Angst vor Spinnen, Flugreisen oder engen Räumen: Elf Millionen Deutsche leiden unter Phobien. Therapieplätze sind rar, jetzt soll eine digitale Therapie helfen.
Plötzlich klopft das Herz ganz schnell, der Atem stockt und Schweiß bricht aus. Knapp elf Millionen Deutsche leiden laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes unter verschiedenen Formen von Phobien. Dazu zählen etwa spezifische Phobien, wie die Klaustrophobie, also die Angst vor engen Räumen. Aber auch Tierphobien, Phobien vor Naturereignissen, vor bestimmten Situationen und vor Blut, Spritzen oder Verletzungen. Außerdem gehören die sogenannte Agoraphobie, die Angst vor bestimmten Orten oder großen Plätzen, ebenso wie soziale Phobien, etwa die Angst davor, in sozialen Situationen im Mittelpunkt zu stehen und sich dabei peinlich zu verhalten, dazu.
Um solche Ängste zu bewältigen, hat sich in der Vergangenheit die sogenannte Expositionstherapie, die auch als Konfrontationstherapie bekannt ist, bewährt. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie wird der Patient langsam mit dem Angstauslöser konfrontiert. Die psychotherapeutische Begleitung stellt sicher, dass jederzeit ein Experte in das Geschehen eingreifen und die Entwicklung steuern kann. Üblicherweise begleiteten Therapeutinnen und Therapeuten die Betroffenen einmal pro Woche bei einer solchen Konfrontation im realen Leben. Die Idee dahinter: Eine Angstreaktion ist etwas Erlerntes und kann entsprechend auch wieder verlernt werden. Wird der Patient also mit dem Objekt oder der Situation konfrontiert, das bei ihm Angst auslöst und das erwartete negative Ereignis tritt wiederholt nicht ein, macht der Betroffene in der Regel die Erfahrung, dass die Angst mit der Zeit nachlässt, anstatt sich wie befürchtet ins Unermessliche zu steigen oder in einer Ohnmacht zu enden. Durch die neuen Erfahrungen lassen die körperlichen Angstreaktionen nach und automatisierte Gedanken und starre Denkmuster lockern sich.
Die Konfrontation selbst kann unterschiedlich dosiert werden. Bei der massierten Exposition muss sich der Patient dem stärksten angstauslösenden Reiz für längere Zeit, zum Beispiel 60 Minuten lang, aussetzen. Die Psychologinnen der Bochumer Ruhr-Universität Silvia Schneider und Cornelia Mohr konnten zeigen, dass dies wirksamer ist, als wenn er mit dem gleichen Reiz kürzer, dafür jedoch öfter konfrontiert wird, etwa dreimal 20 Minuten. Neben der massierten Exposition ist es auch möglich, graduiert vorzugehen. Dazu wird eine individuelle Hierarchie der Angst auslösenden Reize erstellt und im Zuge der Exposition stufenweise durchlaufen. Beispielsweise betrachtet der Patient zunächst ein Foto einer Spinne, dann eine echte Spinne von Weitem und aus der Nähe, schließlich berührt er sie und zu guter Letzt setzt er sich im Idealfall ein extrem Angst einflößendes Exemplar auf die Hand. Vor allem bei spezifischen Phobien ist ein stufenweises Vorgehen häufig die einzige Chance, die Patienten überhaupt zu einer solchen Konfrontation zu bewegen. Bei Menschen mit Agoraphobie ist es jedoch weniger erfolgreich, als wenn sie bereit sind, sich gleich der furchterregendsten Situation auszusetzen.
Eine solche Konfrontationstherapie wird meist mit kognitiven Methoden der Verhaltenstherapie kombiniert. Auf kognitiver Ebene soll der Patient lernen, sich angstfördernde Denkmuster bewusst zu machen und zu ersetzen, und auf Verhaltensebene lernt der Patient durch die Konfrontation, die angstbesetzten Situationen nicht mehr zu vermeiden. Das Problem: Therapieplätze sind rar. Oft müssen Patienten Wochen bis Monate warten, bis sie eine therapeutische Behandlung beginnen können. Dazu kommt, dass die Expositionstherapie aufgrund des hohen organisatorischen Aufwands und Hemmschwellen seitens der Patienten, zu selten für eine wirksame Therapie angewendet wird. Eine digitale Therapie soll helfen, Betroffenen schnell und einfach Zugang zu einer Therapie für ihre Ängste zu verschaffen.
Auf kognitiver Ebene Denkmuster bewusst machen
Die Techniker Krankenkasse etwa hat gemeinsam mit dem Hamburger Start-up Sympatient und dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) eine App namens Invirto entwickelt. „Invirto ist die erste digitale Psychotherapie für Angsterkrankungen, die du ohne Wartezeit, regelmäßige Termine und von zu Hause aus in wenigen Wochen absolvieren kannst", heißt es auf der Website. Zusätzlich zur App werde man von einer erfahrenen Therapeutin während der Behandlung begleitet. „Nach dem Erstgespräch gibt es bei uns keine Wartezeit auf die Behandlung. Du kannst die Behandlung überall und in deinem Tempo absolvieren", schreiben die Macher. Derzeit wird Invirto im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie angeboten. Die Techniker Krankenkasse übernimmt schon jetzt die Kosten dafür, weitere Krankenkassen würden laut Invirto folgen.
So soll das Ganze funktionieren: In einem psychologischen Erstgespräch soll die entsprechende Diagnose sichergestellt werden und der Therapeut bespricht die Behandlungselemente, die der Patient via App bekommen soll. Betroffene erhalten dann eine Virtual-Reality-Brille, Kopfhörer, ein Handbuch und den Zugang zur App. Alles, was man brauche, sei das eigene Smartphone. Im Laufe der Behandlung habe man zweimal Telefonkontakt zum Therapeuten, ansonsten absolviere man die Behandlung eigenständig.
