Fünf Jahre nach dem historischen Satz der Kanzlerin stellt sich die Frage, was aus den Hunderttausenden von Geflüchteten eigentlich geworden ist. Neue Studien geben jetzt darüber Aufschluss.
Sie kamen zu Zehntausenden, ja zu Hunderttausenden – jeden Monat. Sie wurden in Kasernen, Traglufthallen, Hotels und leer stehenden Einkaufszentren untergebracht. An den Grenzen versagten die Kontrollen, bisweilen wurden sie einfach durchgewunken. Geflüchtete 2015/2016. Aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, dem Irak. Die Reaktion in Deutschland schwankte zwischen Willkommenskultur und Fremdenfeindlichkeit. Integrationskurse wurden eingerichtet, Faltblätter mit Ratschlägen gedruckt, Jugendlichen wurden Lehrstellen angeboten, Familien zusammengeführt, sämtliche Sozialverbände machten Überstunden. Und mitten in der Krise fiel der berühmte Satz der Kanzlerin: „Wir schaffen das!“, mit dem Merkel sich ins Geschichtsbuch schrieb. Das war am 31. August 2015 vor der Bundespressekonferenz, vor genau fünf Jahren.
Was ist aus den Flüchtlingen geworden? Das haben Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nun untersucht. Welche Erwartungen an eine Beschäftigung gab es, und wie haben sie sich erfüllt? Wie hoch war das Bildungsniveau der Geflüchteten, als sie kamen? Wie kommen Kinder und Jugendliche zurecht? Und wie steht es um die Sorgen der Bevölkerung und umgekehrt um die Angst der Flüchtlinge vor Fremdenfeindlichkeit?
Zweite Generation hat es leichter
Zwei von drei Geflüchteten kamen mit hohen Erwartungen. Sie schätzten ihre Chance, bereits nach zwei Jahren einen Arbeitsplatz zu haben, hoch ein, insbesondere Männer und besser ausgebildete. Ein Drittel der Geflüchteten hatte dagegen keine großen Erwartungen. Tatsächlich war 2018 etwa die Hälfte der Geflüchteten erwerbstätig. Die meisten von ihnen (44 Prozent) übten allerdings nur Hilfsjobs und angelernte Tätigkeiten aus. Nachholbedarf gibt es bei den Frauen: Unter ihnen haben nur 29 Prozent einen Job. Wie viele Anstrengungen noch zu leisten sind, zeigt die Zahl der Jobsuchenden: Laut Statistik der Arbeitsagentur waren Mitte 2020 immer noch 460.000 Geflüchtete auf Jobsuche. Positiv hebt der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer, hervor, dass sich unter den jugendlichen Geflüchteten mittlerweile mehr als 50.000 in einer Ausbildung befinden, doppelt so viele wie vor zwei Jahren.
Das Bildungsniveau der Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, ist verglichen mit dem deutschen Bildungsniveau eher niedrig. Doch gemessen an den Abschlüssen in ihrem Heimatland gehörten die Geflüchteten zur gebildeten Hälfte der Bevölkerung. Zum Beispiel besaßen 75 Prozent der nach Deutschland geflohenen Syrerinnen mehr Bildung als der Durchschnitt in Syrien. Cornelia Kristen, die für das DIW dazu geforscht hat, sagt: „Aus der Forschung wissen wir, dass Zugewanderte, die in der Herkunftsgesellschaft zur gebildeteren Hälfte gehören, schneller Deutsch lernen. Sie sind oft gesünder, erfolgreicher auf dem Arbeitsmarkt. Zudem erhalten ihre Kinder eine bessere Bildung.“
Tatsächlich hat es die nächste Generation schon etwas einfacher, wie das DIW herausfand. Acht von zehn Kindern aus Flüchtlingsfamilien gehen gerne zu Schule. 90 Prozent sprechen mit ihren Freundinnen und Freunden deutsch. Während sie in der Schule in Kontakt mit gleichaltrigen deutschen Jugendlichen sind, fehlt es an Gelegenheiten außerhalb der Schule. So haben sie wenig Anteil an außerschulischen Bildungsangeboten und sind in Sportvereinen weniger aktiv als Gleichaltrige. „Hier sollten Schulen und Vereine noch stärker werben. Denn gerade der gemeinsame Sport in der Schul-AG oder im Verein kann den Austausch zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund fördern und zur Integration beitragen“, so die Autoren der Studie.
