Elton John bezeichnete Rufus Wainwright als den „größten Songschreiber auf dem PlaÂÂneÂten", und die „New York Times" lobte seine ungekünstelte OrigiÂnalität. Der kanadische Tenor verÂmischt Pop- mit Opernmusik zu einem unverwechselbaren Stil. In den vergangenen Jahren hat sich der 47-Jährige vorwiegend mit klassischer Musik beschäfÂtigt, was er mit dem neuen Album „Unfollow The Rules" ändern will.
Mr. Wainwright, Ihre letzten Projekte waren sehr ambitioniert: Adaptionen von Shakespeares Sonetten und eine Oper. Hatten Sie deshalb das Verlangen, einmal etwas Leichteres zu machen?
Die letzten zehn Jahre habe ich inmitten der Opernwelt verbracht – mit meinen Werken „Prima Donna" und „Hadrian" sowie den Sonetten. Ich habe mit Orchestern, Dirigenten und klassischen Sängern gearbeitet und versucht, mit meiner Musik das Establishment herauszufordern. Mein Entschluss, diese Platte zu machen, ging mit einem neuen Bewusstsein für den Spaß, die Albernheiten und die Leichtigkeit der Popwelt einher. Mithilfe des Produzenten Mitchell Froom konnte ich etwas für mich Typisches anbieten, sehr dramatisch und ungewöhnlich, aber zugänglich. Heutzutage will man Musik zur Untermalung haben und nicht solche, die einen durchpeitscht (lacht).
War die Arbeit an der Platte in emotionaler Hinsicht sehr anspruchsvoll?
Zeitweise auf jeden Fall. Aber die Live-Konzerte mit diesen Songs werden mit Sicherheit sehr emotional werden. Songs wie „Unfollow The Rules" und „Early Morning Madness" verlangen eine gewisse stimmliche Virtuosität. Ich bin jetzt 47 Jahre alt und finde, dass alles, was ich mache, immer emotionaler wird. Ich habe einen Elternteil verloren und bin Vater geworden. Die damit verbundenen seltsamen Gefühle fangen an, meinen kleinen gebrechlichen Körper zu bevölkern.
Wie häufig verspüren Sie eine „Early Morning Madness"?
Das ist ironisch gemeint. Den Song habe ich bereits vor zehn Jahren geschrieben. Zu der Zeit habe ich ziemlich viel getrunken. Der Text beschreibt den Kater am nächsten Morgen. Inzwischen wandele ich zwar wieder auf dem Pfad der Tugend, aber solche Momente wie in dem Song habe ich zuweilen noch. Das kann mit Trump zu tun haben oder mit meinem Kind. Es gibt Situationen zwischen vier und sechs Uhr morgens, in denen man plötzlich mit der Realität konfrontiert wird. Das kann sehr schön sein, aber auch beängstigend.
Stehen Sie in der Regel früh auf?
Nein, überhaupt nicht. Aber wenn ich um vier Uhr aufwache und tiefgründige Gedanken habe, schreibe ich sie mir sofort auf, um mich anschließend wieder hinzulegen (lacht).
Sie wollten eine altmodische Platte machen. Was genau verstehen Sie darunter?
Als meine Karriere vor 20 Jahren in L.A. begann, hatte ich einen sehr zeremoniellen Einzug in die Stadt der Engel. Ein Majorlabel hatte mich unter Vertrag genommen, ich wohnte im berühmten „Chateau Marmont"-Hotel, man stellte mir für drei Jahre ein Auto zur Verfügung. Meine Anfangszeit war sehr verschwenderisch, aber in Wahrheit war es das Ende einer Ära. Und dann nahm ich meine erste Platte auf – mit klassischen Musikern. Sie ist toll geworden, aber dann brach die Realität über mich ein und ich musste mich an diversen Fallgruben vorbeimanövrieren. Und jetzt bin ich wieder in Los Angeles, was hauptsächlich mit unserer Tochter Viva zu tun hat, die dort lebt. Als es Zeit für etwas Neues wurde, stellte ich dank Mitchell Froom fest, dass ich in der Lage war, ein ähnliches Album wie damals zu machen. Und zwar für einen Bruchteil der Kosten. Wir sind diesmal nicht ein Jahr in einem teuren Studio gewesen, sondern nur zwei Tage mit den allerbesten Musikern. Vieles konnten wir zu Hause aufnehmen. Aber das Ergebnis klingt sogar besser.
Ist es wahr, dass Ihr Debütalbum fast eine Million Dollar Produktionskosten verschlang?
Ja, das ist korrekt. Die neue Platte kostete lediglich 150.000 Dollar. Ein ziemlich krasser Unterschied (lacht). Zumal eine Million Dollar vor 20 Jahren eine viel höhere Kaufkraft hatten als heute. Meine Plattenfirma ist Amok gelaufen wegen der Ausgaben.
Seitdem hat sich in der MusikÂbranche vieles verändert. Vielleicht wird es bald gar keine Tonträger mehr geben.
Vielleicht ist es meine Liebe zur klassischen Musik, die mich fest daran glauben lässt, dass eine musikalische Reise 60 bis 75 Minuten dauern sollte. Und das ist dann ein Album. Auf dieser Reise kann man wunderschön abheben und am Ende zur Erde zurückkehren. Für mich ist es kein Wunder, dass Vinyl wieder in Mode ist.
Sie arbeiten mit den weltbesten Musikern. Wie war es mit Jim Keltner im Studio, der mit John Lennon, Bob Dylan, Neil Young und Eric Clapton gespielt hat?
