem Mann, der unendliches Verständnis zeigt, abwiegelt. Er meint es gut damit, er hat sich ideal verhalten, sagt Antonia heute, aber natürlich spürt sie, dass die Harmonie Risse bekommt. Gemeinsame Pläne platzen, weil sie nicht mehr mitmachen kann, was für die Familie lange selbstverständlich war: gemeinsame Abenteuerurlaube, Autofahrten über das weite Land, Höhlenwanderungen. Unter dem Kopfschütteln anderer Touristen steigt sie aus einer vollbesetzten Lore wieder aus, als diese zur Besichtigung des Salzbergwerks in den Stollen unter Tage einfahren will. Ihre Kinder bekommen das mit, der Mann nimmt es hin. Seine Geduld ist unendlich. Aber das beunruhigt sie auch, neue Ängste werden wach. Wann wird sich ihr Mann eine andere suchen, die nicht so rumzickt und mit ihm durch einsame Schluchten wandert? Ihrer Familie gegenüber fühlt sie sich schuldig und sie begreift, dass das alles auf Dauer nicht gut enden kann. „Es war", so sagt sie, „als hätte ich in einem Raum gesessen und alle Wände wären immer näher an mich herangerückt." Sie muss handeln, endlich, jetzt, nicht irgendwann. Bevor es zu spät ist. Sie hat Glück.
Viele suchen vergeblich monatelang nach einem Therapeuten, und wenn sie einen gefunden haben, stimmt die Chemie einfach nicht. Das kann nichts werden. Anders ergeht es Antonia. Sie will kein esoterisches Klimbim, sondern Klarheit. Reden, Vertrauen wachsen lassen, Nachdenken, Verhalten überprüfen, durchspielen. Das geht drei Jahre lang. Es hilft, und die Fortschritte sind erlebbar. Antonia lernt, die Angst vor der Angst zu überwinden.
Noch immer scheut sie einsame Spaziergänge durch den Wald, den Aufzug meidet sie, wenn es geht. Aber sie kann wieder ein Flugzeug besteigen, reisen. Sie übt Entspannungstechniken und ist sich jetzt ganz sicher, dass Panikattacken sie nicht umbringen können. Ist sie geheilt? Antonia schüttelt den Kopf. „Die Angst ist kein Hemd, das ich einfach abstreifen kann", sagt sie. Aber sie kennt seit Jahren ihren Gegner, kann ihn besser einschätzen, kann mit ihm umgehen. Noch immer gibt es Dutzende von Ereignissen, die sie zutiefst beunruhigen. Aber sie hat Lebenslust und Lebensqualität zurückgewonnen im Rahmen neuer Möglichkeiten. Der Raum weitet sich wieder, die Wände ziehen sich zurück. Wachsam bleibt sie weiterhin, sie muss es geradezu.
Ihre beiden mittlerweile erwachsenen Kinder leiden auch in unterschiedlichem Maße unter Angststörungen. Damit sich bei ihnen nicht wiederholt, was ihre Mutter durchlitten hat, wissen sie, was zu tun ist. Und sonst? Kommt die Angst zurück, wenn Antonia heute in ein Flugzeug steigt? Antonia lächelt selbstbewusst. Ja, manchmal kommt sie wieder. Aber das Kribbeln schafft es noch nicht einmal mehr bis zum Knie.