Trotz Coronavirus fuhren Busse und Bahnen – um die Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Fahrgäste fehlten. Nun gilt es, Vertrauen wiederherzustellen, sagt Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen.
Herr Wolff, brauchen Sie Urlaub nach den letzten drei Monaten?
Ich habe schon immer viel gearbeitet, weil mir meine Jobs sehr viel Spaß gemacht haben. Aber was wir nun erlebt haben, hat wirklich seinesgleichen gesucht. Sieben Tage pro Woche Telefonkonferenzen von morgens bis nachts und dann war noch keine E-Mail beantwortet, nichts geschrieben. Damit der Kunde Vertrauen hat, war die Koordinierung von operativen Maßnahmen in Hunderten deutscher Verkehrsunternehmen notwendig. Hinzu kommt: Bund und Länder hatten uns gebeten, zu 100 Prozent weiterzufahren. Das muss finanziert werden, bei weniger Fahrgästen. Die Verhandlungen zum Rettungsschirm waren schwierig. Jetzt kommt es darauf an, das Geld zu verteilen und dass es in den Unternehmen ankommt, bevor diese auf die Insolvenz zusteuern.
Wie viele ÖPNV-Unternehmen sind derzeit von der Insolvenz bedroht?
Die genauen Zahlen wissen wir nicht. Der Rettungsschirm des Bundes steht aber zur Verfügung, auch die Länder leisten dazu ihren Beitrag. Auf Ebene der Europäischen Union will die Kommission den Zahlungen ebenfalls zustimmen. Jetzt geht es noch um das Wie, hierzu schreiben wir gerade Richtlinien für Anträge, für die Unternehmen wie auch für die Landkreise, die diese Anträge positiv oder negativ bescheiden, also gewissermaßen eine Bedienungsanleitung. Dies tun wir in Zusammenarbeit mit dem Land Nordrhein-Westfalen, dort gibt es bundesweit anerkannte Spezialisten für solche Anträge. Wir haben aber auch mit dem Saarland, das derzeit den Vorsitz der Verkehrsministerkonferenz innehat, eine präzise und kluge Zusammenarbeit kennengelernt, die ich hier ausdrücklich noch mal erwähnen möchte, und Verbände loben ja nur selten die Politik. In der Krise hat sich gezeigt, dass die Zusammenarbeit von den Unternehmen bis zum Bundesverkehrsminister sehr gut funktioniert.
Sind Sie derzeit mit öffentlichen Transportmitteln unterwegs oder doch lieber im Auto?
Gerade im Leihwagen unterwegs nach Berlin, aber nur, weil ich noch einen Zwischenstopp unterwegs einlege. Ich nutze derzeit jede Art von Mobilität, wie ich sie brauche. Auch das Flugzeug, wobei diese Art des geschäftlichen Reisens derzeit sehr umständlich ist und man nicht jederzeit jeden Flug bekommen kann. Das führt dazu, dass ich meine Termine anders plane und mehr Webkonferenzen besuche als zuvor. Wenn ich den Ort wechsele, dann im Moment in der Regel mit dem Zug.
Fühlen Sie sich in der Bahn wohl, mit Mundschutz und Abstandsregelungen?
Ich war vor Kurzem in Italien. Ob im Zug oder im Flugzeug, jeder trägt dort Maske. In Deutschland ist es genauso. Also, ja, ich fühle mich wohl dort.
Die Fahrgastzahlen sind massiv durch die Pandemie eingebrochen. Was tun die Verkehrsbetriebe in Deutschland, um das Vertrauen wiederherzustellen?
Busse und Bahnen werden sehr viel häufiger gereinigt als vor der Pandemie. Ständiges Lüften hilft ebenfalls. Der ÖPNV ist in der Regel ein Massentransportmittel, insofern haben wir das Dilemma, trotz vieler Fahrgäste Abstand halten zu wollen. Der Beitrag, den wir leisten, ist, dass die Umgebung so sauber wie möglich ist. Wir fahren außerdem weiter so wie vor der Krise. Kürzungen im Fahrbetrieb gab es nur sporadisch, oftmals wurde dann der Ferienfahrplan vorgezogen. Denn wir sagen: Wenn wir weiter fahren, gibt es das gleiche Transportvolumen, aber bei derzeit weniger Fahrgästen. Insofern schaffen wir dadurch Platz für die einzelnen Fahrgäste und niemand muss das Gefühl haben, in der Sardinenbüchse zu sitzen. Die Virusübertragung hängt zudem an der Länge des Aufenthalts in einer „Viruslast", bei den üblicherweise relativ kurzen Fahrten im Bus relativiert sich also auch das Risiko etwas, sich anzustecken.Bei längeren Fahrten, zum Beispiel im ländlichen Raum oder im Stadtrandbereich, ist die Anzahl der Fahrgäste deutlich geringer. Allerdings müsste man sich dieses Problem wirklich von Linie zu Linie ganz individuell anschauen: hier Kapazitäten erhöhen, dort gleich belassen.
