Bei Behandlungen müssen die Erfahrungen mit Therapien und Medikamenten sowie die Erwartungen von Patienten ernst genommen werden, sagt Winfried Rief, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Phillips Universität Marburg. Für den Experten hat der Placeboeffekt eine wichtige Bedeutung für die gesamte Gesundheitsversorgung.
Herr Rief, bei Placebos denkt man sofort an Pillen ohne Wirkstoffe, die eigentlich nicht helfen können. Können die „Scheinmedikamente" mehr als in ihnen steckt?
In der Tat. In vielen Fällen können Placebos fast gleich gute Behandlungsergebnisse erbringen wie die echten Medikamente. Dabei gibt es Placeboeffekte nicht nur bei psychischen Krankheiten, sondern auch bei körperlichen Krankheiten wie Bluthochdruck oder Parkinson. Placebos können Reaktionen auslösen, die der Körper gelernt hat und ermöglichen so dem biologischen System einen physiologischen Nutzen.
Welche Formen von Placebos gibt es?
Jede medizinische Intervention hat einen Placeboeffekt, von Akupunktur über Tabletten bis hin zur Knieoperation. Wird bei Schmerzen im Knie zur einer Operation geraten, besteht die Möglichkeit, unter Narkose ein Arthroskop einzuführen ohne den Gelenkknorpel zu bearbeiten. Durch den Placeboeffekt hat der Patient hinterher trotzdem weniger Schmerzen.
Durch welche Faktoren wird die gewünschte Wirkung von Placebos erzielt?
Entscheidend sind positive Erfahrungen und positive Erwartungen.
Welche Rolle spielt dabei der Patient?
Wichtig sind die Vorerfahrungen des Patienten. Hat eine Person mit einer Pille und einem bestimmten Wirkstoff schlechte Erfahrungen gemacht, wird er mit einer ähnlichen Pille wieder schlechte Erfahrungen machen, obwohl es ein „Scheinmedikament" ist. Der Mensch mit all seinen Erfahrungen muss stärker berücksichtigt werden.
Wie entscheidend ist die positive Erwartung des Patienten, das heißt die Zuversicht des Menschen, dass das Medikament wirklich hilft?
Sie spielt eine große Rolle. Allein durch Worte können bei Depressionen und subjektiven Schmerzen starke Placeboeffekte ausgelöst werden, wenn psychologisch Erwartungen positiv beeinflusst werden. Gute Erfahrungen hat man beispielsweise mit ein oder zwei Vorbehandlungen mit „richtigen" Schmerzmitteln und dem anschließenden Einsatz mit einem Medikament ohne Wirkstoffe.
Wie können positive Erfahrungen die gewünschte Wirkung beeinflussen?
Die Umgebung, Vorerfahrungen, Kontakte können Patienten beeinflussen. Wenn sich jemand in einer professionellen Klinik gut aufgehoben fühlt, ist er zuversichtlich und sieht einer Heilung positiv entgegen. Anders wird es jemand aus Deutschland in einem Entwicklungsland mit schlechter medizinischer Versorgung sehen.
Welche Rolle spielt bei der Therapie mit Placebos der Arzt?
Das ist wissenschaftlich sehr gut erforscht. Wenn ein Arzt als vertrauensvoller Experte wahrgenommen wird, ist die Wirkung der Therapie besonders groß. Verschreibt ein Arzt beispielsweise ein Medikament mit starken Nebenwirkungen und sagt zu dem Patienten „da müssen sie durch, aber es lohnt sich", vertraut der Patient darauf, dass es hilft. Den Placeboeffekt kann man nutzen, indem zuerst wirkungsvolle Pillen, danach jedoch ein Präparat mit weniger Wirkstoffen eingesetzt wird. Anders ist es bei manchen Infusionen, wenn der Patient die Dosis eines Wirkstoffs nicht kennt. Hier fehlt ein vertrauensvoller Arzt, der den Patienten aufklärt. Werden die Menschen miteinbezogen, wird eine höhere Effektivität erzielt. Ein Problem ist, das Ärzte zu wenig Zeit für Patientengespräche haben, aber auch fünf Minuten können helfen.
Wie sieht es bei Patienten aus, die Medikamenten grundsätzlich sehr kritisch gegenüberstehen und an deren Wirkung zweifeln? Können Placebos auch bei diesen zur Heilung beitragen?
Auch hier hilft ein ärztliches Gespräch. Die Bedenken des Patienten müssen durchgespielt werden, es muss vermittelt werden, dass das Medikament das richtige ist und wenig Nebenwirkungen hat. Diese Menschen brauchen eine besondere Betreuung, um ihre negativen Erwartungen und Vorerfahrungen zu berücksichtigen. Hier muss der Arzt vorausschauend handeln und nicht erst, wenn das Kind das zweite Mal in den Brunnen gefallen ist.
Gibt es Menschen, bei denen Placebos gut sowie Menschen, bei denen sie schlecht anschlagen?
Man kann sagen, dass sie bei einigermaßen gesunden Menschen besser anschlagen. Das Reagieren auf Erwartungen macht Menschen zu einem intelligenten Wesen. Sie sind in der Lage, Vorhersagen zu treffen und entsprechend zu handeln. Fährt jemand beispielsweise auf eine Autobahn, weiß er, dass er vorsichtig sein muss. Dadurch, dass wir Menschen Vorhersagen treffen und uns darauf einstellen, haben wir also einen Vorteil. So ist es auch mit den Placeboeffekten.
Wie kann die Wirkung von Placebos begünstigt oder verstärkt werden?
