Fast alle edlen Schalentiere kommen aus Zuchtbetrieben. Eine Ausnahme ist der dänische Limfjord, wo die Europäische Auster noch gefischt wird. Doch langsam macht sich auch in Dänemark die Pazifische Auster breit und bedroht das heimische Ökosystem. Auf der Insel Fanø gibt es eine Gegenstrategie: Sammeln und Essen.
Die Mittagssonne steht tief und die Augenfarbe von Niels Nielsen wetteifert mit dem kalten Blau des Limfjords. Seit er 20 ist, arbeitet der Hüne auf Schiffen, er fing mit dem eigenen Kutter Kabeljau, verlegte als Schlepperkapitän vor Brasilien Stromkabel. „Aber kleine Kinder vertragen sich nicht mit dem Seemannsleben", sagt er, und sein Lachen überdröhnt den Diesel. Also kehrte der 45-Jährige zur Familie an den heimischen Limfjord zurück, ein 1500 Quadratkilometer großer Sund im Norden Dänemarks. Dort wurde er Skipper der Egon P., eines kleinen, feuerroten Forschungsboots. „Dann wollen wir den Schatz mal heben", sagt Nielsen.
Das Fanggeschirr taucht aus den Fluten auf, der Inhalt ergießt sich schwarz und schwer aufs Heck: Tausende Miesmuscheln, dazwischen aufgepumpte Seesterne, sie leben offenbar prächtig von den Schalentieren. Dazwischen zieht der Skipper die wahren Goldstücke hervor: Drei Dutzend Prachtexemplare der Limfjord-Auster, die exklusivste Speise der nordischen Küche, hart und handtellergroß. Schon ein einziges Exemplar kann in Kopenhagener Restaurants acht Euro kosten. 94 Prozent der weltweit verzehrten Weichtiere sind Pazifische Austern aus Aquakulturen, die Europäische Auster macht nur einen winzigen Anteil von 0,2 Prozent aus. Und der Limfjord ist eine besondere Ausnahme: Hier wird die Europäische Auster nicht gezüchtet. Die Fischer fördern weiterhin nur wildlebende Exemplare vom Grund.
Die niedrige Temperatur des Wassers trägt zur hohen Qualität bei
Einst fischte man auch vor Sylt und anderen Nordseeinseln nach ihnen, genauer: Man überfischte sie. Deshalb sind sie im deutschen Wattenmeer schon lange verschwunden. Am Limfjord jedoch passen Niels Nielsen und seine Kollegen vom Schalentierzentrum an Dänemarks Technischer Universität (DTU) auf den einzigartigen und sensiblen Bestand auf: „Aufgrund unserer Probefischzüge werden die Quoten festgelegt." 2018 beispielsweise wurden nur rund 300 Tonnen des Schatzes gehoben, etwa zehn Prozent der insgesamt angenommenen Menge.
Weiter nördlich als im Limfjord kann die Europäische Auster die Winter kaum überleben. Die niedrige Wassertemperatur sei laut Starkoch René Redzepi auch der Grund, warum sie die beste der Welt sei: Je kälter das Wasser, desto langsamer das Wachstum und intensiver der Geschmack. Wir sind gespannt: Niels Nielsen legt eine Auster in ein gefaltetes Küchentuch. Das schützt ihn, falls er mit dem Messer abrutscht; er wäre nicht der erste, der sich beim Öffnen verletzt. Geübt sticht er am Scharnier zwischen die Schalen, durchtrennt den starken Schließmuskel, entfernt die Oberschale – und das Weichtier liegt in seinem Perlmutt-Bett appetitlich vor uns. Etwas Limettensaft darüber geträufelt, dann schlürfen wir es roh.
Eine Auster macht in ihrem Leben nichts anderes, als an einem Ort zu hocken, Wasser durch ihre Kiemen zu pumpen und Kleinstlebewesen herauszufiltern. Man kann auch sagen: Sie macht nichts anderes, als den Geschmack der See zu konzentrieren. Die Limfjord-Exemplare fühlen sich auf der Zunge überraschend fleischig an. Sie schmecken sanft salzig, nach einer Ahnung von nussig und vor allem: frisch. Jedes Exemplar ist wie ein Mundvoll Meer.
Neulinge kostet es ein wenig Überwindung, das Tier aus seiner Unterschale zu lösen und quasi mit noch schlagendem Herzen zu goutieren, auch wenn man weiß, dass das gehirnlose Weichtier dabei nichts fühlt. Für Erwin Lauterbach, Chef im Kopenhagener Restaurant Lumskebugten, ist es wie bei anderen raffinierten Genüssen auch: Erfahrung erzeugt Erlebnistiefe. „Die erste Auster schmeckt nicht. Sie erfordert Gewöhnung", findet Lauterbach. Dabei müsse sie gar nicht die Hauptrolle spielen. Sie entfalte ihre Kraft auch versteckt, beispielsweise, wenn man in ein Ochsentatar einige wenige Austern hineinhackt: „Man wundert sich dann über den speziellen Salzgeschmack. So kommt etwas fantastisch Unerwartetes, eine Leichtigkeit in ein Rezept." Ein Alltagsgericht können Sahnekartoffeln mit zwei, drei Weichtieren als Beilage sein: „Es darf gerne einfach und festlich gleichzeitig sein – so sind Austern."