Das kostet Geld, 2,5 Milliarden Euro stellt der Bund als Rettungsgelder zur Verfügung, Hunderte Millionen auch die Länder. Wie lange reicht denn dieses Geld?
Bis zum Ende des Jahres sicher. Je nachdem, wie sich die Zahlen entwickeln, werden wir wieder mit den Ländern und der Verkehrsministerkonferenz Anfang 2021 reden müssen und Bilanz ziehen. Wir fragen bei allen Unternehmen die relevanten Zahlen ab. Dennoch ist klar: Unsere Krise wird sich bis tief in das Jahr 2021 ziehen. Die Frage des Impfstoffes ist die Frage danach, wann die Busse und Bahnen wieder normale Fahrgastzahlen erwarten dürfen. Dauert es länger, werden Bund und Länder die Unternehmen weiter stützen müssen, denn ein geringerer Fahrbetrieb aus Kostengründen ist der Gesundheitssituation nicht dienlich. Wir wünschen uns alle die Normalität zurück, deshalb hoffe ich, dass alle Maßnahmen seitens der Bürger, der Politik, der Medizin auch ohne den Impfstoff greifen.
Dennoch zeigen aktuelle Mobilitätsstudien, dass ein großer Teil derjenigen, die zuvor Bus und Bahn gefahren und jetzt auf Auto und Fahrrad umgestiegen sind, nicht wieder zum ÖPNV zurückkehren wollen.
Unser Dilemma ist: Wir wollen den Klimawandel aufhalten, indem mehr Menschen den ÖPNV nutzen, und gleichzeitig die Situation derzeit annehmen. Ich befürchte, wir werden bei der Expansion des ÖPNV mit jährlich steigenden Fahrgastzahlen in den letzten Jahren erst einmal innehalten. Aus meiner Erfahrung als, sagen wir mal, Multi-Mobilitätsnutzer kann ich jedoch sagen: das Autofahren ist auf Dauer keine Lösung. Eine der besseren Lösung ist ein Mehr an ÖPNV auf die Straße und die Schiene zu bringen. Damit erhalten wir natürlich einen schlechteren Kostendeckungsgrad. Im Augenblick kostet jede Fahrt im Nahverkehr den öffentlichen Haushalt 0,82 Cent. Deshalb muss man dann gemeinsam mit der Politik überlegen, wie man dies finanziert. Aber das Auto, Staus, die Parksituation machen keinen Spaß.
Wie oft haben Sie in den vergangenen drei Monaten mit Ihren Kollegen über Fahrpreiserhöhungen gesprochen?
Gar nicht. Die Debatten, die ich geführt habe, haben mir in den vergangenen Monaten eines gezeigt: ÖPNV zum Nulltarif oder ein 365-Tage-Ticket muss man bezahlen können. Wenn ich sehe, wie schwer man sich derzeit tut, Fahrgastverluste durch die Pandemie auszugleichen, möchte ich mir diese Diskussionen nicht vorstellen. In Nürnberg wurde das 365-Euro-Ticket beschlossen, ab 2023, also ein Jahr vor der Kommunalwahl. Warum so spät? Für mich klingt dies nach einer Hypothek für die nachfolgende Regierung. Man kann darüber streiten, ob ÖPNV zu billig oder zu teuer ist, wie man sozial Schwache unterstützt, die den Nahverkehr nutzen. Wir wissen aber aus Erfahrung, wie hoch die Tarifelastizität im Nahverkehr ist, also wie weit wir steigern können, wie weit wir verringern können. Wenn wir steigern, bleiben in einem gewissen Zeitraum die Fahrgäste weg. Außerdem sind vielerorts die Unternehmen kommunal geführt, das heißt, die Politik und Gewerkschaften sitzen mit am Tisch bei Ticketpreisentscheidungen und bringen zu Recht die sozialen Aspekte mit in die Diskussionen ein. Aber die Branche wird sich andere Abo-Modelle überlegen müssen.
Haben Sie hierzu ein Beispiel?
Diejenigen, die derzeit noch im Auto oder auf dem Fahrrad sitzen und aktuell nicht zurück umsteigen wollen, werden möglicherweise irgendwann wieder umsteigen. Spätestens im Winter, wenn es auf dem Fahrrad zu kalt wird. Aber die Pandemie hat neue Arbeitszeitmodelle nach vorne gebracht. Das Recht auf Homeoffice wird diskutiert. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen hat zum Beispiel beschlossen, zwei Tage Heimarbeit pro Woche ist in Ordnung. Viele Firmen in Deutschland diskutieren dies ebenfalls, und das wird sich auf den Nahverkehr auswirken. Neue Modelle müssen erfassen, dass man zum Beispiel nur drei von fünf Arbeitstagen pendelt, aber dennoch Einkaufsfahrten mit Bus und Bahn unternimmt. In unserem VDV-Ausschuss für Preisbildung und Vertrieb ist die neue Arbeitswelt bereits Thema.
