Marokko hat frühzeitig die schärfsten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ergriffen. Seit dem 15. März sind Luftraum und Grenzen geschlossen. Wie viele Touristen und Ausländer saß auch unser Korrespondent Jörg Fischer monatelang hier fest, hat ein Land im Ausnahmezustand hautnah erlebt.
Corona, Corana", ertönt es immer wieder aus den Horden von Jugendlichen, denen ich auf meiner Wanderung zu den Wasserfällen von Akschour begegne. Die jungen Leute nehmen es noch mit Humor. Einer erklärt mir: „Marokko wird von Corona verschont bleiben, denn Allah hält seine Hand über das Land." Das war am 15. März, vier Tage nach meiner Einreise in das nordafrikanische Land. Am gleichen Tag wird der Flugverkehr eingestellt und die Grenzen nach Europa geschlossen.
Dann geht es Schlag auf Schlag. Zwei Tage später müssen die Hotels und Restaurants im Land schließen. Dann wird der Ausnahmezustand verhängt. Die Stimmung ist trübe. In Mohammedia an der Atlantikküste laufen nur noch vereinzelt Marokkaner mit düsterem Blick durch die Straßen, teils schon mit Mundschutz. Ein Eier- und Geflügelverkäufer weigert sich, mir etwas zu verkaufen.
Die Angst geht um. Das böse Virus kommt doch schließlich aus Europa. Egal, dass die ersten schweren Krankheitsfälle wohl im fernen Marrakesch bei einem Franzosen auftauchte und dann bei einem marokkanischen Gastarbeiter aus Italien. Die Einstellung gegenüber Europäern ändert sich mit der Zeit. Aber die ersten Monate bleiben von der Angst vor dem Virus bestimmt.
Die marokkanische Regierung ergreift drastische Maßnahmen – Gesundheit vor wirtschaftlichen Zwängen –, verhängt zunächst eine nächtliche Ausgangssperre. Dann darf niemand mehr ohne Genehmigung etwa für den Einkauf auf die Straße. Viele halten sich daran.
Die marokkanische Regierung unter Staatsoberhaupt Mohamed IV. will eine Überforderung des Gesundheitssystems, das längst nicht so ausgebaut ist wie die in Europa, vermeiden – koste es, was es wolle. Und wird dafür weltweit gelobt. Bis heute sind nach Angaben des marokkanischen Gesundheitsministeriums knapp 12.000 Menschen mit dem Virus gemeldet, mehr als 8.000 gelten als genesen, und die Zahl der Toten in Zusammenhang mit Covid-19 liegt bei „nur" rund 220, eine der geringsten Zahlen von Corona-Toten weltweit.
Gesundheit vor Wirtschaft
Zur raschen Durchsetzung der Maßnahmen erweist sich der monarchistische Zentralstaat als äußerst effektiv. Hier wird nicht rumlamentiert wie etwa zwischen den Bundesländern in Deutschland. Das ist in einer Gesellschaft wie der marokkanischen, wo die Nähe zu Freunden und Verwandten extrem wichtig ist, in dieser Situation wohl auch angebracht, wenn Corona wirklich so gefährlich ist wie weltweit befürchtet.
Im Laufe der Zeit halten sich allerdings immer weniger Marokkaner zumindest unter Verwandten und Freunden nicht daran, vor allem viele Männer tragen auf der Straße oder in kleineren Geschäften beim Alltags-Einkauf keine Maske mehr.
Ich finde Asyl bei einem alt-grünen Deutschen, der seinen Lebensabend in einem Haus im Hohen Atlas verbringt. Mir angeschlossen hat sich „Enten-Willy", ein 68-jähriger Paradiesvogel, der nach DDR-Knast, Barkeeping im Kempinski in Westberlin und Bergbauerndasein in Österreich und auf der Krim seit zwei Jahren in seinem mit bunten Blümchen beklebten 2 CV „vogelfrei" unterwegs ist.
Was weder der alt-grüne Matthias noch wir Gäste einkalkuliert haben, ist, dass Matthias’ marokkanischer Adoptivsohn Hassan, seine Frau und seine zwei Kinder aus dem Nachbarort ins Haus eingezogen sind und die meisten Räume für sich in Beschlag genommen haben.
Hassan sorgt mittels Matthias und jetzt uns für sich und seine Familie, schreit seine Frau an und schlägt sie auch bisweilen, Naima macht das wieder mit den Kindern, insbesondere die vierjährige Alam schreit häufig, oft einfach prophylaktisch. Orientalische Erziehungsmethoden.
Hassan kann der liebenswürdigste und hilfsbereiteste Mensch sein, dann wieder jähzornig werden. Wir sind dem inzwischen 38-Jährigen ausgesetzt. Seine Wutausbrüche reichen bis zu Morddrohungen gegen Willy und mich. Matthias sieht dem Treiben machtlos zu und zieht sich meist in sein Schlafzimmer zurück, kommuniziert über Facebook mit der Welt, wo der Einsiedler und einstige Gymnasiallehrer seine Sicht der Dinge über Klimawandel, Politik und christliche Religion verbreitet.