Auch hier gilt, die Vorerfahrungen zu erkennen und zu berücksichtigen und positive Erwartungen aufzubauen. Eine positive Betreuung des Arztes sowie die Beteiligung des Patienten begünstigen die Wirkung. Beispielsweise, wenn man einem Menschen eine Wahlmöglichkeit anbietet. Braucht jemand Betablocker bei Herzproblemen kann man ein Mittel mit schwachen Nebenwirkungen und schwächerem Effekt und ein effektives mit mehr Nebenwirkungen anbieten. Beide nutzen den Placeboeffekt, egal für welches sich der Patient entscheidet.
Auch ein offener Umgang mit Placebos wirkt sich positiv aus. So kann ein Arzt beispielsweise einem Patienten ein Medikament gegen Bauch- oder Rückenschmerzen anbieten, das keine Wirkstoffe hat, mit dem er aber gute Erfahrungen gemacht hat. Der Patient denkt dann, schaden kann es nicht, ich probiere das auch. Das beschleunigt die Heilung. Zudem werden dabei die Selbstheilungskräfte aktiviert, die ebenfalls Schmerzen lindern.
Bei welchen Krankheiten und Schmerzen ist eine Behandlung mit Placebos geeignet?
Den Placeboeffekt kann man besonders gut bei der Behandlung von Schmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden und neurologischen Erkrankungen nutzen.
Hat der Einsatz von Placebos in der Medizin zugenommen?
Das ist schwer zu sagen, eingesetzt werden sie schon seit knapp 70 Jahren.
Wie sieht der aktuelle Forschungsstand aus?
Erforscht wird grundsätzlich, was bei Behandlungen mit Placebos im Körper passiert, welche Mechanismen ausgelöst werden und welche negativen Begleiterscheinungen vermieden werden können. Dazu werden klinische Studien durchgeführt. Herausgefunden hat man bei einer Anwendungsstudie, dass Herzpatienten vor einer Operation, vor einem massiven Eingriff, schneller wieder auf die Beine kommen, wenn sie vorher zuversichtlich waren. Ein Ergebnis der Forschung ist auch der große Nutzen von Arztgesprächen und der intensiven Verbesserung von Erwartungen. Gezeigt hat sich auch, dass selbst bei Patienten nach einer Nierentransplantation der Placeboeffekt zugutekommen kann. Sie müssen Medikamente zur Immunsuppression nehmen, die das Immunsystem unterdrücken, damit das neue Organ nicht abgestoßen werden kann. Diese Medikamente werden morgens und abends verabreicht. Setzt man mittags anstatt des Medikaments ein Placebo ein, wird so erreicht, dass am Nachmittag kein Abfall der Wirkung einsetzen kann.
Wie weit reicht die Wirkung im Körper? Wo ist der Effekt nachweisbar?
Anhand des Blutdrucks sowie bei Herzrasen kann der Effekt gemessen werden. Bei Schmerzen sind bestimmte Areale im Gehirn aktiv, diese können wie die Schmerzmatrix ebenfalls gemessen werden. Durch den Placeboeffekt sind die Werte besser, die Aktivität schwächer. Auch die Aktivität des Immunsystems wird gesteigert. Nachweisbar ist der Placeboeffekt bis runter auf die Immunzellen.
Was ist der Vorteil von Placebos?
Weniger Nebenwirkungen, keine langen negativen Effekte. Hat eine Person, die an Depressionen leidet, gute Erfahrungen mit Antidepressiva gemacht, sorgen auch Medikamente mit niedriger Dossierung oder ohne Wirkstoff für positive Aspekte. Auch bei Schlafmitteln ist der Placeboeffekt wirkungsvoll. Werden erst aktive Schlafmittel genommen und später durch Placebos ersetzt, kann die Wirkung verlängert und eine Abhängigkeit verhindert werden.
Können Placebos Nebenwirkungen, krankmachende Effekte haben?
Ja, mit negativen Erwartungen. Sind die Nebenwirkungen eines Medikaments zu stark, bleiben diese bei negativen Erwartungen auch bei einem Placebo bestehen.
Wenn in Placebos keine Wirkstoffe enthalten sind, woraus bestehen sie dann?
Wie bei anderen Tabletten aus entsprechenden Trägerstoffen, zum Beispiel Stärke, Lactose, Zucker, Farbstoffen und allergiefreien Substanzen.
Wie sehen Sie die zukünftige Behandlung mit Placebos? Wo könnten die „Scheinmedikamente" künftig eine wichtigere Rolle spielen?
Vor allem bei Erkrankungen im psychischen Bereich. Bei Depressionen sind 70 bis 80 Prozent der Effekte der verschriebenen Medikamente Placeboeffekte. Die meisten Psychopharmaka, aber auch Placebos werden von Hausärzten verordnet. Dazu zählen auch Vitamintabletten, die gegen Erkrankungen helfen sollen, aber diesbezüglich wirkungslos sind.
Zukünftig geht es vor allem darum, Erfahrungen und Erwartungen von Menschen zu berücksichtigen. Eine sinnvolle Vorbehandlung und Arztgespräche müssen wieder wichtiger werden. Auch homöopathische Präparate, die medizinisch keine Wirkung haben, zeigen, welchen Effekt sie dennoch erzielen. Dieser Aspekt sollte bei der Behandlung von Patienten nicht außer Acht gelassen werden.
Was fasziniert Sie an Placebos?
Es ist ein tolles Feld, wenn man gerne querdenkt. Der Placeboeffekt hat eine große Bedeutung für die Gesundheitsversorgung. Es geht nicht nur darum, Menschen zu operieren, sondern sie auch psychologisch auf die Zeit danach vorzubereiten. Der Effekt von positiven Gesprächen und Placebomitteln sollte ernst genommen werden. Er bietet ein großes Potenzial für Behandlungen.