Mit dem App-Kurs und der Virtual-Reality-Brille werden Patienten dann durch die Therapie geleitet. Insgesamt acht Schulungsstunden und vier Stunden Virtual-Reality-Bildmaterial sind in dem Programm enthalten. Die Idee ist, das Patienten genauso wie im realen Leben auch in einer virtuellen Realität mit Angst auslösenden Situationen oder Objekten konfrontiert werden können. So können etwa die Fahrt in einem Fahrstuhl, das Zugehen auf Spinnen, der Blick in die Tiefe, der Start eines Flugzeuges oder der Vortrag vor Publikum simuliert werden. Virtuelle Realitäten ermöglichen die Interaktion mit einer computergenerierten, dreidimensionalen Umgebung in Echtzeit. Da sie reale Erfahrungen nachbilden, sind sie auch in der Lage, reale Ängste hervorzurufen. Das gefühlte Eintauchen in das virtuelle System wird vor allem durch visuelle und akustische, aber auch taktile Reize hergestellt. Mithilfe der Technik kann das Szenario nicht nur spezifisch angepasst, sondern auch beliebig oft wiederholt werden. Der Patient entscheidet selbst, in welchem Tempo er die Therapie absolviert. Verschlechtert sich der Zustand während einer Übung, hält die App Notfallnummern bereit.
Auch an den Hochschulambulanzen in Regensburg und Würzburg kommt die Expositionstherapie mit Virtual Reality zum Einsatz. Mit Gamepad und Virtual-Reality-Brille konfrontiert der Psychotherapeut und Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Regensburg Andreas Mühlberger seine Patienten mit ihren Ängsten. „Wer es schafft, in diese Situation reinzugehen und sie auszuhalten, wird feststellen, dass die Angst von selbst nachlässt und die befürchtete Katastrophe nicht eintritt", erklärt er gegenüber der „Welt". Der Erfolg sei erstaunlich. Nach wenigen Sitzungen seien die meisten Patienten geheilt. Tatsächlich wird weltweit zum Einsatz von VR-Technik in der Psychotherapie geforscht. In wenigen Jahren, glaubt Mühlberger, wird sie flächendeckend in den Praxen Einzug halten und Millionen Menschen helfen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert ebenfalls das sogenannte Projekt „Evelyn", das „ein patientenindividuelles und therapeutengerechtes virtuelles Realitäts-System" entwerfen soll. Dass in Deutschland 15,3 Prozent der Bevölkerung an einer Angststörung leidet, aber nur jeder vierte Erkrankte in aktiver psychotherapeutischer Behandlung ist, hält man dort für „besorgniserregend". Auch weil nicht behandelte Angststörungen leicht chronisch werden können und sich das Risiko der Ausbildung weiterer Störungen wie beispielsweise Depressionen erhöht. Vom Projekt „Evelyn" erhofft man sich, „die Grundlage für eine nachfolgende Medizin-Produktentwicklung" sowie „Daten für die Verwertung in Lehre, Wissenschaft und Forschung". Dadurch sieht man die Chance, „virtuelle Realität als innovative Therapiemethode zu etablieren sowie eine relevante Versorgungslücke zu schließen."
Noch wird viel geforscht und die Therapie mit Virtual Reality erst vereinzelt eingesetzt. Was aber weiß man zu ihrer Wirksamkeit? Wie gut lassen sich Ängste dadurch wirklich bekämpfen?
Virtuell unterstützte Therapie besonders im Bereich der spezifischen Phobien wirksam
Der Psychologe Benjamin Arnfred arbeitet in Dänemark am staatlichen Zentrum für mentale Gesundheit. Dort leitet er die Studie „So Real", die bislang größte, kontrollierte und randomisierte Studie, die untersucht, wie effektiv sich soziale Phobien mit einer Konfrontationstherapie im virtuellen Raum behandeln lassen. Derzeit ist man allerdings noch in der Pilotphase. Mehrere kleinere Studien konnten nachweisen, dass die virtuell unterstützte Konfrontationstherapie effektiv sein kann. So konnte die Wirksamkeit von Konfrontationstherapie, die durch virtuelle Realität unterstützt wird, insbesondere im Bereich der spezifischen Phobien durch eine Vielzahl von kontrollierten Studien abgesichert werden. Kanadische Psychologen konnten zeigen, dass sie bei Patienten mit sozialer Angststörung sogar besser wirkt als eine gängige Verhaltenstherapie. Gleichwohl ist die neue Technik nicht bei jedem Patienten einsetzbar. Etwa zehn Prozent der Benutzer einer Virtual-Reality-Brille leiden an einer „Cybersickness", einer Art virtueller Seekrankheit.
Immer wieder wird auch der Vorwurf laut, die Therapie mithilfe von Virtual Reality führe dazu, dass es keinen Austausch mehr zwischen Therapeut und Patient gibt und dadurch auch Schäden bei Patienten entstehen oder Ängste gar verstärkt werden könnten. Der Psychologe Paul Pauli nutzt die Möglichkeiten von Virtual Reality schon lange für seine Forschung an der Universität Würzburg. „Die VR-Technologie ist ein Hilfsmittel, um gewisse Teile der Therapie zu ersetzen. Den echten Kontakt und die Begleitung durch Therapeuten kann und soll sie aber nie ablösen", so Pauli gegenüber der „Zeit".
Wie sich die Behandlungsmethode künftig bewährt, muss sich zeigen. Dabei geht es nicht nur darum, wie erfolgreich App und Virtual-Reality-Brille sind, sondern auch wie die digitale Therapie beim Patienten ankommt.