Die Bergwelt im Hohen Atlas ist faszinierend; der Garten am Haus mit seinen blühenden Bäumchen und Blumen ist ein kleines Paradies. Aber wir kommen halt selten raus. Da hält Hassan den Daumen drauf, der als einziger eine Ausgehbescheinigung hat, die er auch weidlich nutzt und fast täglich stundenlang in seinem alten Mercedes durch die Gegend kurvt und Willy oder auch mich mal mitnimmt.
Er kauft für uns ein, kassiert von uns überhöhte Preise und zieht alle Register, um uns von sich abhängig zu machen. „Es ist Corona – ihr dürft nicht raus. Wenn ihr rausgeht, braucht ihr gar nicht mehr zu kommen!", und so fort.
Von den Marokkanern lässt Willy sich in den nächsten Wochen den verdreckten Stall als Bleibe herrichten. Das kostet nicht nur viel Geld – Willy sagt rund 2.000 Euro im ersten Monat – es ist auch angesichts der Arbeitsmoral der dortigen Marokkaner nervenaufreibend. Nach dem Motto: einer arbeitet mehr schlecht als recht für ein paar Stunden am Tag, vier gucken zu und geben Tipps. Alles wird improvisiert. Zwei Tage lang etwa wird eine Abdeckung aus spanischem Rohr für das offene Dach geflochten, das dann bei der nächsten stärkeren Windböe wieder wegfliegt.
Fährgesellschaften nutzen die Situation
Ich nutze die frühen Morgenstunden für tägliche Spaziergängen auf den nächsten mit Kiefern bestandenen Berg mit bizarren Schluchten und Tälern. Da schlafen noch fast alle, und es begegnen mir nur wenige, freundlich grüßende Einheimische. Ich sitze im Garten oder auf der Dachterrasse, rede mit Willy und Matthias über Gott und die Welt oder ziehe mich in meinen ausgebauten Transporter zurück, um zu lesen, Filme zu schauen oder im Internet zu surfen. Es vergehen zwei Monate, in denen ich eine der interessantesten Phasen meines Lebens erlebe.
Ich fühle mich gefangen im Paradies. Nachdem Hassan mich eines Abends wieder anbrüllt, weil ich ohne sein Wissen ins Dorf gegangen bin, um Lauch zu kaufen, reicht es mir in dem Tollhaus. Am nächsten Morgen breche ich trotz Corona-Reiseeinschränkungen und ohne Reisegenehmigung vom Pascha Richtung Agadir auf, wo der dortige deutsche Generalskonsul, Hamza Choufani, einen Campingplatz für Wohnmobilisten organisiert hat.
Eine Polizeikontrollstelle passiere ich nur mit einer nicht gestempelten Reisebescheinigungen, die mir Hassan – auf einmal bestürzt über meine Entscheidung – mitgegeben hat. Zwei weitere Kontrollen – es ist Ramadan und viele sind zum Fastenbrechen am Abend gar nicht mehr besetzt – bewältige ich mit telefonischer Unterstützung des Generalkonsuls. Der und ein Polizist, der mich durchgelassen hat, bekommen zwar am nächsten Tag noch Ärger, aber letztlich wollte ich nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf ein Schreiben der Botschaft, mit dem ich zum Pascha hätte gehen können, warten.
Auf dem Campingplatz nördlich von Agadir fühle ich mich trotz aller Corona-Einschränkungen so frei wie wohl noch nie zuvor in meinem Leben. Hier kann ich faulenzen, im Ort oder sogar im 27 Kilometer entfernten Agadir einkaufen oder in den Bergen oder am Strand wandern. Ich nutze auch die Zeit, um mein Auto in einer marokkanischen Werkstatt von außen aufmöbeln zu lassen – Beulen rausziehen, Teile lackieren, polieren et cetera. Und vor allem habe ich ganz normale Gesprächspartner, ob Deutsche, Franzosen oder viele Menschen mit interessanten Lebensentwürfen.
Nach Schätzungen sind noch mehrere Hundert Deutsche in Marokko. Für die Wohnmobilfahrer macht sich der Kulturattaché der Botschaft in Rabat, Jörg Grotjohann, stark. Er bemüht sich mit eigenen Sonderfähren, vor allem Deutsche nach Europa zu holen oder sie auf von Botschaften anderer Länder organisierten Fähren unterzubringen – erst einmal vor allem solche Menschen, die aus medizinischen oder beruflichen Gründen dringend zurückmüssen.