Jim war bereits auf meiner ersten Platte und anderen Alben von mir zu hören. Es ist ein großes Vergnügen mit ihm zu spielen, weil er mich immer für mein Timing lobt. Wenn das der weltbeste Drummer über dich sagt, ist das nicht schlecht! (lacht)
Haben Sie ihn auch mal gefragt, wie Bob Dylan seine Meisterwerke erschaffen hat?
Nein, nein. Jim erzählt mir gelegentlich Anekdoten aus seiner Karriere, aber ich habe ihn nie wirklich danach gefragt. Ich bin eher ein Opernfan. Aber ich sollte wohl auch mehr über die Popwelt lernen.
Wie hat Ihnen die Opernerfahrung bei der Pop-Platte geholfen?
Die Oper hat alle meine bisherigen Platten beeinflusst. Sie gibt meiner Musik eine bestimmte Farbe. Nämlich Purpurrot.
In dem Song „Hatred" kritisieren Sie Donald Trump aufs Schärfste.
Anlass zu diesem Song war eigentlich gar nicht Donald Trump, sondern ein privates Ereignis, bei dem ich buchstäblich in den Krieg ziehen musste. Solche fundamentalen Dinge passieren. „Hatred" wurde für mich zu einer Hymne, in der ich Hass auf konstruktive Weise bündele und als Werkzeug benutze. Dieser Song ist die Hymne der Zeit, in der wir leben. Wir befinden uns gerade im größten Kampf unseres Lebens. Ich biete Hass als eine Kraft in diesem Krieg an.
In Kalifornien gibt es die gleichÂgeschlechtliche Ehe, der Marihuana-Verkauf ist legal. Lebt es sich dort wie in einer Blase?
Nein. Das Schöne an Kalifornien ist, dass es ein liberaler Bundesstaat ist. Er hat geradezu paradiesische Seiten wie den Ozean. Aber Kalifornien grenzt an Nevada und Mexiko. Man ist also nicht weit von Mittelamerika entfernt. New York City ist aber eine echte Blase, weil die Stadt viele Intellektuelle anzieht. Nach Hollywood geht man, wenn man im mittleren Westen lebt und ein Star werden will. New York ist die Hauptstadt der Welt, Hollywood die Hauptstadt der USA.
„Peaceful Afternoon" ist ein Song über Ihren deutschen Ehemann Jörn Weisbrodt. Sprechen Sie zu Hause Deutsch?
Nein, denn Jörn spricht perfekt Englisch. Deutsch ist echt schwer. Ich spreche aber Französisch. Wir haben aber auch eine Wohnung in Berlin. Dort spielen wir gern „Fang den Hut" und essen Kaiserschmarrn.
Wie kam Ihre kleine Tochter Viva auf den ungewöhnlichen Titel „Unfollow The Rules"?
Sie kam irgendwann in unser Wohnzimmer gelaufen, sagte zu jedem, sie würde gern die Regeln nicht mehr befolgen und marschierte prompt wieder raus. Ich fand das Nebeneinander von „Unfollow" und „Rules" interessant als Konzept und schrieb es mir sofort auf. Es hat aber nichts mit dem Brechen von Regeln zu tun.
Glauben Plattenfirmen eigentlich, dass Künstler mehr Alben verkaufen, wenn sie gegen gesellschaftliche Konventionen verstoßen und sich ordentlich
danebenbenehmen?
Heute vielleicht nicht mehr so sehr. Aber in einem früheren Stadium meiner Karriere gab es Leute wie Amy Winehouse und Kurt Cobain. Deren nihilistisches Bewusstsein wurde romantisiert, was einen sehr tragischen Effekt hatte. Aber diese Künstler konnten nicht anders. Ich möchte die Musikindustrie auch nicht dafür beschuldigen, daraus Kapital geschlagen zu haben. Ich konnte mein Leben zum Glück wieder in Ordnung bringen. In früheren Zeiten wollte die Industrie immer alle Künstler perfekt aussehen lassen. Judy Garland zum Beispiel war Amerikas Sweetheart und durfte keine Brüste haben. Man gab ihr sogar Medikamente. Das ist ziemlich gruselig. Was ich an der heutigen Zeit nicht mag, ist der Mangel an Qualität hinsichtlich des Songschreibens. Als ich ein Kind war, haben Songschreiber ihre Ideen noch ausgetauscht und versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Es gab damals weniger Konkurrenzdenken. Es wäre schön, wenn das wiederkommen würde. Geschichte wiederholt sich ja in Zyklen. Schauen wir mal.
Stimmt es, dass Elton John Ihnen geholfen hat, als Sie ganz unten waren?
Ja. Ich habe ihn angerufen, als ich wirklich fertig war. Er war sehr großzügig und schlug vor, ich solle eine Entziehungskur machen. Elton John war in meinem Fall mordsmäßig hilfsbereit. Ich glaube, er würde das für jeden tun. Wahrscheinlich sogar für einen Fremden, dem er auf der Straße zufällig begegnet.
Haben Sie in Ihrer dunklen Phase mehr Platten verkauft als sonst?
Nein. „Want One", „Want Two" und „Release The Stars" erschienen, nachdem ich wieder trocken war. Es sind meine Bestseller. Dass ich so abgefuckt und drogenabhängig war, hat sich auch nie in meiner Musik bemerkbar gemacht. Ich bin Romantiker, ich mag Dekadenz und habe Spaß an Sex – aber ich war nie ein Nihilist. Ich glaube eher an das Happy End.