All jene Diskussionen drehen sich allerdings um einen modernisierten, klassischen ÖPNV im bestehenden System von Bus und Bahnen. Wäre nicht jetzt die Gelegenheit da, den ÖPNV von Haustür zur Haustür weiterzudenken, also neue, auch digitale, Mobilitätsangebote zu integrieren?
Wir müssen digitalisieren, keine Frage, und zwar homogen, für ganz Deutschland und die gesamte Branche. Ländergrenzen dürfen kein Hindernis sein. Ein Beispiel: Wenn Sie von Saarbrücken nach Berlin kommen und eine Saarbahn-App haben, muss diese zwingend mit der BVG-App kompatibel sein. Sie müssen ein Ticket über die Saarbahn-App in Berlin kaufen können, das Geld geht dann mit einem prozentualen Anteil für die Saarbahn an die BVG. Der Bund will ein Konjunkturprogramm auflegen und die Digitalisierung voranbringen? Dann halte ich dies für das beste Konjunkturprogramm, weil damit Digitalisierung wirklich in jedem Ort in Deutschland und bei den täglich weit über 20 Millionen ÖPNV-Kunden ankommt. Ja, bezahlen müsste dies der Bund, weil die Unternehmen diese Gelder nicht schultern können. Aber ein solches Programm, das ist unser Wunsch an die Verkehrsminister und Ministierinnen im Bund und in den Ländern, sollten wir jetzt zügig umsetzen.
Dabei kommt den Verkehrsunternehmen aber das novellierte Personen-Beförderungsgesetz in die Quere, das den Markt vorsichtig auch für neue Mobilitätsangebote öffnet. Oder schafft es neue Gelegenheiten?
Dazu muss ich sagen: Wer hat denn die Personenbeförderung in Zeiten des Lockdowns aufrechterhalten? Die neuen Personenbeförderer nicht, sondern die Busse, Bahnen und Taxis, die kommunalen Unternehmen. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir ein Gesetz brauchen, das diejenigen Unternehmen schützt, die einen öffentlichen Beförderungsauftrag annehmen und umsetzen. In der Novellierung ist natürlich das Thema „On-Demand"-Service vorgesehen, aber mit klaren Grenzen. Dabei geht es darum, das Transportmittel zur Verfügung zu stellen. Mobilität aber ist digital: Alle Anbieter von Mobilität müssen elektronisch verfügbar und buchbar sein.
Außerdem bleibt der Anteil des ÖPNV am Verkehrsmarkt in Deutschland seit Jahren gleich, die Zahl der neuzugelassenen Autos aber steigt. Was heißt das für die Nahverkehrsunternehmen, waren die Investitionen der vergangenen Jahre herausgeworfenes Geld?
Da befinden wir uns in einer Zwitterstellung: Zwar steigen unsere Fahrgastzahlen seit Jahren kontinuierlich. Wir gewinnen aber nichts am Verkehrsmarkt hinzu, also am sogenannten Modal Split in Deutschland. Aber die Mobilität insgesamt hat in Deutschland zugenommen – der Markt ist also insgesamt auch gewachsen, davon haben wir aber nicht überproportional partizipieren können. Dort, wo wir Kapazitäten brauchen, haben wir allerdings auch Nachholbedarf beim Ausbau der Infrastruktur. Wir haben nicht genügend Schienen, nicht genügend Straßenbahnen oder U-Bahnen, also Infrastruktur, mit der wir schnell sehr viele Menschen befördern können.
Was passiert denn mit dem ÖPNV, wenn wir in einem Jahr noch keinen Impfstoff gefunden haben? Fiebermessen vor dem Einsteigen? Begrenzter Zugang zu
U-Bahn-Stationen?
Das können wir nicht kontrollieren. Der Mundschutz bleibt unsere Hauptschutzmaßnahme im öffentlichen Personennahverkehr. Daran werden wir auch die Fahrgäste immer wieder erinnern, aufklären, darauf hinweisen, bis es zur Gewohnheit wird, solange es keinen Impfstoff gibt. Und mit unseren Maßnahmen wollen wir auch dazu beitragen, dass die Zahl der Neuinfektionen möglichst unter 1 bleibt. Bislang gibt es keinen belastbaren oder wissenschaftlichen Beweis dafür, dass das Infektionsrisiko in Bussen und Bahnen höher ist als an anderen öffentlichen Orten. Wenn man sich an die neuen Regeln hält, ist die Wahrscheinlichkeit sich im ÖPNV zu infizieren also sehr gering.