Die niedrige Temperatur des Wassers trägt zur hohen Qualität bei
Klaus Louring dagegen genießt die Austern am liebsten nach Art der Steinzeitmenschen. Doch bevor wir diese Zubereitung ausprobieren können, müssen wir auf der Insel Fanø im dänischen Wattenmeer selbst zu Jägern und Sammlern werden. Louring, 56, war in seiner Jugend Seemann, fuhr auf Containerschiffen zwischen Europa und Asien, als Küstenführer auf Fanø weiht er nun Schulklassen und Touristen in die Geheimnisse des Wattenmeers ein. Bei Ebbe führt er seine Zuhörer zu den jungen Bänken der Pazifischen Auster. Seit den 90er-Jahren beobachten die Wattwanderer, wie sich die besonders robuste invasive Art an der dänischen Küste ausbreitet.
Sie ist länglich, hat besonders feste Schalen mit scharfen Kanten. Die freilebenden Weichtiere dürften Nachkommen zahlreicher Zuchtbetriebe rund um die Nordsee sein: Eier und Samen befruchten sich im Wasser, die Larven werden mit der Strömung weit getragen. Wo sich die Austern festsetzen, kann niemand kontrollieren. „Und im Wattenmeer hat die Pazifische Auster nur einen Feind", erklärt Louring, als wir die ersten Exemplare im Schlick finden: „Den Homo sapiens mit einem guten Appetit."
Noch ist nicht genau erforscht, was die invasive Art für die Ökologie im Wattenmeer bedeutet. Aber es scheint, dass sie einheimische Arten wie die Miesmuscheln auskonkurrieren kann. „Man beobachtet mancherorts, dass die Muschelbestände und die einzelnen Exemplare kleiner werden", sagt Louring. Das könnte damit zusammenhängen, dass Austern wie Muscheln auf die gleiche Nahrung angewiesen sind, die ihnen mit den Gezeiten vor die Kiemen gespült wird. „Eine Auster filtert zwölf Liter Wasser pro Stunde nach Kleinstlebewesen ab", räsoniert Louring. Eine Miesmuschel dagegen nur maximal sechs Liter. Gäbe es aber keine Muscheln mehr oder deutlich weniger, kämen die Millionen Zugvögel in Bedrängnis, die im Watt Station machen und sich für den Weiterflug stärken: Muscheln können sie knacken, Austern nicht. „Je mehr wir sammeln, desto besser", ermuntert uns Louring.
Wir gehen fast zwei Kilometer weit ins Watt hinaus, an Hunderten „Spaghetti-Fabriken" vorbei, wie Louring die Häufchen der Wattwürmer im Schlick nennt. Die meisten Gäste tragen Gummistiefel, aber einige Besucher sind auch barfuß, sie müssen aufpassen, wo sie ihre Schritte setzen. Denn plötzlich liegen die ersten Exemplare halb bedeckt und scharfkantig im Schlick, geduldig auf neue Nahrung wartend, die mit der Flut heranrollen wird.
In den Genuss kamen Menschen bereits vor 7.400 Jahren
Einige Exemplare werden direkt am Strand probiert, dort hat der Wattführer ein Lagerfeuer entzündet. „In der Steinzeit gab es nur Messer aus Feuerstein. Damit kriegst du keine Auster auf", sagt Louring und legt einige Exemplare auf die Glut. Nach einigen Minuten auf dem Feuer kocht die Flüssigkeit in der Auster, dehnt sich aus und die Schalen ploppen auf. „Gedämpft in der eigenen Schale wird die Konsistenz des Fleisches fester", sagt Louring. „Es erinnert dann an Miesmuscheln."
Es ist ein Genuss, wie ihn die Menschen von Ertebølle am Limfjord schon vor 7.400 Jahren kannten. Das bezeugt ein riesiger Haufen aus Austernschalen, den Archäologen entlang der einstigen Küstenlinie ausgruben. Er ist 140 Meter lang, 20 Meter breit und zwei Meter hoch: Über den Zeitraum von 1500 Jahren sammelten und knackten Steinzeitmenschen die Meeresfrüchte am Strand über ihren Feuern.
Wie viele Limfjord-Austern es in Zukunft in Dänemark geben wird, hängt auch von deren bemerkenswertem Geschlechtsleben ab. Ein Stubenhocker, der sich in härtestem Calciumcarbonat verpanzert, muss kreativ sein, wenn er sich vermehren will: Austern können ihr Geschlecht wechseln. Die meiste Zeit sind die Limfjord-Austern männlich. Nur in schönen Sommern, wenn die Wassertemperatur längere Zeit über 18 Grad steigt und viel Plankton im Wasser ist, werden die Austern weiblich und produzieren Eier.
In Dänemark waren die vergangenen beiden Sommer außergewöhnlich warm. Teils betrug die Wassertemperatur an der Limfjord-Oberfläche schon im Mai erstaunliche 23 Grad. Drei Jahre brauchen die Limfjord-Austern, bis sie auf 100 Gramm Verzehrgröße herangewachsen sind: Es sieht so aus, als ob die Liebhaber der besten Auster der Welt guten Zeiten entgegenblicken.