Der große Radsport-Zirkus rollt wieder los – aber kommt er auch in Paris an? Die Tour de France kämpft mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie und anderen Problemen.
Der Grand Départ ist jedes Jahr ein absolutes Highlight der Tour de France. Die Veranstalter scheuen weder Kosten noch Mühen, um die Stadt, das Land und den Radsport von seiner besten Seite zu präsentieren. Auch Nizza, diese bezaubernde Hafenstadt an der Côte d’Azur, hat sich für den Startschuss der 107. Ausgabe der Großen Schleife am 29. August herausgeputzt. Und trotzdem will die ganz große Vorfreude nicht aufkommen, weder bei den Fans noch den Athleten selbst.
Die diesjährige Tour de France steht unter keinem guten Stern, das ist klar. Sie musste wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Und ausgerechnet jetzt, wo sich der neue Starttermin nähert, steigen die Fallzahlen an Infizierten europaweit wieder an. Und als wäre das nicht schon problematisch genug, gab es bei den Vorbereitungsrennen einen Schock nach dem anderen.
Zunächst erwischte es den niederländischen Radprofi Fabio Jakobsen. Er war im Sprint auf der ersten Etappe der Polen-Rundfahrt so schwer in ein Absperrgitter gestürzt, dass er danach zunächst in ein künstliches Koma versetzt werden musste. Selbst die Staatsanwaltschaft Kattowitz schaltete sich ein und befragte Zeugen. Die Rolle von Dylan Groenewegen, der seinen Landsmann Jakobsen beim Zielsprint abgedrängt und dadurch den folgenschweren Crash ausgelöst hatte, wird genau untersucht. „Ich werfe ihm einen Mordanschlag vor, nichts mehr und nichts weniger", sagte Patrick Lefevere, Teamchef von Jakobsens Rennstall Deceuninck-Quick Step. Doch auch die Macher im Radsport stehen in der Kritik. Die Organisation vor allem der Zielankünfte im Sprint wurde schon länger bemängelt, nun rücken vor allem die Absperrgitter als mögliche Sicherheitslücke in den Fokus. Die Fahrergewerkschaft CPA forderte vom Weltverband UCI allgemeingültige Standards, die überall eingehalten werden müssten.
Sturz von Jakobsen heizt Debatte an
„Warum muss immer erst etwas Schlimmes passieren", fragte der deutsche Radrennfahrer Niklas Arndt beim Sport-Informations-Dienst, „bevor sich Dinge verändern, die UCI sich einschaltet und sagt: ‚Jetzt müssen wir wirklich etwas ändern.‘?" Auch der Franzose Julian Alaphilippe, ein Teamkollege von Jakobsen bei Quick Step, forderte eine neue Sicherheitsdiskussion: „Es gibt viel zu tun." Die Organisatoren der Tour de France trifft die Nachricht vom Unfall schwer. Sie ist auch deshalb so schmerzhaft, weil Fabio Jakobsen nach dem früheren Radprofi Fabio Casartelli benannt wurde, der vor 25 Jahren bei einer Abfahrt ums Leben kam. Der Italiener war das fünfte und bislang letzte Todesopfer im Fahrerfeld der Tour de France. Ein sechster Fall soll unter allen Umständen vermieden werden. Doch es kam noch schlimmer. Remco Evenepoel fiel bei der Lombardei-Rundfahrt von einer Brücke, Maximilian Schachmann wurde von einem Auto angefahren, Emanuel Buchmann stürzte bei einem Massencrash. Während Evenepoel den 20-Meter-Sturz wie durch ein Wunder überlebte, aber monatelang nicht wird fahren können, hoffen die beiden Deutschen auf den Tour-Start. Schachmann hat sich das Schlüsselbein gebrochen, Buchmann schwere Prellungen erlitten.
Bis zum Startschuss in Nizza werden nun noch mal alle Sicherheitsvorkehrungen gründlich überprüft und hinterfragt. Doch klar ist auch: Eine totale Sicherheit gibt es in einem Sport, in dem Fahrer auf schmalsten Reifen mit Höchstgeschwindigkeiten gegeneinander Rennen fahren, nicht. Genauso wenig gibt es eine totale Sicherheit gegen Corona. Das Virus stellt nach wie vor eine Bedrohung für die Tour-Organisation ASO dar. Doch eine Absage kam nicht infrage. „Findet sie nicht statt", sagte Tour-Chef Christian Prudhomme, „bedeutet es, dass das Land in einer katastrophalen Situation ist."
Die Tour, in Frankreich ein Kulturgut, soll den Menschen ein Stück Normalität vermitteln. Doch auch in Frankreich stieg die Zahl der mit dem Virus infizierten Personen wieder deutlich an – und damit die Sorge vor einem zweiten Lockdown. Die Tour-Organisatoren entwickelten gleich zwei Konzepte, von denen eines je nach Entwicklung der Pandemie angewendet werden soll. Das schärfere Protokoll wurde jüngst beim Critérium du Dauphiné getestet.
