Dank dem Bierbrauer Boris Priebe kommen die Liebhaber der bayerischen Biertradition auch in Berlin auf ihre Kosten. Schon als Schüler entdeckte der 45-Jährige seine Liebe zum selbstgemachten Gerstensaft.
Boris hat keine Stimme. Boris hat ein Organ. Die Trompeten von Jericho würden im Vergleich dazu wie das zarte Säuseln des Frühlingswindes klingen. Wenn er vor seinem kleinen Laden die Gäste persönlich begrüßt, hört man seinen kräftigen, hochtönend schneidigen Dialekt noch 100 Meter die Straße herunter. Wo hat er das wohl her? Auch sonst fällt Boris Priebe auf, weil er groß und kräftig ist, seine Haare zu einem Zopf gebunden hat, der ihm weit über die breiten Schultern reicht. Weil er immer in Bewegung ist, mit seinen Armen schlackert, gern seine Kunden mit kräftigem Handschlag begrüßt und fast um sie herumtänzelt wie ein Boxer im Ring. Manchmal trägt er rote Jeans und fast immer kurzärmelige, farbige Hemden mit augenschmerzenden Mustern. Der Mann fällt einfach auf, in jeder Beziehung, und man kann sich den 45-jährigen Boris Priebe, ein Bayer aus der Oberpfalz, leicht als Opernsänger, Auktionator, als Marktschreier auf dem Hamburger Fischmarkt oder als Seemann vorstellen. Vom Leben auf See als Kapitän großer Schiffe hat er zwar als kleiner Junge geträumt, aber das Bodenständige und Beschauliche seiner Heimat zwischen Bayreuth und der Grenze zu Tschechien hielt ihn vorerst fest. Und so lernte er Bierbrauer.
Der Gerstensaft ist in dieser Gegend kein Getränk, sondern ein Nahrungsmittel und eine Weltanschauung. Wer sich seiner Herstellung beruflich widmet, hat dort ein Auskommen und ein Ansehen. Aus einer Brauerfamilie stammt Boris nicht. Der Vater war Versicherungskaufmann, später Taxiunternehmer, die Mutter arbeitete in einer Apotheke, alles in allem eine überschaubare Welt, dieses kleinstädtische Kemnath, was sich „Tor zur Oberpfalz" nennt und wo jeder jeden kennt.
Er will nicht nur Anhängsel der Maschinen sein
Ihm habe sein Schülerpraktikum in der örtlichen Brauerei einfach nur Spaß gemacht, sagt Boris, und er grinst. Denn natürlich machte das schon was her, wenn er ein 50-Liter-Fass einfach so mitnehmen konnte. Freibier für die Brauereiangestellten gab es früher reichlich, was die Familie freute, insbesondere seine Urgroßmutter, die im Garten schon auf ihren Kasten wartete. Auch seine Kumpel schätzten den Nachschub. Aber darum ging es Boris nicht. Es hat den Lehrling gereizt, als Brauer und Mälzer den aufwendigen Produktionsprozess kennenzulernen, ein Genussmittel selbst herzustellen und es handwerklich zu verfeinern, stolz zu sein auf das, was er herstellt. Er lernte allerdings die Kehrseite kennen: den Lärm in der automatisierten Abfüllanlage, die Hektik in den sommerlichen Stoßzeiten, die dröhnenden Kühlmaschinen, die mühsame Säuberung der großen Tanks. Vielleicht hat er sich wegen am Fließband vorbeirauschender Flaschen sein markdurchdringendes Organ zugelegt.
Die erste Ernüchterung wird zum Schock, als die kleine Brauerei zum Ende seiner Lehrzeit im Sommer 1993 abgewickelt wird, übernommen von einem größeren Konkurrenten. Boris gehört zu denen, die das letzte Bier aus der Anlage pumpen und ahnt, dass es nie mehr so wird wie früher. Zwar behält er seinen Job, aber er will nicht nur Anhängsel der Maschinen sein, sondern weiterkommen, dazulernen, neue Erfahrungen sammeln. Er packt seine Sachen, arbeitet für kurze Zeit in einer anderen Großbrauerei und will nun selbst ein richtiger Fachmann werden. In München, fern der Heimat, absolviert er drei Jahre lang die Meisterschule und kennt sich bald aus bis ins Detail mit chemischen und mikrobiologischen Abläufen, mit der Konstruktion der Maschinen, mit der Buchhaltung. Er haust dort unter einem Dach in einer Wohngemeinschaft mit Bierbrauern aus Nürnberg, aus Köln und vom Bodensee und begreift, dass Bierbrauen weniger eine Frage der Technik, sondern viel mehr eine Sache der Erfahrung, noch entscheidender aber eine Frage des Gefühls, der Leidenschaft, des Ausprobierens ist. Das, so sagt er heute rückblickend, sei den Großbrauereien mit ihrer auf Massengeschmack und Haltbarkeit getrimmten Ware längst abhandengekommen. Und nun ist ihm endlich klar, was er schon während der Lehre ahnte. Er versteht sich im besten Sinne als Handwerker, der Bierbrauen als Kunst versteht und deshalb keinen Platz finden will in der Massenproduktion. Er probiert sich aus, arbeitet wieder in kleineren Brauereien in Schwaben, im bayerischen Wald, sammelt Erfahrung und wartet ab, was in ihm reift. Er hat Zeit. Zurück in Kemnath fährt er erst einmal Taxi im väterlichen Unternehmen. Nach dieser Auszeit reicht es ihm.
