Während westliche Medien regelmäßig über die Proteste in Chabarowsk berichten, hüllt sich die russische Regierung samt Kremlchef Wladimir Putin in Schweigen. Für den führenden oppositionellen Aktivisten Alexej Nawalny ist dies klar als Taktik erkennbar – vor allem in Hinblick auf die anstehenden Regionalwahlen.
Über einen Monat ist es nun her, seit Sergej Furgal, Gouverneur des Gebiets Chabarowsk im äußersten Osten Russlands, von den Agenten des Inlandgeheimdienstes FSB aus seinem Wagen gezerrt und ins 8000 Kilometer entfernte Moskau geflogen worden ist. Seit seiner Festnahme steht der 50-jährige Oppositionspolitiker unter Mordverdacht. Die russischen Ermittlungsbehörden werfen Furgal vor, in den Jahren 2004 und 2005 die Ermordung von mindestens zwei Geschäftsleuten in Auftrag gegeben zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war Furgal selbst noch ein Unternehmer und ein wichtiger Akteur in der hart umkämpften russischen Metallindustrie. Auch seine beiden Opfer sollen aus derselben Branche stammen: ein Konkurrent und ein Geschäftspartner, von dem sich Furgal kurz vor dessen Tod im Streit getrennt haben soll. Mit der Ermordung der beiden Geschäftsmänner soll sich Furgal Vorteile im Wettbewerb verschafft haben.
Trotz der laut den Moskauer Ermittlern „erdrückenden Beweislage" bestreitet der nun ehemalige Gouverneur, Parteimitglied der Liberaldemokratischen Partei (LDPR) des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski, bis heute die schweren Vorwürfe und löste damit eine Protestwelle aus, die Russland in dieser Form seit der Umbruchszeit in den 90er-Jahren nicht mehr erlebt hat. Dabei richtet sich die Wut der Demonstranten nicht nur gegen die Inhaftierung des beliebten Ex-Unternehmers im fernen Osten Russlands. Auch die russische Regierung samt Kremlchef Wladimir Putin gerät immer wieder ins Visier der aufgebrachten Aktivisten. Sie kritisieren den zu groß gewordenen Einfluss des Kreml und fordern die sofortige Absetzung Putins. In den russischen Nachrichten finden sich diese Themen allerdings nicht wieder. Das staatsnahe Fernsehen berichtet lieber über die Erfolge der Region im Hinblick auf die Corona-Bekämpfung. Von den Demonstrationen – die mittlerweile auf 20 weitere Städte wie Moskau und St. Petersburg übergegangen sind – wird dagegen nicht gesprochen.
20 Städte haben sich der Bewegung angeschlossen
„Furgal kam aus einer anderen Partei und war ein Oppositioneller, auch wenn die Opposition in Russland nur eine Formalie ist", erzählt eine junge Demonstrantin im Gespräch mit dem Korrespondenten eines russischen Nachrichtenportals während der letzten Samstagskundgebung in Chabarowsk. Es ist die fünfte Kundgebung in Folge. Rund 2.800 Menschen haben sich an diesem Tag am Leninplatz versammelt, um ihre Solidarität mit Furgal zu bekunden und für die Rechte des beliebten Politikers einzustehen. Für die 600.000 Einwohner große Industriestadt nahe der Pazifikküste Russlands ist es die größte Demonstration der Woche. Trotz des Demonstrationsverbotes aufgrund der Corona-Pandemie gehen in der russischen Provinzstadt seit dem 9. Juli – an diesem Tag wurde Sergej Furgal „entführt", wie die Demonstranten die Verhaftung ihres Gouverneurs bezeichnen – täglich Tausende Menschen auf die Straßen. Dass seine Festnahme politisch motiviert sei, wird von den Demonstranten längst nicht mehr angezweifelt. „Seine Politik nahm eine andere Richtung an. Also nicht die, die der Kreml wollte", mutmaßt die junge Frau vor laufenden Kameras der wenigen russischen Journalisten, die an diesem Tag nach Chabarowsk gekommen sind. „Daher wurde Furgal auch weggesperrt, um Putin und seiner Regierung nicht mehr im Wege zu stehen. " Auch ihr Begleiter schließt sich der Aussage der jungen Demonstrantin an. Er fordert mehr Transparenz: „Wir wollen endlich Beweise sehen", brüllt er in die Kamera der Journalisten, um die Parolen der anderen Demonstranten zu übertönen. „Und wenn es diese angeblichen Beweise auch tatsächlich geben sollte, soll Furgal auch verurteilt werden. Allerdings hier, in unserem Gebiet in Chabarowsk und nicht in der fernen Hauptstadt Moskau. Wenn es dagegen keine Beweise gibt – wovon wir hier alle ausgehen – soll Sergej Furgal endlich aus der Haft freikommen und zu uns zurückkehren. Er war ein guter Gouverneur, der sein Land geliebt hat. Solche Menschen sollen regieren und nicht in einer dunklen Zelle versauern."