Klar ist: Diese Große Schleife wird keine wie bisher. Es galt bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe als höchst wahrscheinlich, dass die Behörden in den Etappenorten Räume abgrenzen werden, in denen sich maximal 5.000 Zuschauer aufhalten dürfen. Oder eben noch weniger. Dies hätte auch auf die beliebten Bergetappen Einfluss, der Zugang zu bestimmten Anstiegen dürfte gesperrt werden. Das dient auch dem Schutz der Fahrer, die in den engen Serpentinen den nicht immer vorsichtigen Zuschauern oft sehr nahekommen. Auch der Start- und Zielbereich wird reglementiert, genau wie die Siegerzeremonie, bei der deutlich weniger Personen Zugang erhalten sollen. Sponsoren und prominente Gratulanten sind angehalten, genügend Abstand zu den Fahrern zu halten. Denn schon ein positiver Coronafall im Fahrerlager könnte das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen. „Das ganze Konzept ist fragil", sagte Rick Zabel der „Osnabrücker Zeitung". Der Profi der Israel Start-up Nation kann sich vorstellen, dass die Tour unter Umständen sogar abgebrochen werden muss: „Werden Fahrer positiv getestet, bleibt eigentlich nichts anderes übrig."
Buchmann plant einen Platz auf dem Podium
Viele denken so, doch nur wenige sprechen es öffentlich aus. Sicher auch aus Existenzsorgen. „Viele Teams kommen in Probleme, wenn die Tour nicht stattfindet", sagte Zabel. Auch er hofft auf einen Tourstart, aber ganz wohl ist ihm dabei nicht. „Als ich den Hygienekatalog für uns Fahrer gesehen habe, war meine erste Reaktion: Wenn es so kompliziert ist, ein Radrennen stattfinden zu lassen, dann sollten wir uns vielleicht überlegen, ob wir das auf 2021 verschieben", sagte der Sohn des ehemaligen Top-Sprinters Erik Zabel. Emanuel Buchmann dagegen will, dass die Große Schleife genau jetzt abgehalten wird. Der Vorjahres-Vierte fühlte sich bis zu seinem Sturz topfit: „Ich bin total motiviert, die Form ist da. Ich habe ja jetzt auch lange genug trainiert." Sein Ziel? Ganz klar die Top drei! „Und wenn man fast aufs Podium fährt", sagte der 27-Jährige, „ist der Sieg auch nicht mehr weit weg."
Der Kletterkünstler musste nach seinem Sturz aber mehrere Tage mit dem Training aussetzen. Die Coronapause habe ihn dagegen gar nicht so sehr aus der Fassung gebracht, „zum Glück bin ich ein Typ, der gern trainiert, auch alleine." Zumindest das durfte Buchmann während des Lockdowns, in seiner Wahlheimat Österreich sei er im Bregenzer Wald „die Berge rauf- und runtergefahren", sagte er: „Das wird sich später auszahlen." Im Idealfall auf den insgesamt acht Gebirgsetappen mit vier Bergankünften (Orcières-Merlette, Puy Mary, Grand Colombier, Méribel Col de la Loze). Hier wird sich entscheiden, wer die besten Beine hat, wer das Gelbe Trikot bei der Triumphfahrt auf der Avenue des Champs-Élysées in Paris tragen darf. Buchmanns Hauptkonkurrenten sind Vorjahressieger Egan Bernal (Kolumbien) und 2018-Gewinner Geraint Thomas (Großbritannien), die beide für das britische Team Ineos fahren. Der frühere Dominator Chris Froome enttäuschte Anfang August bei der Route d’Occitanie so sehr, dass sogar über eine Nicht-Nominierung des viermaligen Tour-Gesamtsiegers durch Ineos spekuliert wurde. So oder so: Buchmann hat ohnehin ganz andere als Konkurrenten auf dem Zettel, den Slowenen Primoz Roglic zum Beispiel. Der frühere Skispringer ist mittlerweile ein bärenstarker Rundfahrer geworden, was in der Szene auch mit Skepsis betrachtet wird. Der Schatten der Ära um Lance Armstrong und Jan Ullrich liegt noch immer über der Tour.
Seriensieger Chris Froome völlig außer Form
Buchmann will sich nicht mit Gedanken beschäftigen, welcher seiner Konkurrenten möglicherweise gedopt sein könnte. Er konzentriert sich lieber auf sich selbst und auf sein Team. Und Bora-Hansgrohe geht mit einem starken Kader in die Tour. „Wenn alle in Form sind", sagte Buchmann, „haben wir ein klasse Team für die Berge." Das deutsche Team setzt noch mehr auf deutsche Fahrer. Buchmann, Edelhelfer Maximilian Schachmann, Pascal Ackermann – sie alle sollen hierzulande eine neue Radsport-Euphorie auslösen. Doch Schachmanns Verletzung könnte die Planungen durcheinanderbringen. „Die Tour ist in Gefahr. Das muss man so sehen", sagte Team-Manager Ralph Denk.
Die Taktik von Bora-Hansgrohe ist ohnehin eher passiv. „Wir werden schauen, was Ineos und Jumbo machen und abwarten", verriet Buchmann: „Die werden das Rennen machen. Aber wenn sich Gelegenheiten bieten, werden wir die Initiative ergreifen."
Experten glauben, dass das Streckenprofil dem deutschen Klassement-Fahrer entgegenkommt. Es gibt viele Berge, aber keine zu steilen Rampen, und beim Einzelzeitfahren auf der vorletzten Etappe geht es am Ende auch bergauf. „So mag ich es", sagte Buchmann. Der Kletterspezialist, der in den Bergen ein Gewicht von unter 60 Kilogramm aufs Rad bringen will, könnte tatsächlich der erste deutsche Tour-Gewinner seit Jan Ullrich (1997) werden. Auf wessen Spuren er da wandelt, spiele „nicht so die riesige Rolle", sagte Buchmann: „Wichtig ist, dass ich sie gewinne." Wenn die Tour nicht vorher abgebrochen werden muss.