Obwohl die fremdenfeindlichen Übergriffe, die Terroranschläge und das Anwachsen rechtsextremer Strömungen immer wieder in Zusammenhang mit den Flüchtlingszahlen genannt werden, zeigt eine weitere Studie des DIW, dass die Vorbehalte in der Gesamtbevölkerung seit 2016 eher abnehmen. Der Anteil der Befragten, der sich große Sorgen um die Zuwanderung macht, ist von 46 Prozent im Jahr 2016 auf 32 Prozent im Jahr 2018 gesunken. Im Gegensatz dazu steigen die Sorgen und Ängste der Geflüchteten vor Fremdenfeindlichkeit an. Mehr als jeder Dritte macht sich „einige“ oder „große“ Sorgen deswegen. Dagegen ist das Vertrauen in die öffentliche Verwaltung, die Polizei und die Gerichte hoch. Die Annäherung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen kommt unterschiedlich gut voran. In den ländlichen Gebieten stellte das DIW deutlich größere Sorgen vor den Folgen der Fluchtzuwanderung fest als in den Städten.
Das Fazit: „Die Studien zeigen, dass in vielen Bereichen die Integration von Geflüchteten bereits gelungen ist“, so Katharina Spieß, Leiterin der Abteilung Bildung und Familie am DIW Berlin. „Ganz wichtig ist, dass wir die Bildung der geflüchteten Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen im Blick haben.“ Dabei geht es ihr besonders um die Frauen, da sie bei den Sozialkontakten und auf dem Arbeitsmarkt weniger erfolgreich sind als die Männer. Insgesamt sei Integration ein langfristiges gesellschaftliches Projekt und noch nicht abgeschlossen.
Integration statt Assimilation
Diese Frage spielte in den Auseinandersetzungen um die Zuwanderung in den vergangenen Jahren immer wieder eine zentrale Rolle: Wann ist Integration „abgeschlossen“? Wie weit sollen sich die „Fremden“ an die „Einheimischen“ anpassen? Was bedeutet eigentlich „Integration“?
Weitgehend einig war und ist man sich, dass zur Integration das Erlernen der Sprache, die Anerkennung der Verfassung und die Achtung der Grundrechte gehören. Wer seine Frau schlägt, gehört vor Gericht (auch wenn er meint, dass es aus religiösen Gründen gerechtfertigt sei). Doch Konservative wie der damalige Innenminister Thomas de Maizière wollten weitergehen und suchten nach etwas, was „uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht“. Das war die Frage nach der „Leitkultur“. De Maizières zehn Thesen, die er vor Jahren in der „Bild am Sonntag“ veröffentlichte, waren der Versuch zu zeigen, dass die Gesellschaft auf einer einheitlichen Kultur beruht, an der alle Einheimischen partizipieren und an die sich der „Fremde“ anpassen sollte. Der Minister nannte unter anderem Grüßen, die Hand schütteln, Gesicht zeigen (und nicht vermummen), Kompromisse schließen und Minderheitenschutz. Eigentlich waren das eher niedrigschwellige Anforderungen.
Doch Kritiker wie jüngst der Schriftsteller Max Czollek („Desintegriert euch“) bestreiten, dass es so etwas wie eine Leitkultur gibt. Wer von einer „einheitlichen eigenen Kultur, die es zu verteidigen gelte“ ausgehe, verkennt die enorme Vielfalt von Kulturen, die in einem gewachsenen Land wie Deutschland miteinander existieren. Was soll der SPD-Rechte Thilo Sarrazin mit der Intendantin des Gorki-Theaters Shermin Langhoff, was soll Thomas Gottschalk mit Gregor Gysi gemein haben?, fragt Czollek. „Politik bedeutet nicht die Konfrontation Volk gegen Volk, Kultur gegen Kultur. Politik ist die Kunst, Vielfalt zu organisieren.“ Czollek geht so weit, dass er den Begriff „Desintegration“ gegen die „beständig vorgetragene politische und gesellschaftliche Forderung nach Integration“ stellt.
Betrachtet man die fünf Jahre, die nach der großen Zuwanderungswelle nach Deutschland vergangen sind, lässt sich feststellen, dass die Formen der Integration verschieden sind. In Deutschland herrscht eine Vielfalt an Migrationsgeschichten, Weltanschauungen, Wünschen und Zielvorstellungen. Und oft genug geraten die Bestimmungen des Grundgesetzes mit der Realität unter den Zugewanderten in Konflikt, wenn es zum Beispiel als Lehrerin um das Tragen eines Kopftuchs geht. Dass es diese Reibungsflächen gibt, gehört zur Normalität des Zusammenlebens. Integration ist nicht Inklusion, nicht Assimilation, sondern – so der Wortsinn von lateinisch „integrare“ – eine Ergänzung, eine weitere Facette der Vielfalt miteinander lebender Kulturen.