München war ihm zu geleckt
München kennt er. Alles zu geleckt an der Isar, fasst er zusammen, und nichts geht dort ohne Geld. Das reizt ihn nicht, bayerische Lebensart kennt doch keine Grenzen, die kann er mitnehmen nach Berlin. Berlin muss es jetzt sein im Jahr 2002, weil er dort schon ein paar Mal war und denkt, da kann jeder machen was er will, und das stimmt ja auch. Mehr als anderswo im Land. Von Kreuzberg aus erkundet er die Stadt. Boris lässt sich Zeit, Charlottenburg gefällt ihm gut, besonders ein Altbaukiez zwischen Schloss und Lietzensee, ein Dorf für sich mit viel Grün und Leben auf den Straßen. Die breiten Bürgersteige, die Bäume, der Bäcker und der Blumenladen, das Überschaubare mag er, und er kommt ins Grübeln. Warum bekommt er in Berlin nicht, was er gerne trinkt? Gutes, handgebrautes Bier aus Bayern? Und er ist sich sicher, mit dem Wunsch nach einer zünftigen Brotzeit nicht allein zu sein in dieser großen Stadt. Boris verlässt sich auf seinen Instinkt. Er wagt es ohne Marktanalyse und ausgefeiltem Geschäftsplan, denn das ist sein Naturell: eine Sache anpacken, einfach machen. Er mietet einen etwas abgelegenen Laden, erklärt sich zur Ich AG und pendelt zwischen Bayern und Berlin. Er will nur Bier von Brauereien verkaufen, die er kennt und dessen Qualität er schätzt, alte Verbindungen in seine Heimat kommen ihm jetzt zugute. Zwei Jahre bleiben die Erträge in seiner Kasse übersichtlich, der Großteil läuft über Hausverkauf und Lieferung. Boris knüpft neue Verbindungen. Zur Messe, zu Ausstellern, zu Gastronomen. Sein Laden spricht sich langsam herum. Noch einmal wechselt er die Räumlichkeiten, näher ran an die Laufkundschaft will er, direkt neben den Bäcker und ein italienisches Restaurant. So stellt er auf die Beine, was ihm eigentlich schon immer vorschwebte: Treffpunkt zu sein für Liebhaber bayerischer Biere und geselliger Runde.
In seinem Laden „Weiß Blau" ist es eng. Das soll so bleiben, denn nur so kommt man sich schneller näher. An hellen Sommerabenden wird der Bürgersteig davor zum Wohnzimmer. Hochschullehrer und Bauarbeiter, Sozialpädagogen und Rentner schwatzen, essen frischen Leberkäse, Weißwurst mit süßem Senf, trinken Bier. Wenn die Sonne abends in die Straße scheint und lange Schatten wirft, liegt dieser Teil Charlottenburgs 500 Kilometer weiter südlich. Man sollte sich gut stellen mit Boris. Denn wenn er bei Schwester Doris aus Mangersdorf, der einzigen Nonne, die Bier braut, frische Ware ordert, übersteigt die Nachfrage das Angebot. Selbst Stammkunden können dann nur maximal fünf Flaschen ordern. Aber solche Geheimtipps machen allein nicht den Erfolg. „Der Laden – das bin ich", sagt Boris. Er ist eine ganz besondere Type und das weiß er auch. Und er fügt hinzu: Wir alle hier sind eine große Familie. Das ist der Grund. Man kommt dahin, weil sich jeder dazugehörig fühlen darf.
Bier von einer Nonne aus Mangersdorf
Natürlich gibt es Neider, Nachbarn, denen das alles zu laut und irgendwie zu chaotisch ist. Der mürrische Balkonberliner wird nicht froh, wenn er nichts zu maulen hat. Bei der Polizei, beim Ordnungsamt wurde das bunte, manchmal laute Treiben schon angezeigt, anonym natürlich. Boris lächelt das weg und tänzelt über den Bürgersteig. Er könnte mit seinem Laden ausweichen, sich vergrößern, vielleicht die leerstehende Kneipe einen Steinwurf entfernt übernehmen, dort eine Gaststätte eröffnen. Aber das ist nichts für ihn. Er spielt mit einem andren Gedanken. In Niederbayern kennt er eine Brauerei, wo er nach eigenem Rezept ein eigenes Bier brauen könnte. Das reizt ihn, denn das hat er gelernt. Und er kann sicher sein, dass die Nachfrage sein Angebot übersteigen wird.