Dass der Gouverneur der LDPR am 9. Juli verhaftet wurde, bringen viele politischen Beobachter mit der Abstimmung über die erst kürzlich durchgeführten Verfassungsänderungen in Verbindung. Diese ermöglicht dem amtierenden Präsidenten Wladimir Putin unter anderem seine vorherige Amtszeit zu annullieren, um für insgesamt zwei weitere Amtszeiten antreten zu können. Im Gebiet Chabarowsk lag die Wahlbeteiligung an diesem historischen Referendum bei lediglich 44 Prozent, der russische Durchschnitt zum Vergleich bei 68 Prozent. Auch im Hinblick auf die Zustimmung des Referendums lieferte Chabarowsk unter Furgal keine guten Zahlen: Nur 62 Prozent stimmten für die Änderung der Verfassung. Der gesamtrussische Wert lag dagegen bei 78 Prozent.
Proteste könnten die Regionalwahlen beeinflussen
Furgal verzeichnete kurz vor seiner Verhaftung höhere Popularitätswerte als Kremlchef Putin. Mit politischen Erfolgen konnte der ehemalige Gouverneur jedoch nur spärlich auftrumpfen. Die meisten seiner Maßnahmen trugen eine eher populistische Handschrift. So hat er beispielweise neben seiner eigenen Gehaltskürzung – dabei verzichtet er auf ein Drittel seines Gouverneursgehalts – auch die Kürzung von Pensionen hoher regionaler Amtsträger veranlasst und seinen Staatsbediensteten untersagt, für ihre Dienstreisen die Business-Class zu nutzen.
In den westlichen Medien wird regelmäßig über Chabarowsk berichtet, vor allem über die Kundgebung am Samstag finden sich zahlreiche Artikel. Glaubt man den Angaben der Opposition, waren Ende Juli sogar über 100.000 Teilnehmer in die Stadt gereist, um gemeinsam ein Zeichen zu setzen. Die staatsnahe russische Medienlandschaft sprach dagegen von rund 20.000 Demonstranten.
„Hier stoßen wir auch auf ein interessantes Phänomen", leitet der führende oppositionelle Aktivist Russlands, Alexej Nawalny, sein kürzlich hochgeladenes Video auf seinem YouTube-Kanal „Position der Opposition" ein. Ins Fernsehen darf der Politiker natürlich nicht. Um Reichweite zu generieren muss Nawalny das Internet nutzen. „Während die westlichen Nachrichten sich mit Meldungen zum Fall Furgal überschlagen ist es in unserem Land ziemlich still", bringt es der Politiker auf den Punkt. Einen möglichen Grund für dieses Verhalten sieht Nawalny in den geplanten Kommunal- und Regionalwahlen am 13. September. Dabei sollen in einem maximal drei Tage dauerndem Wahlverfahren nicht nur insgesamt elf kommunale Parlamentswahlen stattfinden, sondern unter anderem auch insgesamt 20 neue Gouverneure für die einzelnen Regionen Russlands gewählt werden. In der Regel gelten die Kommunal- und Regionalwahlen als ein Barometer für den Zuspruch Putins in der Bevölkerung. „Und diesen Zuspruch möchte er sich jetzt nicht versauen", glaubt Nawalny. „Je mehr wir von Chabarowsk sprechen und je mehr diese Demonstrationen auch im Rest Russlands publik werden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Putin samt seiner Partei Geeintes Russland die Wahlen um die einzelnen Regionen verlieren wird. Zumindest haben wir jetzt eine reale Chance, dass es so sein wird." In einem Appell an die Bevölkerung fordert Nawalny die Menschen dazu auf, weiter auf die Straßen zu gehen und für ein gerechtes Russland zu protestieren. „Wenn wir Putin auch nicht gleich absetzen können, so können wir ihn wenigstens unterwandern."