Das ist ein mühsames Geschäft. Jedes Mal muss nicht nur mit den Behörden in Marokko, Spanien oder Italien verhandelt werden, sondern auch mit den Fährgesellschaften. Insbesondere die italienische Fährgesellschaft GNV versucht offenbar, die Not der Menschen auszunutzen, verkauft erst mal Tickets zu Hunderten von Euro mal nach Genua oder auch nach Sete, verhandelt dann aber erst mit den Hafenbehörden in Marokko. Viele Termine musste sie stornieren. Etliche Wohnmobilisten gingen darauf ein und versuchen jetzt, ihr Geld zurückzubekommen, wenn es nicht geklappt hat.
Die EU-Botschaften haben es nicht geschafft, gemeinsame Fähren zu organisieren, EU hin oder her. Die von der französischen Botschaft gecharterten Schiffe nehmen in erster Linie nur Franzosen (von denen besonders viele im Land sind) mit, die Schweizer nur Schweizer, die Spanier nur Spanier und so fort. Nur in besonders dringenden Einzelfällen kommen auch Staatsbürger anderer Nationen mit. Europäische „Minderheitsnationen", wie Österreicher und Belgier, die keine eigenen Fähren organisieren, sind total auf den Goodwill der anderen Botschaften angewiesen.
Mehr Fälle seit den Lockerungen
Ganz schlechte Karten haben die Auslandsmarokkaner mit marokkanischem Pass. Der marokkanische Staat behalte sich vor, über ihre Rückkehrmöglichkeiten zu entscheiden, heißt es. So stehen auf der Liste des Auswärtigen Amts, nach Angaben aus Diplomatenkreisen etwa noch knapp 400 Namen. Die meisten davon sind Inhaber eines marokkanischen Passes, die in Deutschland geboren wurden oder zumindest eine oft unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung haben, die noch zurückgeflogen werden wollen.
Nach Monaten in Marokko senden sie verzweifelte Hilferufe wie „Ich verliere meine Existenz in Deutschland. Job, Wohnung, Familie …" auch ans Auswärtige Amt, das die Koordination der Flüge übernommen hat. Dort heißt es aber: Es seien keine weiteren Sonderflüge geplant. Und die Fähren sind in erster Linie für Menschen mit in Europa zugelassenen Autos da.
Ich habe mich entschlossen zu versuchen, eine der nächsten Sonderfähren nach Europa zu nehmen, als zum 10. Juni der Ausnahmezustand zunächst um einen Monat verlängert wurde. Und ob die Grenzen danach wieder geöffnet werden, steht in den Sternen. Einige mutmaßen, dass die Schließung der Grenze noch bis Ende des Sommers andauert, andere meinen, gar bis Ende des Jahres.
Denn wer weiß, wie sich die Corona-Zahlen bis dahin entwickeln. Die Regierung hat schrittweise Lockerungen beschlossen, natürlich unter Vorbehalt der Entwicklung. Das Land wurde in zwei Zonen eingeteilt. Die Lockerungen gelten in rund 90 Prozent des Landes (ausgenommen sind die Corona-Hotspots in Marrakesch und in und um Städte wie Casablanca und Tanger an der Atlantikküste). In den ersten zwei Wochen durfte man sich innerhalb der Zonen frei bewegen, seit dem 18. Juni auch ohne Reisegenehmigung zwischen den Zonen reisen. Und die Gaststätten und Hotels dürfen wieder öffnen.
Kehrseite der Medaille ist, dass seit den Lockerungen zunehmend mehr Corona-Fälle registriert wurden. Vielleicht einfach, weil mehr Marokkaner kontrolliert wurden? Ich hab mich jedenfalls auf den Weg in Richtung Norden gemacht, um möglichst nah am Fährhafen TangerMed zu sein, wenn ich ein Ticket auf einer der Fähren ergattern kann. Und die Aussichten dafür sind gut, dass eine von der deutschen Botschaft für den 3. Juli organisierte Fähre nach Spanien zustandekommt.
Ich verbringe meine letzten Tage in Marokko im Mittleren Atlas, der „Schweiz Marokkos" mit Zedernwäldern, Affen, Störchen und einem moderaten Sommerklima. Selbst Städte wie das 70 Kilometer entfernte Fez, in denen sich sonst die Urlauber drängen, kann ich in aller Ruhe anschauen. Ich habe mir fest vorgenommen, in Nicht-Corona-Zeiten wiederzukommen, um mir auch die Wüste und den Süden des Landes anzuschauen, was mein ursprünglicher Plan war.
Dann wird es aber aller Voraussicht nach nicht mehr so leer sein wie jetzt. Jedes Jahr kommen Millionen von Touristen. „Für uns hat das Land ein Alleinstellungsmerkmal: Es ist wohl außer vielleicht der Türkei das einzige Urlaubsland außerhalb Europas, dass man problemlos mit dem Wohnmobil bereisen kann", sagt der Diplomat und jetzige „Leiter der Fährabteilung" Grotjohann. Das nutzen jedes Jahr Tausende von Rentnern vor allem aus Frankreich und Deutschland, die hier überwintern. Dass das aber auch zur Falle werden kann, wenn man wieder zurückwill oder muss, hat die Corona-Krise bereits jetzt gezeigt.